Müller: Guten Morgen!
Wagener: Frau Müller, vor einigen Tagen sagten Sie mit Blick auf das rot/grüne Reformprojekt in einem Interview, wir fangen jetzt erst an. Mit was wollen Sie eigentlich anfangen?
Müller: Ich meinte das ständige Jammern auch der eigenen Leute über die fehlenden Erfolge. Ich glaube einfach, das Jammern macht uns natürlich bei den Wählern nicht attraktiv und die neuesten Umfragen sind nicht schön. Dennoch muß jetzt aber Schluß sein mit der Trauerarbeit über die verloren gegangenen Wahlen. Jetzt gilt es, die vor uns stehenden Wahlen zu gewinnen, und die gewinnt man eben nicht mit internen Strukturdiskussionen und erst recht nicht damit, indem man ständig die Koalition in Bonn in Frage stellt.
Wagener: Zu dem Motto "anpacken" paßt aber nicht die Äußerung von Jürgen Trittin, der das rot/grüne Projekt schon als "Irrtum von Romantikern" bezeichnete. Ist das schon Resignation?
Müller: Ehrlich gesagt ich glaube, wir hatten nie romantisierende Vorstellungen über rot/grün in Bonn. Wir waren uns doch von vornherein klar, dies ist ein Zweckbündnis, und wir haben auch ganz unterschiedliche Vorstellungen, aber dennoch haben wir einen gemeinsamen Koalitionsvertrag und wir haben gemeinsame Reformprojekte vor uns. Ich bin der Meinung, wir müssen jetzt in die Zukunft blicken. Wir müssen jetzt nach vorne gehen, und das heißt bei aller Selbstkritik, diese Regierung hat zum Beispiel auch Erfolge vorzuweisen. Wenn wir die Wahlen gewinnen wollen, dann dürfen wir die nicht kleinreden, sondern dann müssen wir dort wo wir Erfolge haben diese auch herausstellen. Zum Beispiel haben wir am Freitag eine Steuerreform zur Entlastung der Familien verabschiedet. Wir haben eine ökologische Steuerreform. Wir haben den Einstieg in die Reform des Staatsbürgerschaftsrechtes schon nach 130 Tagen geschafft, wofür die alte Regierung in 16, respektive die FDP in 29 Jahren nicht in der Lage war. Das müssen wir doch einmal herausstellen. Nur so, glaube ich, können wir die nächsten Wahlen, die vor uns liegen, auch gewinnen.
Wagener: Dennoch macht es die zunehmende Schröderisierung der SPD Ihrer Partei doch sehr viel schwerer, nun grüne Politik durchzusetzen?
Müller: Das glaube ich nicht. Ich glaube, wir haben jetzt auch eine große Chance, wenn wir nämlich selbstbewußt als Grüne zum Beispiel die von uns in der letzten Legislaturperiode schon erarbeiteten Konzepte zu den zentralen Themen, die jetzt vor uns liegen, auf den Tisch legen: zum Beispiel die Modernisierung des Sozialstaates, Rentenreform, die Frage der Generationengerechtigkeit, die Vorschläge, die wir gemacht haben zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Die müssen wir in den Mittelpunkt unserer Politik stellen. Die müssen wir in die Debatte werfen und damit zum Reformmotor der Koalition werden.
Wagener: Rezz9o Schlauch, so will es der "Spiegel" erfahren haben, will noch bevor die SPD wieder Tritt gefaßt hat Signale an die Wirtschaft senden, um die grüne Position sichtbar zu machen. Solche realpolitischen Absichten bringen doch sofort wieder die Linke innerhalb Ihrer Partei auf die Barrikaden. Sind die Grünen nicht eigentlich schon auf dem Weg in die, ja, sagen wir es ruhig, Spaltung?
Müller: Nein, überhaupt nicht. Das ist wirklich völlig abwegig. Wir müssen sicherlich über den weiteren Kurs streiten. Wir brauchen eine inhaltliche Erneuerung, und ich finde diese Debatte wesentlich produktiver als die über Strukturen oder gar solche, die die Koalition in Frage stellen. Es gibt ein Papier von Fachabgeordneten, das ich nicht in allen Punkten teile, aber das ist auch schon einmal ein Anfang für die Diskussion. Ich halte allerdings nichts davon, generell von wirtschaftsfreundlicherer Politik zu sprechen, weil was heißt das denn. Wichtig ist, daß wir fairen Wettbewerb schaffen, daß wir kleine und mittelständische Unternehmen entlasten und fördern, daß wir aber durchaus auch den Konflikt mit den Großkonzernen annehmen, etwa was die Besteuerung von steuerfreien Rückstellungen betrifft. Ohne Konflikt werden wir keine Reform einleiten können. Das ist völlig klar. Das hat noch keine neue Regierung geschafft. Wir haben aber Erfolge vorzuweisen, und wir sind meiner Meinung nach auf dem richtigen Weg. Wir dürfen nur die Erfolge nicht zerreden und wir müssen jetzt eben Schritt für Schritt die Reformprojekte umsetzen, die wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben. So können wir das Profil schärfen, und das ist auch der Wählerauftrag.
