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PopArt
Pop - wie Persil?

In Düsseldorf kursierte Anfang der 60er-Jahre das Stichwort "German Pop". So lautete auch der Titel einer gerade zu Ende gegangenen Ausstellung in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt. Ulf Erdmann Ziegler bündelt in einem Essay die deutsche Debatte zum Pop und fragt nach dem Ursprung des Wortes und des Gedankens.

Von Ulf Erdmann Ziegler | 22.02.2015
    "Cape" nennt der Künstler Thomas Bayrle seine mit transparenten Regenmänteln bekleidete Puppen, die am 05.11.2014 in der Ausstellung "German Pop" in der Kunsthalle Schirn in Frankfurt am Main zu sehen sind.
    "Cape" nennt der Künstler Thomas Bayrle seine mit transparenten Regenmänteln bekleideten Puppen. (picture-alliance / dpa / Boris Roessler)
    Pop, dieses Wort gibt es in Nordamerika schon seit Langem. Es meint nicht einen Gegenstand, sondern ein Ereignis, den Moment, in dem etwas aufspringt oder platzt. Mein amerikanisches Funk&Wagnall-Schülerlexikon von 1924 listet bereits den Gebrauch "pop corn", wobei "pop" zugleich das Geräusch meint und dessen Ursache, eben wenn ein Maiskorn sich unter Hitze von innen nach außen kehrt, erst gelbe Frucht und dann eine Art essbarer Schaumstoff, wie er schon seit 100 Jahren in amerikanischen Kinofoyers zu kaufen ist, in gewaltigen Kartonbechern, und seit geraumer Zeit in deutschen Cineplexen auch.
    Was amerikanische Kinder einen "lolly-pop" nennen, ist als schlichter "Lolli" eingedeutscht worden. Zwei dauerhafte Lehnworte aber finden sich im Deutschen: die "PopArt" und die "Pop Musik", zwei ungleiche Geschwister, über deren Verwandtschaftsgrad zu spekulieren ein intellektuelles Gesellschaftsspiel geworden ist.
    Im Englischen erscheint das weniger rätselhaft: Schon das Lexikon von 1924 weiß, dass "pop" nicht nur ein Springen oder Platzen meint, sondern auch als Kürzel verwendet werde, nämlich entweder für "population", die Bewohner, ein Sprachgebrauch, der sich nicht durchgesetzt hat; oder für "popular", also das Populäre. Wer hätte das gedacht, sogar dieses amerikanischste aller Wörter hat eine römisch-lateinische Wurzel.
    German Pop-Ausstellung in der Frankfurter Schirn
    "German Pop" hieß eine Ausstellung in der Frankfurter Schirn, die in diesem Winter zu sehen war und mit seltenen, ja geradezu entlegenen Leihgaben punkten konnte. Der Titel allerdings löste Zweifel aus, ob es eine PopArt made in Germany jemals gegeben habe und falls doch, dann wahrscheinlich als eher bedauernswerte Anverwandlung eines amerikanischen Interesses und schon gar nicht unter diesem Namen.
    Stimmt aber nicht: Die Kuratorin Martina Weinhart konnte in ihrem Katalogaufsatz belegen, dass die Düsseldorfer Künstler um Gerhard Richter und Sigmar Polke das Etikett "German Pop" bereits 1963 benutzt hatten. Die Fragen und Bedenken sind aber typisch für den Umgang mit dem Wort "Pop" - anders als zum Beispiel mit den Bezeichnungen "modern" oder "realistisch". "Pop" meint Moden in kurzen Zyklen. Er ruft immer das Schema von Einschluss und Ausschluss auf. Und er verlangt nach Charts und Listen, so wie das in Nick Hornbys Roman "High Fidelity" erzählt wird. Die Betreiber eines Schallplattenladens erstellen immerfort Fünferlisten größter Songs zu wechselnden Themen. Zum Beispiel: die fünf allergrößten Songs über den Tod.
