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Politologe hält Neuwahlen in Italien für vermeidbar

Der Politologe Alexander Grasse hält das Bemühen des italienischen Staatspräsidenten Giorgio Napolitano um eine Übergangsregierung für berechtigt. Bei Neuwahlen unter den Bedingungen des jetzigen Wahlgesetzes "würden die Probleme des Landes nicht beseitigt, sondern einfach nur fortgeschrieben", sagte Grasse.

Moderation: Christiane Kaess | 25.01.2008
    Christiane Kaess: Die fast schon chronisch instabilen politischen Verhältnisse in Italien haben sich gestern einmal mehr bestätigt. Nach dem Sturz von Ministerpräsident Romano Prodi durch die verlorene Vertrauensabstimmung im Senat will man in Italien jetzt mit einer Wahlrechtsreform die chaotischen Verhältnisse in den Griff bekommen. Ob dies schon vor oder erst nach Neuwahlen passiert, ist ungewiss - ebenso wie das weitere Vorgehen.

    Am Telefon ist jetzt der Politikwissenschaftler Alexander Grasse. Guten Tag!

    Alexander Grasse: Schönen guten Tag, Frau Kaess!

    Kaess: Herr Grasse, Staatspräsident Napolitano bevorzugt eine Übergangsregierung gegenüber Neuwahlen. Ist das eine nachvollziehbare Entscheidung?

    Grasse: Es ist eine nachvollziehbare Entscheidung. Sie ist vor allen Dingen vernünftig, denn mit dem jetzigen Wahlgesetz würden die Probleme des Landes nicht beseitigt, sondern einfach nur fortgeschrieben. Auch eine Regierung Berlusconi wäre in sich instabil, wenngleich nicht so instabil wie die Mitte/Links-Regierung jetzt, aber wäre von den Rändern her von den kleinen Parteien erpressbar. Eine dauerhafte Lösung ist mit dem momentanen Wahlsystem nicht zu erwarten. Insofern muss er eigentlich darauf dringen.

    Kaess: Was kann auf der anderen Seite eine Übergangsregierung bewirken?

    Grasse: Im Zentrum wird nur diese Wahlrechtsreform stehen - das ist ihre einzige Aufgabe. So sehe ich das im Moment, damit hier entsprechend die Spielregeln einvernehmlich neu reformiert werden, denn man muss ja wissen, dass die Mitte/Rechts-Regierung seinerzeit vor den letzten Parlamentswahlen in allerletzter Sekunde dieses Wahlgesetz auf den Weg gebracht hat und zwar mit ihrer eigenen Mehrheit gegen den Willen der entsprechenden anderen Parteien. Wenn man die demokratischen Spielregeln ändert, sollte man das natürlich möglichst im Konsens tun. Dieses Wahlgesetz hat genau das bewirkt, was es bewirken sollte, nämlich der Regierung Prodi das Leben so schwer als irgend möglich zu machen.

    Kaess: Es heißt Napolitano könne eine Regierung, eine Übergangsregierung, aus Fachleuten zusammenstellen, die dann eben dieses Wahlrecht reformieren sollen. Ist das eine gute Idee, die eventuell einen Ausweg aus der Misere bietet?

    Grasse: Es ist zumindest eine Hoffnung. Alleine von den technischen Reformen eines solchen Wahlrechts sollte man sich nicht zu viel versprechen. Es geht natürlich auch darum, dass sich die politische Kultur des Landes ändern muss, dass es entsprechend integrative Entwicklungen gibt auf beiden Seiten, auf beiden Blöcken, Mitte/Rechts und Mitte/Links. Genau das hat man ja versucht auf der Mitte/Links-Seite mit der demokratischen Partei, die noch im Entstehen begriffen ist, aber denen eben jetzt genau das zum Verhängnis wird, dass sich die kleinen Parteien gegen eine solche Entwicklung wehren, dass sich auf den beiden Seiten große Parteien, die sich gegenüberstehen, entsprechend bilden.

    Kaess: Wir sprechen über eine Übergangsregierung oder die Möglichkeit einer Übergangsregierung. Aber sind denn Neuwahlen überhaupt vermeidbar, wenn die Opposition so darauf besteht?

    Grasse: Das denke ich schon. Es gibt gute Gründe, die sich staatspolitisch begründen lassen von Napolitano, sich nicht auf Neuwahlen einzulassen. Schwieriger ist allerdings die Situation dahingehend, dass auch die kleinen Parteien des jetzigen Regierungsbündnisses sich heute Morgen - zumindest ist dies das Ergebnis der italienischen Presse - alle gegen entsprechende Änderungen einer Übergangsregierung aussprechen und auch alle sofort auf Neuwahlen drängen. Von der Seite gerät dann doch Napolitano erheblich unter Druck.

    Kaess: Schauen wir noch mal genauer auf die Wahlrechtsreform, die jetzt im Zentrum der Diskussion steht. Wie müsste die denn aussehen?

    Grasse: Sie ist so kompliziert, dass die Sendung hier entsprechend nicht ausreichen würde, das zu erläutern. Sie muss so aussehen, dass möglicherweise ein zweiter Wahlgang eingeführt wird, dass man nicht dadurch die Situation erreicht, dass bereits im ersten Wahlgang so große heterogene Bündnisse geschmiedet werden müssen, damit man die Mehrheit erreicht, sondern dass man eben in zwei Schritten hier zu stabileren Mehrheiten kommt und dann homogenere Parteiprogramme entwickelt, Koalitionsprogramme.

    Kaess: Also im Grunde weniger Splitterparteien im Parlament?

    Grasse: Die Splitterparteien müssen ein Ende finden - das ist völlig klar -, denn die Kleinstparteien mit einem Prozent der Wählerstimmen bestimmen maßgeblich die italienische Politik.

