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Politische Analysen
Gerechtigkeit braucht Liebe

Martha Nussbaum, Professorin für Recht und Ethik in Chicago, befasst sich seit Jahren mit der Frage, wie Gefühle die Politik bestimmen. Zuletzt zeigte sie, wie Angst zu religiöser Intoleranz führen kann. In ihrem neuen Buch "Politische Emotionen" sucht sie nach dem Zusammenhang von Liebe und Gerechtigkeit.

Von Gemma Pörzgen | 09.02.2015
    Auch liberale Demokratien brauchen politische Emotionen. Davon ist die US-amerikanische Philosophin Martha Nussbaum fest überzeugt. Liebe sei nicht nur in persönlichen Beziehungen wichtig, sondern auch um eine Gesellschaft zu stabilisieren und Gerechtigkeit durchzusetzen. In ihrem neuen Buch führt die Moralphilosophin aus, warum ein funktionierendes Gemeinwesen nicht nur Normen und Regeln braucht, sondern auch eine emotionale Basis.
    Nussbaum holt dafür weit aus und beginnt mit einem ideengeschichtlichen Rückblick. Dabei wagt sie auch überraschende Ausflüge in die Welt der Oper. Es ist vor allem "Figaros Hochzeit" von Mozart, auf die sie zur Illustration immer wieder zu sprechen kommt. Die Figur des Pagen Cherubino erscheint Nussbaum dabei als der Inbegriff des neuen Bürgers. Dank solcher Verknüpfungen liest sich der Auftakt des Buches faszinierend und klingt in Passagen hochaktuell:
    "Mitunter gibt es die Auffassung, nur faschistische oder aggressive Gesellschaften seien von starken Gefühlen beherrscht, und nur solche Gesellschaften hätten es nötig, sich auf die Förderung und Pflege von Gefühlen zu konzentrieren. Derartige Ansichten sind so falsch wie gefährlich. Sie sind falsch, weil alle Gesellschaften über die langfristige Stabilität ihrer politischen Kultur und die Sicherheit der ihnen teuren Werte in Krisenzeiten nachdenken müssen. Alle Gesellschaften müssen folglich über Mitgefühl bei Verlusten, Zorn über Ungerechtigkeit, die Eindämmung von Neid und Scham zugunsten eines umfassenden Mitgefühls nachdenken. Überlässt man die Prägung von Gefühlen antiliberalen Kräften, erlangen diese einen gewaltigen Vorsprung bei der Gewinnung der Herzen der Menschen, und dann besteht die Gefahr, dass Menschen liberale Werte für lasch und langweilig halten."
    Die Rolle der Emotion in politischen Reden
    Nussbaum empfiehlt angesichts dieses Befundes, auch in modernen Demokratien die Politik emotional zu unterfüttern. Sie spricht sogar von einer "Zivilreligion". Dabei widmet sich die Autorin vor allem den USA, schaut aber auch nach Indien, da der bengalische Dichter und Philosoph Rabindranath Tagore für ihr Denken eine zentrale Rolle spielt. Nussbaum plädiert für eine politische Kultur der Liebe und politischen Gerechtigkeit. Dabei überträgt sie entwicklungspsychologische Erkenntnisse "guter" Emotionen auf die gesellschaftliche Ebene und verweist auf große Politiker wie Lincoln, Churchill oder Martin Luther King, die in ihren Reden und ihrem Wirken emotionale Kraft spüren ließen:
    "Wo werden öffentlich wirksame Emotionen erzeugt? Man denkt sofort an die Rhetorik von Politikern, und sie ist in der Tat ein sehr wichtiger "Ort" der Kultivierung von Emotionen. Aber Politiker führen auf vielerlei Weise. Sie führen mit ihrem Körper, ihrer Kleidung, ihren Gesten. Und ein Staat erzeugt Emotionen im öffentlichen Raum mithilfe vieler Strategien: durch öffentliche Kunstwerke, Denkmäler, Parks, durch die Ausrichtung von Festen und Gedenktagen, durch Lieder, Symbole, Filme und Fotografien im staatlichen Auftrag, durch die Struktur des staatlichen Bildungswesens, durch öffentliche Debatten, durch den öffentlichen Einsatz von Humor und Komödie, ja sogar durch die öffentliche Rolle des Sports."
    Bei der Lektüre des 600 Seiten umfassenden Werkes wächst allerdings die Skepsis, ob es sich Nussbaum mit ihren Betrachtungen nicht zu leicht macht. So einleuchtend mancher Gedanke zunächst klingt, überzeugt ihre Grundthese nicht, ein solches umfassendes Gemeinschaftsgefühl lasse sich politisch erzeugen, ohne dabei fragwürdige Folgen nach sich zu ziehen. Auffallend ist auch, dass die Autorin sich in ihrer Analyse ausgerechnet Barack Obama nicht widmet. Dabei hatte der US-Präsident einen Wandel versprochen, der nicht nur im eigenen Land zunächst große politische Emotionen weckte und später bitter enttäuschte. Auch mit dem deutschen Verständnis eines "Verfassungspatriotismus" setzt sich Nussbaum nur an einer Stelle auseinander, wo sie sich eher flüchtig mit Jürgen Habermas beschäftigt. Sie kritisiert, der Frankfurter Philosoph erkenne zwar, dass gute politische Prinzipien einer emotionalen Unterstützung bedürften, aber er stelle nicht klar, wie diese Gefühle beschaffen sein sollten und welche Wirkung sie entfalten.
    Amerikanische Weltsicht, die viele europäische Aspekte ausblendet
    "Sein Konzept ist so moralisch und so abstrakt, dass man nicht darauf vertrauen kann, dass es im realen Leben funktioniert. Seine Zurückhaltung ist sicherlich verständlich. Aufgrund der deutschen Vergangenheit sind die Menschen besonders empfindlich und skeptisch, wenn es darum geht, im politischen Bereich an starke Gefühle zu appellieren, und folglich ist es besonders schwierig, dort das Thema patriotische Gefühle anzusprechen. Deutschlands Geschichte zeigt jedoch, dass Menschen, die liberale Werte verfechten, die Mobilisierung von Gefühlen nicht Faschisten überlassen dürfen, andernfalls werden sie langfristig auf verlorenem Posten stehen."
    Alles in allem bleibt das Buch zu stark einer amerikanischen Sicht auf die Welt verhaftet. Als deutschem Leser fällt einem beispielsweise auf, dass Nussbaums Behauptung, moderne Gesellschaften feierten keine Feste, bei denen sich Bürger versammelten und ihre Verbundenheit erlebten, für Deutschland so einfach nicht stimmt. Sei es die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 oder erst kürzlich die bewegenden Feiern zu 25 Jahren Mauerfall – da gelingt es sehr wohl, das gemeinschaftliche Gefühl zu stärken, ohne den Rückgriff auf die von Nussbaum beschworenen Begriffe von Nation und Patriotismus. Dennoch bleiben einige ihrer Fragen mit dem Blick auf das fehlende Zugehörigkeitsgefühl vieler Bürger zur Europäischen Union sicherlich relevant. Da verwundert es nicht, dass Nussbaum selbst schreibt, man könne ihr Buch unter dem Aspekt lesen, was der EU bislang alles fehle.
    Martha Nussbaum: "Politische Emotionen. Warum Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist", übersetzt von Ilse Utz. Suhrkamp Verlag, 39,95 Euro.