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Politologe empfiehlt SPD Blick nach Skandinavien

Der Politologe Wolfgang Merkel traut der SPD unter ihrem designierten neuen Vorsitzenden Kurt Beck einen programmatischen Neuanfang zu. Dabei dürfe sich Beck nicht auf die Verteidigung des Sozialstaates beschränken, sagte der Wissenschaftler. Merkel empfahl der SPD, sich bei ihrer Programmdebatte Anregungen von den skandinavischen Sozialstaatsmodellen zu holen.

Moderation: Bettina Klein | 24.04.2006
    Bettina Klein: Die beiden Volksparteien wollen die Diskussion über ihr jeweiliges Grundsatzprogramm in diesen Tagen vorantreiben. Und sie wollen sich stärker voneinander abgrenzen. Das geht aus mehreren Interviews von Politikern beider Parteien hervor, aus denen heute Morgen zitiert wird. Die CDU setzt heute eine Kommission zum Thema ein, die SPD startet gleich einen ganzen Kongress. Eine Grundsatzrede vom designierten SPD-Vorsitzenden Beck wird mit Spannung erwartet, nicht zuletzt zum Thema Steuerpolitik. Und die Sozialdemokratie stand ohnehin in den vergangenen Monaten und Wochen immer wieder verstärkt im Blickpunkt, allerdings eher unter der besorgten Überschrift "Was wird nur aus der alten Tante SPD?", die ihre Vorsitzenden immer schneller verschleißt.

    Professor Wolfgang Merkel ist Politikwissenschaftler am Wissenschaftszentrum Berlin, und er hat sich gerade in einem neuen Buch mit diesen Fragen und mit der SPD beschäftigt. Herr Merkel, "Kraft der Erneuerung" heißt der Kongress, auf dem heute über das neue Grundsatzprogramm diskutiert werden soll. Sie haben sich in Ihrem Buch auch gefragt, ob die SPD überhaupt reformfähig ist. Ist sie es? Hat sie die Kraft zur Erneuerung?

    Wolfgang Merkel: Prinzipiell zweifele ich da überhaupt nicht daran. Allerdings gibt es heute keine Garantien dafür. Nichts, meine ich, ist bisher entschieden. Allerdings wenn man in das Programm hineinblickt, sind einige Elemente formuliert, die so eine Kraft tatsächlich andeuten. Es sind vor allen Dingen Elemente, die Lehren aus der letztendlich gescheiterten Beschäftigungs- und Wirtschaftspolitik der rot-grünen Regierungskoalition ziehen.

    Klein: Welche positiven Ansätze sehen Sie bereits in dem Entwurf?

    Merkel: Ich sehe es insbesondere auf zwei Feldern. Ich sehe es auf dem wichtigen Feld der Sozialstaatsreform, von der ich meine, dass sie in den letzten sieben Jahren überhaupt nicht angepackt worden ist. Ich sehe sie auch auf dem Sektor der Beschäftigung und hier insbesondere das Augenmerk darauf, dass wir wesentlich mehr Frauen in Beschäftigungsverhältnissen benötigen.

    Klein: Nun spricht die SPD im neuen Entwurf von vorsorgendem Sozialstaat. Da frage ich mich, worin besteht denn jetzt die ganz große Reform?

    Merkel: Das ist genau der Punkt. Wir haben bisher einen Sozialstaat, der eigentümlicherweise von der SPD-Linken in den letzten Jahren mit Zähnen und Klauen verteidigt worden ist, der im Grunde sozial überhaupt nicht gerecht ist. Zukunftsgerecht ist er soundso nicht, weil er auf einem Prinzip der Finanzierung basiert, nämlich der Sozialversicherung, die vollkommen zuwider unserer demografischen Entwicklung läuft. Aber er ist auch nicht gerecht. Er benachteiligt Frauen systematisch. Und wenn man heute sagt, ein Sozialstaat soll nicht nur die Schadensfälle gleichsam begradigen, sondern soll vorbeugen, dass diese Schäden gar nicht eintreten, dann ist das ein ganz wichtiger Schritt in die Zukunft.

    Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Ganz zentral erscheint mir alles das, was mit Bildung verbunden ist. Bildung ist nicht nur an Universitäten und Gymnasien, sondern Bildung muss bei uns sehr viel früher einsetzen, das heißt schon in den Kindergärten. Wir wissen, dass Kinder besonders gut lernen zwischen drei und sechs Jahre. Schon in der Hauptschule kann es zu spät sein. Also vorzeitig intervenieren, das gilt für Bildung, das gilt für Gesundheit, es gilt mittlerweile auch für eine finanzielle Vorsorge für zukünftige Alterssicherungen.

    Klein: Und da sind wir natürlich bei der Frage nach der Finanzierung, die ja in den vergangenen Tagen wieder sehr stark diskutiert wurde. Vom designierten Vorsitzenden Kurt Beck kam die Anmerkung, mit der bisherigen Steuerquote kommen wir dort überhaupt nicht weiter, was sofort zu einer großen Diskussion um weitere Steuererhöhungen geführt hat. Das heißt, laufen all diese doch auch gut gemeinten Maßnahmen letzten Endes auf Steuererhöhungen hinaus, und ist das die große Reform, die die SPD anstrebt?

    Merkel: Diese ganze Debatte ist von einer erheblichen Unkenntnis geprägt. Ich glaube, dass wir an Steuererhöhungen überhaupt nicht vorbeikommen. Die Frage ist nur, wie intelligent wir diese Steuern auf die Schultern in der Gesellschaft verteilen. Beck hat vollkommen Recht, dass Deutschland eine der niedrigsten Steuerquoten im gesamten Bereich der so genannten OECD-Welt, das heißt der entwickelten Staaten hat. Wir haben nur ein Problem, dass wir eine niedrige Steuerquote haben, aber die höchste Sozialabgabenquote. Gerade die Sozialabgabenquote drückt auf die Dynamik im Beschäftigungssektor, verhindert es, dass dort Jobs entstehen. Ergo liegt es auf der Hand, dass wir umsteuern müssen von Sozialabgaben auf höhere Steuern, das heißt Sozialabgaben senken, und das muss natürlich auf der anderen Seite durch eine höhere Steuerquote erzielt werden.

    Klein: All das, was Sie gerade beschrieben haben, nämlich zu hohe Sozialabgaben, was sich wiederum sehr negativ in der Arbeitsmarktpolitik auswirkt, all dies wissen wir ja seit Jahren. Es war auch bekannt in den sieben Jahren, in denen die SPD den Kanzler gestellt hat. Ich frage Sie: Wo erkennen Sie im Programm Ansätze, dass jetzt wirklich Konsequenzen gezogen werden sollen?

    Merkel: Ich sehe zum ersten Mal ganz deutlich – und das wird expressis verbis ganz wörtlich genannt –, stärker einen steuerfinanzierten Sozialstaat schaffen, stärker auf die Bereitstellung so genannter sozialer Dienstleistungen, wovon ich vorhin gesprochen habe, Kindergärten flächendeckend und in guter Qualität etwa bereitzustellen, also dass hier ein Umsteuern stattfindet. Und da können wir tatsächlich von großen Erfolgen von unseren nordeuropäischen EU-Mitgliedsstaaten lernen.

    Klein: Sie bringen das Beispiel Lernen von anderen sozialdemokratischen Parteien in Nordeuropa. Sie favorisieren als Vorbild für die deutsche Sozialdemokratie das skandinavische Modell?

    Merkel: Modell ist immer ein schwieriges Wort, aber all das, wovon wir vorhin gesprochen haben, eine stärkere Steuerfinanzierung, weniger über Sozialabgaben, hochklassige, hochwertige Dienstleistungen im sozialen Bereich und insbesondere eine sehr erfolgreiche Investition in Bildung, sind Elemente zumindest eines Modells, von dem wir hochgradig lernen können und das wir ohne allzu große Probleme Schritt für Schritt in unser System einbauen können. Also nicht das ganze Modell soll importiert werden, sondern erfolgreiche Politiken.

    Das Erfolgreiche dabei ist geradezu, dass eine hohe soziale Sicherungsqualität vorhanden ist, aber die vereinbar ist mit wirtschaftlicher Prosperität. Wir müssen also nicht in die USA blicken, nicht einmal nach Großbritannien, wo wir auch solche wirtschaftlichen Dynamiken haben, die dort aber bezahlt werden mit hohen sozialen Kosten, hohen Armutsquoten. Das alles haben wir in Dänemark, Schweden oder Finnland nicht.

