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Politikwissenschaftler: Merkel hat ein "modernes konservatives Weltbild" entworfen

Professor Gero Neugebauer, Politikwissenschaftler von der Freien Universität Berlin, kann nach der Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Angela Merkel deren Heraufbeschwören einer "neuen Solidarität" nicht nachvollziehen. Gerade die Steuerpolitik grenze bestimmte Menschen aus.

Gero Neugebauer im Gespräch mit Silvia Engels | 10.11.2009
    Silvia Engels: Die Feiern zum 20. Jahrestag des Mauerfalls erreichten gestern ihren Höhepunkt. Heute hielt dagegen die normale Parlamentsarbeit wieder Einzug in Berlin. Die Opposition im Bundestag hatte vor zwei Wochen kritisiert, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel nach ihrer Wiederwahl zunächst ins Ausland reiste, statt dem Parlament Rede und Antwort zu stehen. Das wurde heute nachgeholt. Angela Merkel hielt ihre Regierungserklärung, um ihre Pläne zu umreißen.
    Mitgehört hat Professor Gero Neugebauer, Politikwissenschaftler von der Freien Universität Berlin. Auch er hat sich die Rede angehört. Guten Tag, Herr Professor Neugebauer.

    Gero Neugebauer: Guten Tag, Frau Engels!

    Engels: Staatstragend und präsidial, so präsentiert sich die Bundeskanzlerin ja gerne. Ist es ihr mit dieser Regierungserklärung gelungen?

    Neugebauer: Mit den letzten Worten hat sie ja auch versucht, die Opposition einzubinden, so nach dem Motto "Ich kenne eigentlich keine Parteien mehr, ich kenne nur die Verpflichtung gegenüber Deutschland". Um Ihre Frage zu beantworten: Nein, es ist ihr nicht gelungen.

    Engels: Hat es Ihnen denn gefallen?

    Neugebauer: 124 Seiten Koalitionsvertrag nun komprimiert in einer Regierungserklärung zu hören, ist manchmal ein bisschen strapazierend, vor allen Dingen dann, wenn man an manchen Punkten überlegt, kann das eigentlich so sein, dass man sagt, wir wollen neue Solidarität, was ja eigentlich ein anderer Begriff ist für einen neuen Zusammenhalt, wenn doch beispielsweise dann Steuerpolitik als Gesellschaftspolitik verstanden wird und Steuerpolitik ja verschiedene ausgrenzt. Oder kann das sein, wenn die Kosten der sozialen Versicherungssysteme von den Arbeitgebern immer weniger getragen werden, immer mehr von den Arbeitnehmern, wo ist denn dann sozusagen die Gemeinsamkeit, die Solidarität, die ja die Grundlage des Sozialversicherungssystems und des Sozialstaats überhaupt ist.

    Engels: Es waren viele Einzelnennungen darin, Sie haben es angesprochen. Finanzpolitik nahm einen relativ breiten Raum ein, Entlastungen wurden versprochen, sowohl für die Familien als auch im Erbschaftssteuerbereich, aber auch der Ausspruch für ein gerechtes, niedrigeres Steuersystem. Kann man damit nicht diesen neuen Zusammenhalt, diese Solidarität, die Sie vermissen, begründen?

    Neugebauer: Kann man. Man kann sagen, indem alle Steuern zahlen, und zwar gerecht, durchaus gerecht. Nur das Problem, sagt Ihnen jeder Steuerberater, ist ja nicht die Frage Steuern, sondern was wird eigentlich festgelegt, was bleibt vom Einkommen dann übrig, was besteuert werden soll. Und die zweite Frage ist: Was nützen eigentlich Wachstumsbeschleunigungsmittel, wenn bestimmte politische Maßnahmen eben doch nur manche begünstigen, manche wie beispielsweise Hartz-IV-Empfänger von Maßnahmen nichts haben, oder wenn die Fachwelt sich einig ist, dass Kindergeld und Erhöhung des Kinderfreibetrages nicht die notwendige Maßnahme ist, um in dem Bereich frühkindliche Bildung entscheidende institutionelle Verbesserungen zu machen.

