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Politikwissenschaftler: Es gibt derzeit keine Alternative zur Großen Koalition

Nach Ansicht von Gero Neugebauer, Politikwissenschaftler an der Freien Universität Berlin, befindet sich die Große Koalition bereits seit dem Sommer im Wahlkampf. Deshalb werde man sowohl auf Seiten der SPD als auch der CDU eindeutigere Positionen zu bestimmten Themen entwickeln. Um wieder an die jeweilige Kernwählerschaft heranzukommen, werde die eine Partei konservativer und die andere sozialer, prognostizierte Neugebauer.

    Christiane Kaess: Am Telefon ist jetzt Gero Neugebauer, Politikwissenschaftler an der Freien Universität Berlin. Guten Tag!

    Gero Neugebauer: Guten Tag, Frau Kaess!

    Kaess: Herr Neugebauer, der neue Vizekanzler Frank-Walter Steinmeier will für ein geschlosseneres Auftreten der Großen Koalition sorgen. Wie glaubwürdig ist denn diese Äußerung vor dem Hintergrund, dass er Angela Merkel kurz zuvor noch in der Außenpolitik scharf angegriffen hat?

    Neugebauer: Nun, man wird ihm schon unterstellen dürfen, dass er tatsächlich an einem geschlossenen Auftreten Interesse hat, denn er beschädigt ja sonst seinen eigenen Politikbereich, die Außenpolitik, wenn ihm das nicht gelingt. Aber andererseits muss man sagen, er reduziert natürlich die Politik dann auf das Erscheinen. Ich meine, bei der Kritik an Frau Merkel ist ja falsch zu sagen, sie ist nicht da aufgetreten, sie ist nicht energisch genug aufgetreten. Die Erscheinung ist ja gut, aber das andere, was Steinmeier sich auch nicht traut zu sagen, ist, Erfolge in der Außenpolitik messen sich nicht darin, dass man einen Ton anschlägt, sondern dass die Gegenseite ihr Verhalten ändert. Und er müsste als Person wissen, Außenpolitik wird heute durch Institutionen, durch Staaten, durch internationale Bündnisse gemacht und nicht wie in Zeiten des Absolutismus durch Monarchen, also durch Einzelpersonen. Insgesamt wird Steinmeier als SPD-Mann ein Interesse haben müssen, die Große Koalition geschlossen erscheinen zu lassen.

    Kaess: Sie sagen, das will er, aber kann er das auch?

    Neugebauer: Nun, einer der Architekten der Großen Koalition, Müntefering, ist raus. Was Steinmeier hat, ist der Titel des stellvertretenden Parteivorsitzenden. Was er ebenso hat, ist das Votum der Sozialdemokratie, die Koalition fortzuführen. Er wird das einbringen müssen gegenüber Frau Merkel und Frau Merkel nicht sozusagen erlauben wollen, sich selbst und die Große Koalition, insbesondere ihre Erfolge als eins zu setzen. Aber das ist ein altes Problem der SPD seit Beginn der Koalition, dass es ihr nicht gelingt, Frau Merkel sozusagen zu reduzieren. Frau Merkel erntet die Erfolge.

    Kaess: Die Geschlossenheit, von der wir gerade gesprochen haben, ist die eine Seite, auf der anderen Seite sagt Steinmeier, dort, wo die SPD Profil zeigen müsse, werde er auch helfen, dieses Profil nach außen zu repräsentieren. Also doch mehr Wahlkampf in den kommenden Monaten?

    Neugebauer: Es wäre eine Illusion anzunehmen, dass wir nicht bereits im Wahlkampf sind, dass wir eigentlich schon seit dem Sommer im Wahlkampf sind, als sich herausstellte, dass Müntefering eben nicht mehr sozusagen das uneingeschränkte Vertrauen genoss von Frau Merkel. Und wenn die SPD klug ist, dann versucht sie schon, ihre Erfolge herauszustellen, aber einerseits auch deutlich zu machen, dass in der Union selbst die Geschlossenheit zurzeit nicht so gegeben ist.

