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Politologe warnt vor Islamisierung in der Türkei

Der türkische Politologe Nail Alkan hat im Zusammenhang mit der Kandidatur des türkischen Außenministers Gül von einer Gefahr der Islamisierung in seinem Land gesprochen. Derzeit herrsche in der Türkei die Stimmung, dass ein Staatspräsident nicht von der islamisch-konservativen Partei AKP gestellt werden solle, erklärte Alkan. Dennoch könne auch nach Neuwahlen der künftige Präsident aus den Reihen der AKP stammen.

Moderation: Dirk Oliver Heckmann |
    Dirk Oliver Heckmann: Herr Alkan, ist der Spruch des Gerichts für Sie eine gute Entscheidung?

    Nail Alkan: Ich meine, es ist eine Entscheidung, auf die ein großer Teil der Türken gewartet hat, weil die Türkei steht - wie Sie auch gesagt haben - mitten in der Krise. Und die Krise muss irgendwie gelöst werden. Denn normalerweise ist es nicht üblich, dass in der Türkei Tausende von Menschen demonstrieren. Seit zwei, drei Wochen demonstrieren Hunderttausende von Menschen in Ankara und Istanbul. Erst mal haben sie demonstriert gegen eventuell eine Präsidentschaft von Herrn Erdogan und jetzt gegen eine Präsidentschaft von Herrn Gül. Es ist eine riesengroße Krise in der Türkei, die zurzeit vorhanden ist, und diese Krise muss irgendwie gelöst werden. Ich glaube, anders hätte man die Krise zurzeit nicht bewältigen können.

    Heckmann: War das eine juristische oder eine politische Entscheidung aus Ihrer Sicht?

    Alkan: Sowohl als auch, aber ich meine, es ist mehr eine politische Entscheidung gewesen, denn es ist ja eher ein politisches Problem. Laut Entscheidung des Verfassungsgerichts mussten in den beiden Runden 367 Abgeordnete anwesend sein, aber sie wissen doch sehr genau, dass zum Beispiel diese Zahl bei anderen Präsidentschaftswahlen nie von Bedeutung war. Das heißt, es ist eher ein politisches Problem, denn die Türkei steht vor einem politischen Problem, nicht vor einem juristischen Problem. Und dieses Problem soll jetzt erst einmal - heute wird die AKP es noch einmal versuchen, aber wir gehen davon aus, dass heute sich nicht viel ändern wird. Und dann wird sich zeigen - es sind jetzt verschiedene Vorschläge von Herrn Erdogan geäußert worden gestern Nacht. Der erste ist, dass der Präsident von nun an vom Volk gewählt werden soll. Denn das war auch ein großes Votum der Demonstration, dass der Staatspräsident vom Volk gewählt werden solle und nicht vom Parlament.

    Heckmann: Eine Forderung - pardon, dass ich Sie unterbreche, Herr Alkan -, eine Forderung, die Sie unterstützen würden?

    Alkan: Eigentlich nicht. Ich meine, die Türkei ist ja ein demokratischer Staat seit 1945. Normalerweise ist es ja nicht üblich gewesen in der Türkei, in der türkischen Demokratie, dass der Staatspräsident vom Volk gewählt wurde. Er wurde bis jetzt immer vom Parlament gewählt. Wie gesagt, es ist eine Krise. Hätten wir zurzeit diese Krise nicht mit der AKP, würde das Volk auch nicht votieren, dass der Staatspräsident vom Volk gewählt werden solle, denn das Parlament wird ja gewählt vom Volk, dass das Parlament verschiedene Aufgaben erfüllt. Und es ist eine Aufgabe normalerweise des Parlaments, dass auch der Staatspräsident gewählt wird. Aber wie gesagt, es ist auch eine Gefahr der Islamisierung, die vor allen Dingen in der türkischen Bevölkerung kundtut, und diese Gefahr der Islamisierung muss irgendwie abgetan werden. Und deshalb ist auch in der Türkei wieder das Militär aktiv geworden. Das Militär hat sich als letzte Instanz theoretisch gezeigt und hat sich gegen Erdogan geäußert und gegen Gül geäußert. Deshalb auch diese Entscheidung des Verfassungsgerichts. Ich meine, wir müssen auch ganz offen bedenken, dass auch das Militär hier ein wenig aktiv geworden ist.

    Heckmann: Sie haben die Sorge vor einer schleichenden Islamisierung angesprochen. Ist diese Sorge unter einem Präsidenten Gül überhaupt berechtigt gewesen?

