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"Politische Schicksalsgemeinschaft"

Der Politologe Everhard Holtmann rechnet trotz der aktuellen Turbulenzen mit einem Fortbestehen der Großen Koalition bis 2009. Das Regierungsbündnis sei "eine Art gegenseitige politische Schicksalsgemeinschaft, die bis zum Ende der Legislaturperiode zusammenhalten wird", sagte der Wissenschaftler von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Moderation: Christoph Heinemann |
    Christoph Heinemann: "Die Koalition driftet auseinander", "Eklat im Bundestag bei Debatte über Schäuble", das sind Schlagzeilen der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" gestern und heute. Die Spannungen nehmen zu; so viel steht fest.

    Wir möchten der Großen Koalition den Puls fühlen mit Hilfe von Professor Everhard Holtmann. Er ist Politikwissenschaftler an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Guten Tag!

    Everhard Holtmann: Schönen guten Tag!

    Heinemann: Herr Professor Holtmann, ist das ein Zwischentief oder der Anfang vom Ende?

    Holtmann: Ich denke nicht, dass es als Anfang vom Ende betrachtet werden kann, weil trotz der zweifellos verschärften Spannungslinien nicht zuletzt im Politikfeld der inneren Sicherheit auch die Eigenständigkeiten der Koalitionspartner stärker zur Geltung kommen. Aber auf der anderen Seite, ich meine es gilt nach wie vor, und das ist auch die Einschätzung der beteiligten Hauptakteure, diese Große Koalition ist im Grunde genommen eine Art gegenseitige politische Schicksalsgemeinschaft, die bis zum Ende der Legislaturperiode zusammenhalten wird.

    Heinemann: Und was verbindet sie noch? Anders gefragt: Ist der gemeinsame Vorrat nicht langsam aufgebraucht?

    Holtmann: Der gemeinsame Vorrat ist ja, wenn wir nicht zuletzt auch etwa die jetzt sich abzeichnenden Vereinbarungen über die Reform der Erbschaftssteuer betrachten, längst auch der Sache nach nicht aufgebraucht. Auch im Bereich der weiteren Steuergesetzgebung, nicht zuletzt auch der Nachjustierung der zum Teil ja sehr reformbedürftigen sozialen Sicherungssysteme, da ist noch genügend zu tun.

    Auf der anderen Seite: Was gäbe es für Alternativen? Die Spekulationen über Koalitionsalternativen sind im Grunde genommen nicht realisierbar, scheinen nicht realisierbar. Und nicht zuletzt haben auch die jüngsten Beschlüsse des Grünen-Parteitages doch eher ein Übriges getan, um solche Überlegungen, es gäbe vielleicht Möglichkeiten alternativer Koalitionen, zunächst in den Bereich der Wunschgebilde zu verweisen.

    Heinemann: Zurück zum gegenwärtigen Stein des Anstoßes: Bundestrojaner, Überlegungen über präventive Todesschüsse, Warnung vor Atomanschlägen verbunden mit dem Aufruf, sich die Zeit bis dahin nicht verderben zu lassen. Bei Wolfgang Schäuble darf man davon ausgehen, dass er sich wohl überlegt, was er sagt, und die Folgen auch abschätzen kann. Welche Strategie vermuten Sie hinter seinen Äußerungen?

    Holtmann: Ich vermute, dass Wolfgang Schäuble durchaus ja anknüpfend an Grundüberzeugungen und Grundlinien in Fragen der inneren Sicherheit, die die Unionsparteien ja seit jeher auch in einer Art Spannungslinie gegenüber der Sozialdemokratie, aber auch etwa der Freien Demokraten gebracht haben, wobei diese Spannungslinie in der Ära Schily ja im Grunde genommen lediglich überdeckt gewesen ist, also anknüpfend an diese im Grunde traditionellen Selbstverständnisse der Unionsparteien im Politikfeld der inneren Sicherheit versucht Wolfgang Schäuble offenbar, gewissermaßen unter dem Schirm der gefühlten, sicherlich zum Teil auch tatsächlichen Bedrohung durch Terroranschläge die Gesetzeslage etwas weiter zu verschärfen. Das ist alles andere als ein taktisches Koalitionsspielchen. Ich denke wirklich, dass sich hier innerhalb eines wichtigen Politikfeldes zwischen den Koalitionspartnern grundsätzliche Gegensätze abzeichnen.

    Heinemann: Und er kalkuliert ein, dass er den Koalitionspartner damit auf die Palme bringt?

    Holtmann: Das ist sicherlich einkalkuliert. Auf der anderen Seite - auch das war ja den Meldungen zu entnehmen - die jeweiligen Fachpolitiker, also die Experten der inneren Sicherheit der Großen Koalition, Sozialdemokraten wie Unionsabgeordnete, sind dabei, sich über die konkreten Kompromissmöglichkeiten zu verständigen, diese auszuloten. Und nach meiner Einschätzung wird dieser Dissens in Fragen der inneren Sicherheit nicht zu einer ernsten Sollbruchstelle der Großen Koalition werden.

    Heinemann: Wie muss sich die Kanzlerin jetzt verhalten, damit sie den Laden zusammenhalten kann?