    Nun ist es die Frage: Wendet sich Frau Merkel der Innenpolitik zu, hat sie dann dort die gleichen Kompetenzen, Erfolge wie in der Außenpolitik? Hat sie die Möglichkeit, dann auch noch parteiinterne Konflikte in den Bundestag hineinzuverschieben und dort entscheiden zu lassen? Das ist für mich die interessante Frage, weil die Geschlossenheit ja von beiden Seiten abhängt.

    Kaess: Bleiben wir doch mal kurz bei Vizekanzler Steinmeier – wie sehr muss er sich denn verbiegen, um den neuen Kurs der SPD weiter links zu repräsentieren, wo er doch Anhänger der Agenda 2010 ist?

    Neugebauer: Inhaltlich wird es sehr viel mehr eine Sache von Herrn Scholz sein, aber Herr Steinmeier hat ja auch schon deutlich gemacht, dadurch, dass er keine Ambitionen hat, Kanzlerkandidat zu werden – und man muss ihm Recht geben, Kurt Beck hat erklärt, das machen zu wollen, das hat er nur noch nicht öffentlich ausgesprochen –, wird er die SPD-Politik vertreten wollen, ob sie ihm gefällt oder nicht. Es gibt in der Außenpolitik keine großen Kontroversen, da ist es für ihn relativ leicht. Aber wird sozusagen die Meinung der SPD-Regierung in der Koalition repräsentieren müssen, und da wird es wahrscheinlich mehr Diskussionen als in der Vergangenheit geben.

    Kaess: Sie haben SPD-Chef Kurt Beck angesprochen, inwieweit wird er denn versuchen, sich in die Regierungsarbeit von außen einzumischen?

    Neugebauer: Durch den Weggang von Müntefering sind die Führungsstrukturen in der SPD eindeutiger geworden, aber das bedeutet für Kurt Beck auch, dass er deutlicher als in der Vergangenheit zu bestimmten Themen sich äußern muss.

    Kaess: Zum Beispiel?

    Neugebauer: Beispielsweise zu Fragen von Entwicklung von Sozialpolitik, Entwicklung von Arbeitsmarktpolitik, Entwicklung aber auch von Familienpolitik. Da muss er nicht die Einzelheiten sagen, sondern er muss deutlich machen, wo liegen die sozialdemokratischen Ziele. Denn in diesen Bereichen ist die Unterscheidbarkeit von der Union gefragt. In anderen Bereichen wie Steuerpolitik muss das nicht notwendigerweise sein, aber gerade dort, wo die Sozialdemokraten aufgrund auch ihres Programms sagen, wir sind die modernere Partei, wir repräsentieren den Wert der sozialen Gerechtigkeit und nicht das, was die Union macht, da muss Kurt Beck deutlicher werden als in der Vergangenheit und auch nicht den Konflikt scheuen.

    Kaess: Sie sagen, die Unterscheidbarkeit muss erkennbar sein. Auch die CDU will sich auf ihrem Parteitag Anfang Dezember stärker von der SPD abgrenzen und als Reformkraft sich präsentieren. Die Partei will auch sagen, was mit ihr nicht mehr zu machen sei. Was erwarten Sie?

    Neugebauer: Wenn Sie sich angucken, was wir alles an Konfliktfeldern haben, dann erwarte ich eigentlich eine ganze Menge, denn wir haben ja immer noch die Frage, angefangen von Föderalismusreform, Hartz IV, Erhöhung des Regelsatzes, Arbeitslosengeld, wie löst man das Zwangsrentenproblem, Betreuungsgeld, Herdprämie oder nicht und Bahnprivatisierung. Die Bahnprivatisierung bietet die nächste große Chance, da Unterschiede zu machen.

    Ich denke, an diesem Punkt wird man das aufhängen. Dahinter steht ja dann die Frage, sollen öffentliche Einrichtungen, die marktfähig gemacht werden sollen, tatsächlich dem Markt übergeben werden oder soll der Staat es behalten. Da kann die Sozialdemokratie, aber da kann auch die Union gegenüber der Sozialdemokratie ein anderes Profil entwickeln. Steuerpolitik, da sehe ich auch ein weiteres Feld drin.

