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Politologe zur Flüchtlingspolitik
"Merkel setzt im Moment sehr viel Erwartung in die Türkei"

Für Bundeskanzlerin Angela Merkel sei es wichtig, die Tür zu einer europäischen Lösung offen zu halten, sagte der Politologe Josef Janning. Zudem setze Merkel viel Erwartung in die Türkei, weil sie derjenige Partner sei, deren Veränderung die größte Wirkung hätte. Den Plan, Flüchtlingskontingente aus der Türkei aufzunehmen, werde allerdings schwierig, weil sich zu wenig EU-Staaten beteiligen würden.

Josef Janning im Gespräch mit Peter Kapern | 15.02.2016
    Bundeskanzlerin Angela Merkel und der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu
    Bundeskanzlerin Angela Merkel und der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu (picture alliance / dpa / Stringer)
    Peter Kapern: Klar, Einsamkeit ist keine politische Kategorie. Aber weil die, die politische Verantwortung tragen, ja keine Maschinen sind, ist die Frage erlaubt, ob man sich als Politiker nicht doch einsam fühlen kann, politisch einsam. Gut möglich, dass es Angela Merkel gerade so ergeht. Am Nachmittag treffen sich die Regierungschefs der Visegrád-Staaten. Ihr Ziel, die Bundeskanzlerin zu einem Kursschwenk in der Flüchtlingspolitik zu bewegen. Zu diesem Schwenk zwingt vielleicht auch die jüngste Ansage aus Paris: Noch mehr Flüchtlinge nehmen wir nicht. Und das alles kurz vor dem möglicherweise entscheidenden EU-Gipfel in dieser Woche in Brüssel. Angela Merkel allein zuhause?
    Bei uns am Telefon ist Josef Janning, Politikwissenschaftler und Europaexperte der Denkfabrik European Council on Foreign Relations. Guten Tag, Herr Janning!
    Josef Janning: Guten Tag, Herr Kapern.
    "Merkel muss liefern"
    Kapern: Drei Stunden sind es noch bis zum Visegrád-Gipfel, vier Tage bis zum EU-Gipfel in Brüssel. Wo steht Angela Merkel im Moment mit ihrer Flüchtlingspolitik?
    Janning: In ziemlich großen Schwierigkeiten, denn sie muss ja liefern. Sie muss zuhause liefern und sie muss, dafür sorgen, dass es in Europa zumindest weiterhin eine Chance auf eine gemeinsame Politik gibt, auch wenn sich immer mehr Staaten in der einen oder anderen Weise von ihrer Politik absetzen.
    Kapern: Was genau muss sie liefern?
    Janning: Sie muss zunächst einmal dafür sorgen, dass die Menschen in Deutschland erkennen, dass 2016 nicht ein zweites 2015 wird. Das heißt, die Zahlen müssen insgesamt heruntergehen und der Prozess muss nicht nach allgemeinem Eindruck unkontrolliert, sondern sehr kontrolliert verlaufen. Das muss sie liefern. Zum zweiten ist für sie wichtig, dass die Tür einer europäischen Lösung offenbleibt, denn Deutschland kann nur eine europäische Lösung machen, denn eine nationale Lösung hätte immense nachteilige Folgen im gesamten EU-Raum. Beispielsweise Schengen kann keine Woche überleben, wenn Deutschland so handelt, wie Schweden gehandelt hat.
    Kapern: Aber das klingt ein wenig nach der Quadratur des Kreises, die Angela Merkel da abverlangt wird. Einerseits muss sie für Grenzkontrollen sorgen und andererseits für eine europäische Lösung, an der die anderen Europäer aber nicht teilnehmen wollen.
    Janning: Ja. Deswegen setzt sie ja im Moment sehr viel Erwartung in die Türkei, weil das ist aus deutscher Sicht derjenige Partner, dessen Veränderung im Moment die größte Wirkung haben könnte. In Griechenland geht es darum, effektive Grenzkontrollen zuverlässig, und zwar in der Fläche dieser zerklüfteten Insellandschaft herzustellen. Das ist kurzfristig wahrscheinlich nicht zu machen. Das geht auf der türkischen Seite eher. Da Deutschland, da die Europäer in den zurückliegenden Jahren dort nicht viel gemacht haben, laufen sie nun den Entwicklungen hinterher. Das macht die Situation etwas schwieriger im Vergleich zu einer Lage, wo sich die Europäer sehr viel früher in der Flüchtlingsaufnahme in der Türkei selbst engagiert hätten.
    Visegrád-Staaten und die Europäische Union
    Kapern: Wie groß, Herr Janning, ist eigentlich der Druck, den die Visegrád-Staaten gemeinsam aufbauen können und dann auch beim EU-Gipfel im Laufe dieser Woche aufbauen werden?
    Janning: Der ist schon beträchtlich, denn sie machen ja nicht nur Politik mit Worten, sondern auch mit Taten. Sie versuchen im Moment einen Kandidatenstaat wie Mazedonien, dessen innenpolitische Lage sehr schwierig ist, dessen Fortschritte auf dem Weg zu Demokratie und Marktwirtschaft nicht besonders beeindruckend sind, auf ihre Seite zu ziehen, indem sie Versprechungen machen, Personal- und Geldleistungen, Sachleistungen bringen, um Mazedonien dazu zu bringen, seine Grenze zu schließen. Das würde bedeuten, dass das Problem ja nicht verschwindet, sondern sich nur an dieser Grenze anstaut, und dann würden die Visegrád-Staaten die Hände in den Schoß legen und sagen, darum sollen sich die Deutschen kümmern. Das heißt, aus Berliner Sicht muss es darum gehen, solche Kamikaze-Aktionen zu verhindern, denn sie schaffen Fakten, sie schaffen Probleme und sie schaffen Chaos, das dann andere beseitigen müssen.