    Klein: Lassen Sie uns noch einen Blick allgemein auf die Sozialdemokratie werfen. Immer wieder wurden die Arbeiten an diesem neuen Grundsatzprogramm vertagt. Weshalb tut sich die SPD so schwer damit, und weshalb könnte es anders werden?

    Merkel: Sie tut sich schwer oder sie tat sich zumindest schwer deshalb vor allen Dingen, weil sie Probleme mit der Führungsfrage hatten. Sie wissen, dass seit diese Programmdebatte von Schröder eigentlich mehr von oben in Auftrag gegeben wurde, als sie inhaltlich angestoßen wurde, hat die SPD dreimal den Vorsitzenden und ihre Generalsekretäre gewechselt. Müntefering löste Schröder ab, Platzeck Müntefering und schließlich folgte dann auch Kurt Beck auf den angeschlagenen Matthias Platzeck.
    Zweitens – und das sollte nicht verschwiegen werden – hat die SPD nach wie vor ein gewisses Problem, einen nachhaltigen innerparteilichen Kompromiss zwischen den unterschiedlichen Strömungen zu finden. Wenn Sie mir das erlauben, hier eine sehr prononcierte These, die wir auch in unseren Untersuchungen gefunden haben: Die so genannte SPD-Linke ist konservativ geworden. Sie ist in den Konzepten stark in den 70er Jahren verhaftet und sie hat eher nach Frankreich als nach Skandinavien geblickt. Eine Schwierigkeit hier ist auch, innerparteilich Konsens zu finden und sich auch nicht von Gewerkschaften etwa hier abschrecken zu lassen.

    Klein: Würde ein Neuanfang, den Sie, wenn ich Sie richtig verstehe, für notwendig halten, den sich viele Genossen gewünscht haben, den sie von Matthias Platzeck erhofft haben, mit einem Vorsitzenden Kurt Beck möglich sein?

    Merkel: Hier ist meine Antwort zunächst tatsächlich ein überzeugtes Ja. Die Gründe sind gar nicht so uneinsichtig. Beck ist ein glaubwürdiger Politiker. Er ist populär. Er kann in der Partei integrieren und hat zumindest in Rheinland-Pfalz eine erstaunliche Führungsstärke bewiesen. Hier sehe ich sogar Vorteile von Kurt Beck gegenüber Matthias Platzeck, von dem wir bei diesen Eigenschaften gar nicht so genau Bescheid wussten. Aber Beck muss es auch gelingen, mutig die Reformen, von denen wir vorhin gesprochen haben, auf dem Arbeitsmarkt, im Sozialstaat, bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und in der Bildung anzugehen und sich nicht – und das ist ganz wichtig meine ich – auf die Verteidigung des Sozialstaates zu beschränken. Beck muss sein wichtiges Pfund, mit dem er wuchern kann, Glaubwürdigkeit, Integrationsfähigkeit, nun mit einer Führungsstärke im Hinblick auf zukunftsfeste Reformen finden.

    Klein: Und in der praktischen Politik: Wird die SPD die Möglichkeit und die Kraft haben, in der großen Koalition einige von diesen Zielen umzusetzen, oder ist sie da vielleicht gar nicht so weit von der Union entfernt?

    Merkel: Da bin ich etwas skeptischer als bei den vorherigen Einschätzungen. Bisher hat die große Koalition nicht gezeigt, dass sie einschneidende Reformmaßnahmen angehen kann. Es war so etwas, was wir in den letzten Jahren und ich möchte fast sagen Jahrzehnten beobachten konnten, eine Reformschwäche. Man tariert aus, man wird letztendlich Kompromisse finden müssen. Die sehe ich in der Gesundheitspolitik zunächst nicht, sehe ich eher auf dem Arbeitsmarkt. Und der Lakmustest wird sicherlich die Sozialstaatfrage sein, und hier sehe ich bisher noch nicht so viel Positives. Die große Koalition muss erst noch zeigen, dass sie reformorientiert regieren kann.

    Klein: Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel über das zu entwickelnde neue Grundsatzprogramm der SPD, mit dem sich die Parteigremien heute befassen werden.