    Kaess: Sie sprechen die Reformen an. Jetzt zur Halbzeit gibt es eher moderate Stimmen. Bundesinnenminister Schäuble mahnt, man solle nicht zu schnell und nicht zu radikal reformieren, Finanzminister Steinbrück sagt, man müsse auch die Verlierer der Reformen mitnehmen, und Olaf Scholz ist ohnehin für moderate Reformen. Erwarten Sie dennoch große Schritte in diesem Bereich?

    Neugebauer: Nein, ich erwarte eher eine Politik des "Muggling Through". Man wird sich durchwursteln, man wird es von einem Kompromiss zum anderen hangeln und sehr viel eher als in der Vergangenheit zu sagen, das Thema legen wir ab, das benutzen wir für den Wahlkampf. Große Kontroversen wird sich niemand erlauben wollen, weil keiner möchte als der dastehen in der Öffentlichkeit, der die Koalition zerstört hat. Das haben sich ja beide vorgenommen, bis 2009 durchzuhalten. Aber beide, zumindest die Union hofft sehr viel stärker auf eine andere Mehrheit. Bei der Sozialdemokratie bin ich mir nicht ganz so sicher.

    Kaess: Sind denn mehr Reformen in einer Großen Koalition ohnehin nicht möglich, oder sind es einfach verpasste Möglichkeiten, so wie die Opposition das jetzt bemängelt?

    Neugebauer: Nein, in der Großen Koalition wird der Parteienwettbewerb ja nicht außer Kraft gesetzt. Man einigt sich darauf, was gemacht werden kann. Wir haben es zu Beginn der Koalition gesehen, im Koalitionsvertrag mit einem großen Tableau, aber schon danach hat ja sehr schnell angefangen, wer ist eigentlich noch einigungswillig und -fähig. Frau Merkel hat dazu beigetragen, indem sie sich von ihren ordnungspolitischen Vorstellungen weg zu einem Mehr an Pragmatismus entwickelt hat. Die SPD hat dazu beigetragen, indem sie die Agenda 2010 fortgeführt hat. Aber jetzt haben beide Parteien das Problem, dass sie an ihre Kernwählerschaften wieder ran müssen, und da wird die eine sozialer und die andere wird konservativer. Und daraus resultieren die künftigen Probleme.

    Kaess: Gibt es derzeit eine Alternative zur Großen Koalition?

    Neugebauer: Nein, es gibt keine.

    Kaess: Gibt es auf lange Sicht eine Alternative? Denn die Union hat ja bei Umfragen einigen Vorsprung gegenüber der SPD. Auf der anderen Seite hat Angela Merkel mehr Sinn für die Mitte bekommen, das heißt auch mehr Sinn für die Ängste der Menschen. Würde sie denn in einem Bündnis mit der FDP zum Beispiel zurückgehen zu alten Positionen, die ja oft als neoliberal bezeichnet worden sind.

    Neugebauer: Das primäre Ziel der Union ist die Koalition mit der FDP, und Frau Merkel dürfte keine Schwierigkeiten haben, dann zu früheren Standpunkten zurückkehren. Zentraler Punkt ist ja Sicherung der Macht, und ich glaube, das ist auch das strategische Ziel, was Frau Merkel jetzt anstrebt und mit ihr die Union – Machtsicherung für die Zeit nach 2009. Man wird auch sehen müssen, dass bei diesen Fragen der Auseinandersetzung die Interessenlagen so sind, wir haben ein Fünf-Parteien-System, und ein Fünf-Parteien-System macht nicht mehr die alten Rechnungen, eine große Partei und eine kleine Partei als Koalition möglich. Was die Union gewinnt, verliert die FDP in den Umfragen. Aber die Umfragen, das ist eine Situation, wir sind knapp zwei Jahre vor der Wahl, da kann noch relativ viel passieren. Erinnern Sie sich an 2005 oder 2002, die Ergebnisse waren dann immer anders. Und nicht zuletzt können auch noch die handelnden Personen, insbesondere Frau Merkel, Fehler machen, und dann sieht die Sache anders aus.

    Kaess: Zur Halbzeit der Großen Koalition Gero Neugebauer, Politikwissenschaftler an der Freien Universität Berlin. Vielen Dank für das Gespräch!

    Neugebauer: Gern geschehen.