    Für viele deutsche Künstler, Sammler und Ausstellungsbesucher galt als ausgemacht: PopArt war ein amerikanischer Import. Erst das Aufkommen der Kulturwissenschaften hat zum Abschied von diesem Klischee geführt. Inzwischen weiß man, wo die Idee geprägt wurde, nämlich in London. Dort hatte sich eine "Independent Group", so hießen die - aus Künstlern, Gestaltern und Intellektuellen gebildet - Leute, die entschlossen waren, die Chiffren und Symbole ihrer Zeit zu entschlüsseln. Wo ist der Anschluss an die Zukunft? Wie verhält sich die Kunst zu den Maschinen? Was machen wir mit der zweiten Realität, die uns umgibt, in Form von Werbung, Waren und TV? Warum, fragten die Unabhängigen sich 1955, ist denn Amerika so allgegenwärtig geworden: Disney und Rock'n'Roll; riesige Autos aus Detroit; die Lebensmittel der großen Ketten; die Schokoriegel und Limonaden; sogar eine neue heiße Lektüre, genannt Science Fiction; gar nicht zu reden vom komplett durchautomatisierten Haushalt.
    Der Maler und Siebdrucker Richard Hamilton collagierte damals ein kleines, böses Bild, die Vorlage zu einem Ausstellungsplakat. Darin erscheinen der Muskelmann und das Pin-up-Mädchen als häusliches Paar, mitsamt ihrem Warenkatalog amerikanischer Dinge ins Souterrain eines Ladengeschäfts an der High Street versetzt. Das Warner Brothers Kino liegt gleich gegenüber: das Wohnzimmer als Albtraum und Boulevard. Die Bildunterschrift, gefunden in einem Luxusmagazin, ging so:
    "Just what is it that makes today's homes so different, so appealing?"
    - "Also, was macht das heutige Heim so anders, so ansprechend?" Eine beißende Frage, wenn man die Antwort darauf weglässt.
    Einer der ersten von dieser Londoner Szene, der dann tatsächlich die USA bereiste, war ein junger Kunsthistoriker namens Lawrence Alloway. Ihn faszinierte, wie sehr die Gesellschaft unter dem Bann der Massenmedien stand. Anders als andere Beobachter zuvor erkannte er darin das Werk von Leuten, die stilsicher und clever an die Gelüste von Konsumenten appellierten, deren Antwort nicht nur nicht ausblieb, sondern im Gegenteil als frappierender Akt der Aneignung sichtbar wurde.
    Ausweitung des Kulturbegriffs durch Alloway
    Was also Alloway unternahm, war eine Ausweitung des Kulturbegriffs, indem er sagte, es sei Unsinn, eine Hochkultur, hergeleitet aus der Renaissance, gegen das Populäre in Schutz nehmen zu wollen. Im Gegenteil sei es eine Aufgabe der Kunst, die Verbindung sichtbar zu machen. Das konnte er locker postulieren, weil genau dieses in London bereits geschehen war. Sein erster Artikel zu diesem Thema erschien übrigens in einer britischen Zeitschrift namens "Architectural Design", die später das publizistische Flagschiff der Postmoderne werden sollte.
    Interessant ist, wie Alloway in diesem Artikel begrifflich wandert, indem er die "mass media" plötzlich umtauft in "popular arts", und wenn man sich das Kürzel mitdenkt - aus dem Schülerlexikon von 1924: "pop" für "popular" -, haben wir hier den Augenblick, in dem der Vorhang sich öffnet.
    Später hieß es, Alloway habe das Wort erfunden, und gegen diese respektvolle Zuschreibung hat er sich nicht gerade heftig gewehrt. Tatsächlich wurde er bereits 1961 Kurator am Guggenheim Museum in Manhattan und war insofern zeitig zur Stelle, um den rasenden Paradigmenwechsel von einer ungegenständlichen, heroischen Malerei zu einer objektfixierten, banalisierenden Kunst zu beobachten und zu begleiten. Da waren sie, als hätten sie sich im Hinterland Nordamerikas verabredet, um gleichzeitig und mit einem Sixpack von Sujets die Kunstwelt zu okkupieren und ihre Werte umzukehren: Andy Warhol, Roy Lichtenstein, Tom Wesselmann, James Rosenquist und Claes Oldenburg. Diese Namen kanonisierte Lucy Lippard in ihrem Buch von 1966, das "Pop Art"hieß. Jetzt war auch Alloways verbale Larve geschlüpft, und das Wort wurde beweglich wie ein bunter Schmetterling: Es meinte nun sowohl den Gegenstand der Kunst wie deren aktuelle Gestalt.