    Engels: Nun hatte ja Angela Merkel direkt zu Beginn ihrer Regierungserklärung eine schonungslose Analyse des Zustands angekündigt. Ist sie dem denn selbst in Ansätzen gerecht geworden?

    Neugebauer: Nein, nach meiner Meinung nicht. Sie hat keine Analyse der Fehler gemacht, die bisher zu der Entwicklung geführt haben. Sie hat im Bankenbereich etwas angesprochen, aber bei Opel hätte ich zum Beispiel gerne erwartet, dass sie gesagt hat, wieso sind wir in diese Lage gekommen. Opel wäre heute nicht mehr da, wenn die Bundesregierung keinen Unterstützungskredit angeboten hätte, aber warum hat sie beispielsweise auf dieser Investorenpolitik so lange beharrt. Welche Fehler macht die Bundesregierung, indem sie sagt, wir setzen auf nationale, anstatt sehr viel stärker auf internationale. Was ist da zu verbessern in den internationalen Beziehungen? – Sie hat eine Analyse gemacht, sie hat einige Voraussetzungen genannt, die dieser Politik zugrunde liegen, sie hat eine undeutliche Erwartung genannt hinsichtlich des Verlaufs und der Auswirkungen der Krise und eigentlich zugegeben, so genau weiß sie es nicht. Aber ich hätte gerne auch ein bisschen mehr die Fehler der Analyse erwartet, um zu sagen, davor werden wir uns in Zukunft hüten.

    Engels: Beim Thema Opel, um noch kurz dort zu bleiben, da hat Angela Merkel ihren Kurs verteidigt, dem Autobauer zu helfen, verlangte aber, die Hauptlast müsse bei der Sanierung nun General Motors schultern. Zeigt das eher die Macht der Regierung, oder ist es ein machtloser Appell?

    Neugebauer: Zum einen wissen wir, dass General Motors fünf Milliarden aufwenden muss und nicht nur 3,5. Zum Zweiten hat die Europäische Kommission deutlich gemacht, dass die Deutschen ihren Beitrag leisten müssen, egal ob dadurch auch Arbeitsplätze in Deutschland gefährdet sind oder besser gesagt nicht erhalten werden können. Ich denke, das ist dann erst mal ein Appell auch an General Motors zu sagen, jetzt versucht mal, euer Geld selbst zu beschaffen. Aber sie werden sich nicht weigern können, weder die Länder, noch der Bund. Wenn dann General Motors kommt und die Europäische Kommission den Sanierungsplan genehmigt, dann werden sie halt sagen, komm, jetzt zahlen wir und trotzdem werden bei uns Arbeitsplätze verloren gehen.

    Engels: Wir haben die Entlastungen, die versprochen wurden, noch einmal besprochen, wir haben über Opel gesprochen. All das kostet zusätzliche Milliarden. Wäre es angesichts des ohnehin immensen Schuldenstandes nicht angemessen für eine Regierungserklärung, den Deutschen auch einmal konkret Belastungen in Aussicht zu stellen?

    Neugebauer: Durchaus. Wir haben jetzt die Situation, wo man nach Blut- und Tränenreden verlangt, und der Hinweis auf die Einheit und die Folgen der Einheit hat zum Beispiel auch nicht das Problem enthalten, dass sehr viel mehr Transferleistungen erforderlich sind, weil die Lage falsch eingeschätzt worden ist. Wenn man den Bürgern sagt, es sind bestimmte Situationen da, ihr müsst einen eigenen Beitrag leisten, dann kann man mit Sicherheit Verständnis dafür erreichen, aber dann muss das auch gleichmäßig verteilt werden.

    Engels: Wie haben Sie überhaupt konkrete Ankündigungen einer Belastung herausgehört? War da etwas zu vernehmen?

    Neugebauer: Ja. Das ist zuerst bei der Frage, wer zahlt eigentlich die Sozialversicherungskosten. Wenn die Arbeitskosten von den Sozialversicherungskosten abgekoppelt werden, wie das ja die alte Regierung schon gemacht hat mit den 0,9 Prozent beispielsweise, dann kann man sagen, jede künftige Erhöhung der Krankenkassenbeiträge wird ausschließlich von den Arbeitnehmern gezahlt werden, und damit ist schon ein bestimmter Teil der Bevölkerung betroffen. Das heißt, es gibt kein solidarisches Eingestehen mehr aller, sondern eines bestimmten Teils eben nur noch.

