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Politikwissenschaftler: Russland und NATO sitzen in einem Boot

Der Kieler Politikwissenschaftler Johannes Varwick konstatiert gemeinsamen Handlungsbedarf für Russland und die NATO. Die Wiederaufnahme der Zusammenarbeit Beider nach der Georgien-Krieg-bedingten Eiszeit begrüßt Varwick, sorgt sich aber um das politische Umfeld.

Johannes Varvick im Gespräch mit Jürgen Liminski |
    Jasper Barenberg: Sieben Monate nach dem Georgien-Krieg scheint das Eis zwischen der NATO und Russland gebrochen. Bei ihrem Treffen in Brüssel haben die NATO-Außenminister gestern beschlossen, die Zusammenarbeit mit Moskau wieder aufzunehmen. So bald wie möglich will das Bündnis den so genannten NATO-Russland-Rat wiederbeleben. Von frischem Wind schwärmte Außenminister Frank-Walter Steinmeier, wohl auch mit Blick auf den Antrittsbesuch von US-Außenministerin Hillary Clinton in Brüssel.
    Über die Wiederannäherung zwischen NATO und Russland hat mein Kollege Jürgen Liminski mit dem Politikwissenschaftler Johannes Varwick von der Universität Kiel gesprochen, zunächst mit Blick auf eine neue Politik Washingtons gegenüber Russland und andere internationale Themen.

    Johannes Varwick: Das ist sicherlich eine Mischung von allem. Man kann zunächst sagen, dass das eine realpolitische Kehrtwende im Verhältnis zu Russland ist. Man hat sozusagen eine Eiszeit eingelegt nach dem Georgien-Krieg und hat aber jetzt im Konsens festgestellt, dass diese Eiszeit nicht dazu beiträgt, die Probleme, die nun vor uns liegen, vor der internationalen Sicherheitspolitik, zu lösen. Insofern werden die Dinge jetzt an vielen Fronten neu sortiert und diese Neusortierung im Verhältnis zu Russland ist ein Baustein in der neuen amerikanischen Strategie, die sich jetzt immer deutlicher abzeichnet.

    Jürgen Liminski: Die amerikanische Außenministerin Clinton hat Polen und Tschechien als Visionär gelobt, weil diese Länder sich an dem Raketenabwehrprogramm beteiligen. Vorgestern noch war dieses Programm zur Disposition gestellt worden, falls Moskau gegen den Iran mit der NATO an einem Strang ziehe. Spricht Washington hier mit zwei Zungen? Ist man in der Sortierung der Probleme, wie Sie sagen, noch nicht selber mit sich im Reinen?

    Varwick: Das denke ich nicht. Ich glaube, die Vorstellung in den USA ist relativ klar und das Thema Raketenabwehr hat nach wie vor Priorität. Das hat sich nicht geändert durch den Regierungswechsel in den USA. Wie in vielen Fragen ist jetzt aber Diplomatie stärker im Spiel und wird etwas geschickter diplomatisch vorgegangen und es wird jetzt versucht, Russland stärker in internationale Fragen einzubinden, und ich glaube nicht, dass das Thema Raketenabwehr damit beerdigt ist, sondern es wird der Versuch gemacht, Russland auch an diesem Projekt zu beteiligen, und das kann man nur, wenn man das Verhältnis auf eine Basis stellt, die nicht mehr von der Eiszeit nach Georgien belastet ist.

    Liminski: Aber auch Amerika unter Bush hatte Russland eine Beteiligung an dem Raketenabwehrprogramm in Aussicht gestellt.

    Varwick: Richtig. Insofern wird da jetzt noch mal ein neuer Versuch gemacht, da an einem Strang zu ziehen, und das verbunden mit sozusagen anderen Fragen, die auf der Agenda stehen. Zum Beispiel läuft der Vertrag über strategische Nuklearwaffen Ende diesen Jahres aus, der KSE-Vertrag, also der Vertrag über konventionelle Waffenbegrenzung, ist noch nicht ratifiziert. In all diesen Fragen braucht man Russland, wenn man sozusagen nicht in einen Zustand geraten will, wo man wichtige Dinge nicht mehr besprechen kann. Insofern wird jetzt – ich wiederhole mich – der Versuch gemacht, die Dinge neu zu sortieren, und da ist dieses Thema Russland/NATO eine offene Flanke gewesen, die jetzt begradigt ist. Man kann das positiv sehen und sagen, das ist eine Rückkehr zur Realpolitik; man kann aber auch sagen, der Georgien-Krieg ist vergessen und niemand kümmert sich mehr darum. Die Probleme sind ja alles andere als gelöst und Russland hat mit seinem Vorgehen in Georgien, das sozusagen völkerrechtswidrig war, das sehr hart und überzogen war, letztlich Erfolg gehabt, und das hinterlässt durchaus einen faden Beigeschmack.

    Liminski: Ist denn der Fall Georgien eingefroren?