Wagener: Wie kommen die Konflikte denn in der Öffentlichkeit an? Ich meine, das klingt sehr progressiv, wenn Sie inhaltlich streiten, aber die Wirkung ist doch fatal. Das zeigen doch die ersten fünf, sechs Monate.
Müller: Das kommt darauf an, um was man streitet. Wenn man um die besseren Konzepte zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit streitet und am Ende auch ein Beschluß und ein entsprechendes Gesetz steht, dann glaube ich werden die Wähler das sehr wohl honorieren. Wir haben etwa lange über den richtigen Weg in der Staatsbürgerschaft gestritten. Jetzt liegt das Gesetz im Bundestag. Wir werden es zügig noch im Mai voraussichtlich verabschieden. Das wird diese Republik wirklich verändern, auch wenn es nur ein erster Schritt ist. Oder die Steuerpolitik. Unser Steuerkonzept wird meiner Meinung nach zu Unrecht zerredet. Es ist viel besser als ihr Ruf. Es wird etwa zu einer massiven Entlastung der Familien führen, und das wird man am Ende des Jahres auch merken. Wozu ich nur aufrufen will und wozu ich auch die Leute meiner Partei auffordern will, daß wir uns jetzt einmal zusammenreißen, daß wir uns mit den Inhalten und Konzepten beschäftigen, daß wir Erfolge nicht kleinreden, sondern auch herausstellen, weil sonst können wir die Wahlen nicht gewinnen. Wie sollen wir denn die Wähler überzeugen, wenn wir nicht einmal an uns selber glauben.
Wagener: Sie sagen schon, wie können wir die Wahlen gewinnen. Wir hatten erst Wahlen, aber es gibt jetzt schon Äußerungen oder es werden Wetten angenommen, ob diese Koalition überhaupt die Legislaturperiode übersteht. Angelika Beer, Ihre Parteikollegin im Bundestag, will ihre Hand dafür nicht ins Feuer legen.
Müller: Ich werde mich an solchen Spekulationen nicht beteiligen. Ich finde das auch kontraproduktiv. Wir haben einen Wählerauftrag und wir sollten uns vielmehr Gedanken darüber machen, wie wir denn gemeinsam diese Koalition zum Erfolg führen werden. Ich glaube, daß die Wähler irgendwann auch die Geduld verlieren. Wir sind jetzt 130 Tage dran, das eine oder andere ist schief gelaufen, aber wir haben eben auch das eine oder andere wirklich verabschiedet, das sich durchaus sehen lassen kann. Meine Aufforderung ist wirklich noch einmal an alle, auch an alle Seiten: Wir müssen uns jetzt zusammenreißen, wir sollten uns darauf konzentrieren, wie wir die Koalition zum Erfolg führen können und wie wir uns als Grüne in dieser Koalition profilieren können, nicht auf Kosten des Koalitionspartners, sondern an Inhalten und Konzepten.
Wagener: Frau Müller, was ist von dem Parteiratstreffen heute in Bonn zu erwarten? Viele konzentrieren sich darauf. Viele in Ihrer Partei sind verärgert. Wie hoch muß man das hängen?
Müller: Viele werden sicherlich ihrem Ärger erst einmal Luft machen, aber ich kann die Aufforderung der drei Autorinnen vom Wochenende in dem offenen Brief nur unterstützen: Es muß ein Signal nach vorne von diesem Parteirat ausgehen. Es hilft jetzt nichts. Wir haben Wahlen verloren, aber wir müssen uns darauf konzentrieren, wie wir die nächsten Wahlen gewinnen. Da gibt es viel zu tun. Wir müssen die Reformprojekte, die sich die Regierung vorgenommen hat, anpacken. Wir müssen die Erfolge, die wir wirklich auch haben, die wir verabschiedet haben, herausstellen, wir müssen das vermitteln und wir müssen für gesellschaftliche Mehrheiten etwa zur Reform des Staatsbürgerschaftsrechtes oder für den Einstieg in die neue Energiepolitik kämpfen. Es gibt also viel zu tun, und das Signal des Parteirates muß sein, daß die Grünen-Partei jetzt wieder nach vorne blickt.
Wagener: Kerstin Müller, die Fraktionsvorsitzende der Bündnisgrünen im Bundestag, zur Krise ihrer Partei. Das Gespräch haben wir vor der Sendung aufgezeichnet.