    Alkan: Eigentlich ja, denn ich meine, wir wissen zum Beispiel, dass unter einer Staatspräsidentschaft von Herrn Sezer, der ja noch bis zum 16. Mai im Amt ist, dass verschiedene Gesetzesvorlagen votiert wurden vom Staatspräsidenten. Unter einer Staatspräsidentschaft von Herrn Gül wäre das nicht mehr der Fall, denn dann hätten wir die Regierungspartei AKP und den Staatspräsidenten auch von der AKP. Wie objektiv eine Staatspräsidentschaft Gül aussehen könnte, das wissen wir natürlich nicht. Normalerweise darf er nicht einer Partei angehören, er sollte also objektiv sein. Aber ob das möglich gewesen wäre, ob das möglich sein wird, denn es kann natürlich auch sehr gut sein, dass das Volk Herrn Gül wählen wird. Ich meine, es ist jetzt auch die Frage, wie das Volk jetzt entscheiden wird. Und auch bei einer vorgezogenen Neuwahl, die wir jetzt Ende Juni oder Anfang Juli haben werden, ist es auch eine Frage, ob sich eventuell einiges ändern wird. Denn viele gehen auch davon aus, dass die AKP wieder die stärkste Macht in der Türkei wird, auch vor allen Dingen jetzt wegen diesen zwei, drei Wochen, weil halt die AKP eigentlich die Rechte von der AKP, die sie normalerweise hätte, politische Rechte, demokratische Rechte, von den Händen entzogen wurden.

    Heckmann: Sie glauben also, dass Abdullah Gül nicht aus dem Rennen ist, mit der Entscheidung des Gerichts jetzt gestern?

    Alkan: Es wird sich zeigen, welchen Kandidaten die AKP vorschlagen wird, und eigentlich ist Herr Abdullah Gül im Vergleich zu Herrn Erdogan eher eine liberalere Person und auch eher anerkannt gewesen vom Volk als jetzt Herr Erdogan. Aber wie gesagt, trotzdem ist halt zurzeit in der Türkei eine Stimmung, dass ein Staatspräsident von der islamisch-konservativen Partei AKP nicht gestellt werden soll. Das ist also das Problem. Ich glaube, auch bei anderen Politikern wird sich das nicht ändern. Es ist ja ein Problem, dass wir in der Türkei das Laizismusproblem haben und die Ehefrau von Herrn Abdullah Gül den Turban trägt, was ja auch ein riesengroßes Problem wurde in der Türkei, was auch sehr, sehr oft diskutiert wurde. Wie kann die Frau des Staatspräsidenten einen Turban tragen? Das sind alles Probleme gewesen, die halt in der türkischen Bevölkerung sehr offen diskutiert wurden und die halt auch die Krise geschürt haben.

    Heckmann: Wie sollte die Europäische Union auf die Situation reagieren? Können die Beitrittsverhandlungen so weiterlaufen wie geplant?

    Alkan: Ich meine, wenn wir uns jetzt die Äußerungen der Europäischen Union anschauen, die Europäische Union hofft natürlich, dass die Türkei in einer demokratischen Form weitergeführt wird, dass sich nicht sehr viel verändern wird. Sie hofft natürlich, dass das Militär diese Krise nicht fortführen wird, und sie hoffen natürlich, dass diese Krise so bald wie möglich jetzt mit den Wahlen Ende Juni und dann später mit den Präsidentschaftswahlen abgetan wird. Bis Ende 2007 habe ich persönlich nicht erwartet, dass die türkisch-europäischen Beziehungen aktiv sein werden, weil das sind alles innenpolitische Probleme gewesen, innenpolitische Sachen, die halt die Europäische Union ein bisschen ins Weite gerückt haben. Aber ich gehe mal davon aus, was ich nicht befürworte, aber ich gehe mal davon aus, dass die Europäische Union auch nicht sehr angetan sein wird von der Sache und dass eventuell vielleicht die Türkei ein, zwei Jahre verlieren wird aufgrund dieser Krise. Denn ich meine, in der Türkei spricht man von einer versteckten oder auch nicht versteckten, mit einer kleinen Militärintervention, die wir auch in den 60er, 70er und 80er Jahren hatten.

    Heckmann: Der Politikwissenschaftler Nail Alkan von der Universität Ankara war das. Ich danke Ihnen für das Gespräch und entschuldige mich bei den Hörern für die schlechte Tonqualität.