    Varwick: Im besten Fall ist er eingefroren. Jedenfalls hat Russland seine strategischen Ziele erreicht. Es hat große Teile des georgischen Territoriums besetzt und der Westen hat das akzeptiert. Ich vermute, das ist ein schlechtes Signal für die internationale Sicherheit und auch ein Signal, was in vielen osteuropäischen Staaten einen sehr, sehr faden Beigeschmack hinterlässt, und das ist nicht nur Litauen, die sich ja bis zum Schluss dagegen gewehrt haben, gegen die Entscheidung heute in Brüssel, sondern auch in Polen und in anderen osteuropäischen Staaten. Die beobachten das mit großer Sorge und versuchen, die NATO in eine Richtung zu drängen, dass sie gewissermaßen jetzt nicht im Zuge dieser Annäherung all das vergisst, was im Georgien-Krieg passiert ist, sondern nach wie vor darauf achtet, dass man auch gegen eine mögliche russische Aggression wieder Vorkehrungen trifft, und da ist in der NATO noch keine einheitliche Bewertung dieser Krise eigentlich zu erkennen.

    Liminski: Georgien eingefroren; das bedeutet doch sicher auch, dass der Fall Ukraine, die ja auch sich um eine Mitgliedschaft beworben haben, ebenfalls eingefroren ist.

    Varwick: Richtig. Das wird jetzt, wenn überhaupt, über eine längere Zeitschiene entschieden werden. Man muss jetzt einen Spagat machen, dass man die Zusage einhält, die man gegeben hat – und die ist klar und unmissverständlich -, dass Georgien und die Ukraine NATO-Mitglied werden, nicht werden können, sondern werden – das ist so beschlossen worden -, und gleichzeitig auf russische Bedenken, so gut es geht, eingeht. Das kann man vermutlich nur über eine Verbesserung im Verhältnis zu Russland erreichen. Das heißt, wenn eine Klimaverbesserung in diesem Verhältnis eintritt, dann ist möglicherweise auch wieder über eine Erweiterung der NATO zu reden, aber das ist Zukunftsmusik. Das steht heute weniger denn je auf der Tagesordnung.

    Liminski: Wo sehen Sie heute gemeinsamen Handlungsbedarf und gemeinsame Interessen zwischen NATO und Russland?

    Varwick: Wir haben eine ganze Palette von internationalen Themen, von der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen über die Frage Terrorismusbekämpfung bis hin zur Frage Rüstungskontrolle, aber auch Fragen wie etwa Piraterie und Bekämpfung von Piraterie, wo die Interessen zwischen dem Westen, also auch der NATO, und Russland nicht so weit auseinander liegen sollten, als dass man zu Verständigung kommt. Von Afghanistan will ich gar nicht reden. Russland ist da in einer starken strategischen Position, weil die Nachschubwege über Russland laufen oder zumindest nicht gegen Russland organisiert werden können. Insofern sitzt Russland und die NATO in einem Boot und man kann nur hoffen, dass sich die russische Politik konstruktiver entwickelt, als das in den vergangenen Monaten der Fall war, und dann sehe ich auch Chancen, dass diese Beendigung der Eiszeit in eine positive gemeinsame Agenda überführt werden kann, wo eben internationale Sicherheitsprobleme besser gelöst werden können, als das in einem Gegeneinander der Fall wäre.

    Liminski: Sehen Sie da Chancen nicht nur wegen des Wechsels in Amerika, sondern auch wegen des Wechsels in Moskau?

    Varwick: Ich glaube, der Wechsel in Moskau war in diesen Fragen für viele eine Enttäuschung, weil sich eigentlich wenig geändert hat. Im Gegenteil: die Rhetorik wurde teilweise noch schärfer, noch härter. Ich glaube, der Schlüssel für eine Veränderung liegt in der Tat in Moskau und da sind Entwicklungen im Gange, wenn man etwa über den Zustand der Demokratie in Russland diskutiert, die mir schon Sorgen machen, und nur ein demokratisches Russland wird auch langfristig ein berechenbarer Partner sein können. Da ist eben noch viel zu tun in Russland und die Entwicklung ist alles andere als klar, in welche Richtung sich dieses Russland bewegt.

    Liminski: In Afghanistan sollen die Truppen verstärkt werden, die westlichen Truppen. Müssen die Partner Washingtons bei aller Änderung des Tons mit mehr Druck rechnen, sich an der Verstärkung zu beteiligen?

    Varwick: Sie müssen ganz gewiss mit mehr Druck rechnen. Es wird ihnen jetzt schwerer fallen als noch mit der Bush-Administration, wo man immer sagen konnte, wir haben so viele Differenzen, dass wir darüber nicht ernsthaft reden müssen. Das ist jetzt sehr viel schwerer. Ich erwarte aber nicht, dass jetzt mehr westliche Truppen außer einigen engen Verbündeten der USA wie etwa Großbritannien, Norwegen, die Niederlande vielleicht, mehr Truppen stellen. Welche Frage sich jetzt stellen wird ist eine Verstärkung der Wiederaufbaubemühungen im zivilen Bereich, und da können die Europäer noch sehr viel mehr in die Waagschale werfen. Und wenn sie sagen, wir können oder wollen uns nicht stärker militärisch beteiligen, dann wird Washington sicherlich den Druck massiv erhöhen, dass man etwa im Bereich der Polizeiausbildung oder auch bei zivilen Wiederaufbauleistungen die Kräfte bündelt und da eben als Europäer sehr viel mehr in die Waagschale legt, als das bisher der Fall ist. Kurzum: es wird teuerer für die Europäer. Das wird man ganz gewiss sagen können.

    Barenberg: Die Annäherung zwischen NATO und Russland. Das war mein Kollege Jürgen Liminski im Gespräch mit dem Kieler Politikwissenschaftler Johannes Varwick.