    Kapern: Das sollten wir noch mal genauer beleuchten. Diese vermeintliche Lösung, die die Visegrád-Staaten dort vorschlagen, würde bedeuten, dass die EU-Außengrenzen nach Norden wandern, Griechenland außen vor liegt, den Stuhl vor die Tür gesetzt bekommt. Wie war das noch mal mit der europäischen Wertegemeinschaft? Ist davon noch was übrig?
    Janning: Ja, dann ist davon nichts mehr übrig. Es gibt ja auch etwa in den hinteren Bänken im Deutschen Bundestag die Forderung zu hören, man müsse Griechenland aus Schengen ausschließen, was ebenfalls eine dramatische Option wäre, weswegen Merkel und die Bundesregierung alles ihr Mögliche daran setzen wird, dies zu verhindern, indem sie im Moment versucht, die Türken dazu zu bringen, möglichst wenige Leute ziehen zu lassen, damit das Problem in Griechenland nicht so groß wird. Aber wenn beispielsweise ermuntert durch die Visegrád-Staaten und unterstützt durch sie, Mazedonien einen Stau an der griechischen Grenze provoziert und damit gewissermaßen das Schengen-System erneut in eine Krise stürzt, dann schlägt das durch auch auf die gemeinsamen Politikmaßnahmen, die ja in Brüssel beraten und beschlossen sind, aber erst noch greifen müssen, und das zu verhindern, muss Anliegen sowohl der Ratspräsidentschaft als auch der Bundesregierung sein.
    "Die Lösung, über Kontingente die Türkei zu unterstützen und zu entlasten, hat etwas für sich"
    Kapern: Aber nun ist es ja so, Herr Janning, dass zu der - ich darf das mal so nennen - türkischen Lösung, die Sie da skizziert haben, auch gehört im Gegenzug die Zusage, Flüchtlingskontingente aus der Türkei aufzunehmen, was beispielsweise Frankreich und Großbritannien - wir haben das eben in dem Beitrag gehört - ausschließen. Setzt Angela Merkel da aufs falsche Pferd?
    Janning: Nein. Die Lösung, über Kontingente die Türkei zu unterstützen und zu entlasten, hat natürlich etwas für sich. Sie hat allerdings auch ein Risiko, denn sie setzt voraus, dass die Türkei dann tatsächlich auch in der Lage und willens ist, dauerhaft ihre eigene Außengrenze zu schließen, und daran kann man Zweifel haben. Und sie müsste zudem noch bereit sein, alle Menschen, die dennoch aus der Türkei irgendwie in der Europäischen Union ankämen, wieder zurückzunehmen. Dieses Problem hat Merkel auch dann, wenn sie viele Mitgliedsstaaten fände, die sich an der Kontingentlösung beteiligen. Im Moment sieht es nicht danach aus. Im Moment sieht es nur so aus, als könne man die Benelux-Staaten gewinnen. Wahrscheinlich kann man auch die Skandinavier zu einer Kontingentlösung bewegen. Alle anderen Staaten haben schon erklärt, dass sie sich nicht daran beteiligen wollen, und das macht den Plan schwierig, denn damit kommt nicht genug Masse zustande.
    Kapern: Was, wenn Sie jetzt Mitglied im Planungsstab des Kanzleramts für den kommenden EU-Gipfel wären? Was würden Sie da vorschlagen? Wie müsste man dort am Donnerstag auftreten?
    Janning: Ich glaube, dass man einmal auf dem eingeschlagenen Weg jetzt nicht plötzlich umkehren kann. Das heißt, Merkel muss weiter versuchen, im Blick auf ihre Haltung zur Türkei, die ja auch die Haltung der EU-Staaten ist, zu bleiben, die Kontingentoption auszuloten. Sie muss gleichzeitig versuchen, im Europäischen Rat vielleicht eine Wende hinzubekommen im Verständnis von Solidarität. Bislang wird Solidarität buchstabiert mit Flüchtlingen, die man bereit ist aufzunehmen. Ich glaube, man müsste dazu kommen, dass es Unterstützung für diejenigen Staaten gibt aus den gemeinsamen Ressourcen, etwa über einen europäischen Flüchtlingsfonds, der denjenigen zugutekommt, die tatsächlich auch Flüchtlinge aufnehmen. Im Ergebnis ist es wichtiger, dass die EU-Staaten die Last irgendwie teilen, als dass man einzelnen Staaten in Mittelosteuropa eine Lektion in Sachen Einwanderungspolitik erteilt. Das wäre ein Paket für den Moment. Die Optionen sind allesamt nicht besonders attraktiv und die sogenannte goldene Lösung gibt es so weit in einen Konflikt hinein nicht mehr.
    Kapern: ... sagt Josef Janning, Europaexperte des European Council on Foreign Relations. Herr Janning, danke, dass Sie heute Mittag Zeit für uns hatten. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.
    Janning: Gern! Ihnen auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.