    Kaess: Genauso wie die Wahlrechtsreform steht ja schon lange eine Staatsreform und Reform der Institutionen an. Seit Jahren sind die nötig, und das sehen eigentlich auch alle Seiten ein. Aber warum kommt weder die eine noch die andere Regierungskoalition hier weiter?

    Grasse: Weil man sich unversöhnlich gegenübersteht. Die innere Einheit des Landes ist nicht so stark, wie sie sein müsste, und auch die Situation zwischen den großen Blöcken, zwischen Berlusconi und Anti-Berlusconianern auf der linken Seite. Es gibt einfach keine Kooperationskultur. Im Grunde aus meiner Sicht wäre in Bezug auf die große Staatsreform, die diesen Prozess, der ja nun seit 92/93 andauert, zum Abschluss bringt, eigentlich nur eine verfassungsgebende Versammlung.

    Kaess: Sollte es zu Neuwahlen kommen - so haben wir schon gehört -, hätte Silvio Berlusconi gute Chancen, wieder an die Macht zu kommen. Was macht Berlusconi für die Wähler so attraktiv?

    Grasse: Im Moment ist, glaube ich, der Punkt eher, dass die derzeitige Regierung unter Prodi relativ unattraktiv war, nicht weil ihre Bilanz schlecht wäre. Die ökonomischen Daten stimmen. Die Regierungsbilanz ist weitaus besser als die der Regierung Berlusconi.

    Kaess: Und warum wissen die italienischen Wähler das nicht zu schätzen?

    Grasse: Weil bei ihnen relativ wenig ankommt. Die Erwartungen an die Regierung Prodi waren besonders groß, und diese Erwartungen konnte die Regierung angesichts dieser schwierigen Mehrheitsverhältnisse nicht erfüllen. Die klare Linie, das klare Profil war nicht erkennbar, und die unteren Einkommensbezieher, die sich viel erhofft haben von einer Mitte/Links-Regierung, die wurden enttäuscht.

    Kaess: Auf der anderen Seite hat man mit Berlusconi auch keine viel besseren Erfahrungen gemacht.

    Grasse: In der Tat, aber die Mitte/Rechts-Wähler sind eine andere Klientel. Die sind für mehr Liberalisierung, Privatisierung. Auch durchaus marktradikale Ansätze sind dort zumindest in der Forza Italia zu finden. Insofern ist das kein Widerspruch, und diejenigen, die Forza Italia wählen, denen ist auch relativ gleichgültig, ob es einen Interessenkonflikt des Ministerpräsidenten Berlusconi gibt zwischen seiner ökonomischen Macht, seiner Medienmacht, und dem Amt des Regierungschefs. Insofern lassen sie sich davon nicht abhalten.

    Kaess: Welche Koalitionen wären denn nach Neuwahlen realistisch?

    Grasse: Im Grunde die bereits bestehenden Koalitionsbündnisse. Da wird sich nicht viel tun. Clemente Mastella wird überlaufen entsprechend zu Mitte/Rechts. Lamberto Dini hat sich gestern auch enthalten beziehungsweise gegen Prodi gestimmt, der Liberaldemokrat , der eigentlich auch zu Mitte/Links gehört. Da weiß man noch nicht, was sich tut. Es ist offen, aber im Grunde haben wir in der Gesamtkonstellation keine wesentlichen Unterschiede zu erwarten. Die Absatzbewegung, die es unmittelbar nach der Regierungsübernahme durch Prodi gab im Mitte/Rechts-Lager, bei den Christdemokraten, UDC von Casini, die haben sich auch schon wieder Berlusconi angenähert. Also alles bleibt beim Alten.

    Kaess: Die positiven Seiten der Bilanz der Regierung Prodi haben Sie schon angesprochen. Was waren denn seine Fehler?

    Grasse: Einhellige Meinung ist, dass das Amnestiegesetz, um die überfüllten italienischen Gefängnisse entsprechend zu entlasten, relativ dilettantisch vorbereitet war, auch keine Akzeptanz in der Bevölkerung gefunden hat. Schwierigkeiten hat die eigentlich richtige und unter europäischen Verhältnissen notwendige Reform bei den nichtehelichen Lebensgemeinschaften gemacht, die besserzustellen, aber da gab es Probleme entsprechend in der eigenen Koalition, bei den Christdemokraten. Mastella zum Beispiel war entsprechend dagegen. In der Haushalts- und Finanzpolitik wurde mehr erwartet, weniger Sparanstrengungen, sondern eine Ankurbelung der Binnennachfrage, dass man den Leuten mehr Geld in die Taschen gibt.

    Kaess: Hätte sich Prodi von Vornherein nicht auf diese schwierige Konstellation einlassen sollen, die Regierungskonstellation?

    Grasse: Das entsprechende Wahlsystem hat ihm ja die Schwierigkeiten auch bereitet. Die waren ja so, als er seine Kandidatur ankündigte, nicht absehbar. Er wusste, dass es schwierig werden würde, aber so schwierig, ich glaube das hätte er selbst auch seinerzeit nicht gedacht.

    Kaess: Herr Grasse, vor der Vertrauensabstimmung ist es gestern im Senat noch einmal hoch hergegangen. Es wurde geohrfeigt, gespuckt und beschimpft. Was sagt das über die politische Kultur aus?

    Grasse: Das deutet eben an, wie aufgeheizt die Stimmung ist, wie polarisiert die Stimmung zwischen den Parteien ist, und sagt vieles über die politische Kultur des Landes aus, wie sie im Moment da ist. Das verheißt nichts Gutes.

    Kaess: Der Politikwissenschaftler Alexander Grasse über die schwierige politische Situation in Italien. Vielen Dank für das Gespräch!

    Grasse: Ich danke Ihnen.