    Engels: Herr Neugebauer, jetzt haben wir viel über die Wirtschaftsseite gesprochen. Nun wurden auch andere Themen in dieser Regierungserklärung angesprochen: Ausbildung, Migration, Klimaschutz. Haben Sie da noch etwas Neues für sich herausgeholt?

    Neugebauer: Frau Merkel setzt sehr stark auf Bildung als Instrument der Integration, gerade im Bereich der Migrationspolitik für die Generation, die zukünftig als Facharbeiter gebraucht werden. Was bei der demografischen Politik für mich auch interessant ist, dass sie da aber nicht noch mal darauf hingewiesen hat, dass wir auch eigentlich uns stärker dazu bekennen müssen, Einwanderungsland zu sein oder besser gesagt noch stärker zu werden. Das ist mir zuerst aufgefallen bei diesen Sachen.

    Dann ist mir eigentlich auch noch aufgefallen, dass – jetzt gehe ich doch wieder zurück – Wirtschafts- und Entwicklungshilfezusammenarbeit im Bereich Freiheit und Sicherheit nach innen und außen genannt wurde und nicht als Bestandteil der Maßnahmen, mit denen globale Krisen bewältigt werden können, indem eben Konflikte in anderen Bereichen der Welt reduziert werden können.

    Aber insgesamt, denke ich, ist das der Versuch, auch so was wie ein modernes konservatives Weltbild zu entwerfen, mit Rückgriff auf katholische Soziallehre, was das Subsidiaritätsprinzip angeht, also Unterstützung des Einzelnen, der dann doch Solidarität erfahren soll, aber auch mit starkem Hinweis auf Freiheit. Nur meine Zweifel sind: Ist das nicht die Freiheit nur für die, die sich das leisten können, und nicht eigentlich für alle, die es nötig hätten.

    Engels: Bis auf die Allgemeinplätze zur globalen Herausforderung war wenig Konkretes zur Außenpolitik zu hören. Zeigt das, dass die kommende Regierung die Innenpolitik allein in den Fokus stellt?

    Neugebauer: Mit Sicherheit nicht. Man muss die Regierungserklärung im Kontext sehen mit vielleicht der Rede, die Frau Merkel gestern gehalten hat, wo sie die Nation darauf hingewiesen hat, dass sie in Zukunft mehr nationale Rechte abgeben müssten, um auf der internationalen Ebene Konflikte lösen zu können. Die Probleme der Innenpolitik sind die Probleme, die die Wähler bewegen. Die Probleme der Innenpolitik sind die Probleme, die im Zusammenhang mit dem Koalitionsvertrag diskutiert wurden, und es sind auch die Probleme, an denen die Leistung der Kanzlerin und der Regierung überhaupt gemessen werden wird. Die Kanzlerin hat mit den vagen Hinweisen auf die Außenpolitik gleichzeitig aber auch möglich gemacht, dass sie immer für sich selbst auch Felder eröffnet, sagen kann, entweder im Kontext nationaler Politik internationale Verpflichtungen wahrnehmen, oder eben auch zu sagen, da müssen wir abwarten wie es kommt. Aber es zeigt eben auch: Deutschland gehört zwar zu den wichtigen, aber nicht zu den wichtigsten Akteuren im Bereich der internationalen Politik, und insofern ist es möglicherweise auch ein Ausdruck von Bescheidenheit, der bei anderen verhindern soll, dass man sagt, guck an, jetzt wollen die Deutschen da auch schon eine Führungsrolle übernehmen, und zwar eine, die ihnen möglicherweise noch nicht so richtig zusteht.

    Engels: Der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer von der Freien Universität Berlin. Wir sprachen über die Regierungserklärung von Angela Merkel. Vielen Dank für das Gespräch.

    Neugebauer: Gerne, Frau Engels.