    Holtmann: Ich denke, die Kanzlerin ist gefordert in diesem Punkt, aber nicht nur in diesem Dissens auch eine Art Machtwort, das viel berühmte Machtwort zu sprechen. Sie ist ja im Besitz der wenngleich aus wohl erwogenen Gründen nicht näher spezifizierten Richtlinienkompetenz. Das ist sie meines Erachtens übrigens auch in einer anderen durchaus eng verwandten Frage, nämlich was die Äußerungen des Verteidigungsministers Jung betrifft. Diese werfen, was einen von ihm in die Debatte geworfenen übergesetzlichen Notstand betrifft, durchaus grundsätzliche Fragen des Verfassungsgehorsams auf. Und an dieser Stelle wie möglicherweise auch dann, wenn sich die Diskussionen um die innere Sicherheit in der Großen Koalition festfahren, wird es letztlich darauf hinauslaufen, dass Angela Merkel von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch machen muss.

    Heinemann: Und warum verdonnert sie Schäuble und Jung nicht zum Schweigen?

    Holtmann: Das ist durchaus ein nachvollziehbares, wohl auch wohl erwogenes Kalkül, denn sie muss ja auf der anderen Seite auch beachten, dass sie ihre eigene Gefolgschaft, also die Unionsfraktion, in der die Positionen von Jung und vor allen Dingen auch von Wolfgang Schäuble ja nun keineswegs nicht gut geheißen werden, gewissermaßen mit beachtet. Es ist ja ein fragiles Wechselspiel auch unter Bedingungen Großer Koalition zwischen der Exekutive, also der Regierung, und der die Regierungsmehrheit ja sichernden parlamentarischen Basis in der eigenen Fraktion, hier zunächst einmal Spiel zu lassen auch in der eigenen Klärung und im Versuch, mit dem Partner, mit kontrovers denkenden Partnern in der SPD auf der Arbeitsebene der Politik Lösungsmöglichkeiten zu finden. Diesen Spielraum zu lassen, das ist durchaus auch, denke ich, in der Handlungsräson einer Kanzlerin.

    Heinemann: Möchte die SPD mit ihrer Kritik an der Union auch von eigenen Schwächen - Stichwort Kurt Beck - ablenken?

    Holtmann: Ich denke, mit schlechten Umfragewerten steigt naturgemäß auch die Nervosität innerhalb der SPD. Und es ist ja durchaus erkennbar, dass beispielsweise auf dem anderen Politikfeld, wo es um die Debatte geht "Mindestlöhne ja oder nein?", die SPD versucht, auch in der direkten Auseinandersetzung, im direkten Wettbewerb mit den Unionsparteien wieder stärker Fuß zu fassen. Dort kann sie ja und wird sie versuchen, ihr Kernthema sozialer Gerechtigkeit wieder zu schärfen, um auf diese Weise auch den jetzt ja vergleichsweise großen Spalt in den Umfragen mit den Unionsparteien wieder zu füllen.

    Heinemann: Herr Professor Holtmann, wird die Große Koalition Ihrer Einschätzung nach die Legislaturperiode überstehen?

    Holtmann: Davon gehe ich nach wie vor aus, denn wie gesagt auf der einen Seite haben die Wählerinnen und Wähler ja auch durch ihre nachträgliche überwiegende Zustimmung zur Bildung dieses Regierungsformats so etwas wie eine Legitimation, wie ein Einverständnis gegeben, allerdings auch verbunden mit sehr großen Erwartungen, die nicht in jedem Punkt nachweislich erfüllt worden sind, auch wohl nicht erfüllt werden können. Aber ich sehe keine Alternativen zum jetzigen Regierungsformat, und ich sehe auch keine Anzeichen dafür, dass es eventuell abermals zu vorgezogenen Neuwahlen kommen könnte. Also die Große Koalition wird nach meiner Einschätzung halten.

    Heinemann: Wann erwarten Sie den Beginn des Wahlkampfs?

    Holtmann: Der Wahlkampf ist zumal in Großen Koalitionen eigentlich mit Beginn des ersten Tages der Koalitionsarbeit immer schon, wie sagt man, eingepreist, weil ja es sich um zwei große Partner handelt, die anders als in kleinen Koalitionen beide begründete Chancen sich ausrechnen, beim nächsten Mal eine andere, von ihnen allein geführte Mehrheit zu bilden. Insofern kommt es im Alltag Großer Koalitionen allenfalls darauf an, die jeweiligen Wahlkampfambitionen mit den vorhandenen und auch konsensual beschlossenen Politikprojekten halbwegs ins Lot zu bringen. Wenn Wahltermine näher rücken, und wir haben im nächsten Jahr ja einige nicht unwichtige Landtagswahlen, dann wird diese Spannungslinie sicherlich verstärkt, aber wie gesagt beide Partner wissen im Grunde genommen, dass sie die Demarkationslinie nicht überschreiten dürfen.

    Heinemann: Professor Everhard Holtmann, Politikwissenschaftler an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Dankeschön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Holtmann: Bitte schön, auf Wiederhören.