    Dass man beide Seiten miteinander verwechseln kann, liegt in der Natur dieser Kunst. Der Umstand wurde von den bereits genannten Künstlern sogleich erfasst, aber völlig unterschiedlich bewertet. Tom Wesselmann zum Beispiel wehrte sich gegen ein Publikum, von dem er glaubte, es sei mit den Motiven der damals jungen Kunst einem Nostalgiekult anheimgefallen: "Die betreiben einen Gottesdienst um Marilyn Monroe und Coca Cola." Rosenquist ging noch weiter und behauptete, das Sujet der PopArt wären gar nicht populäre Bilder, "überhaupt nicht". Mit dem Etikett war sofort die Furcht aufgekommen, dass es zu gut klebt.
    PopArt als neue Kunstrichtung
    Vom Wort her ist PopArt kein -ismus, aber sie trug alle Züge einer neuen Kunstrichtung, mit brandneuen Protagonisten, abweichenden Techniken, unbegreiflichen Motiven und neuen Formen von Öffentlichkeit. Gewiss wurde das Neue daran auch gleich propagandistisch übertrieben, und das gilt für die retrospektive Deutung dieser Zeit ebenfalls, indem immer wieder behauptet wird, in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts sei die Kunst von ihrem hohen Ross gestiegen und habe erstmals den Alltag entdeckt. Davon kann nun wirklich keine Rede sein. Die Holländer zeigten schon vor 500 Jahren, wie man einen Küchenboden fegt; Géricault besah sich die Pferde im Stall, und zwar von hinten; Adolph Menzel studierte die Mühen der Arbeit in einem "Eisenwalzwerk"; und zu den Caféhaus-Klassikern des Kubismus gehören Kaffee, Schnaps und Zigaretten.
    Und dennoch ist es richtig, dass die Produktion von Waren, deren Präsentation im Maßstab des Supermarkts und all die Reklame eine Welt für sich geblieben waren. Sie wurden zu Signalen der Metropolen, Symbole einer schnelllebigen Gesellschaft und Zeichen einer raumgreifenden Anonymisierung. Kein Mensch machte sich Gedanken darüber, wer den Dubonnet-Mann an der Pariser Hauswand erfunden hatte, der sich mit Vermouth vollgluckert, oder ob die Coca-Cola-Flasche tatsächlich dem Körper einer berühmten Tänzerin nachempfunden war. Niemand wunderte sich über die Häufung leuchtender Firmenlogos am Piccadilly Circus. Die Bewohner feiner Wohnbezirke aber, selbst in ganz großen Städten, wissen bis heute, Kioske, Neonschriften und Plakatwände in unmittelbarer Nachbarschaft zu verhindern. Nach dem Motto: Aber das gehört hier doch nicht hin.
    Wie die kommerzielle Kultur ausgeblendet wurde, kann man auch an Fotoalben nachvollziehen. Offenbar sind Millionen von Touristen von Schloss zu Burg gereist, vom Felsgipfel zum Meer, von der Apfelwiese bis in den Olivenhain, ohne jemals eine Plakatwand gesehen zu haben, oder eine Plakatwand von hinten, ein Getränkelager, eine Baustelle, einen fensterlosen Gewerbebau auf der grünen Wiese, gar nicht zu sprechen von Fernsehwerbung und Autostaus. Während die Laienknipser vielleicht noch ein Porträt im Wirtshaus gemacht haben - auf dem Tisch der Aschenbecher mit der Aufschrift "Underberg" oder "Ricard" -, waren gerade die Amateurfotografen über Generationen besessen von ihrer Vorstellung einer beschaulichen Welt in Schwarzweiß und später auch in Farbe.
    Was illustrativ arbeitenden Fotografen, auch Profis, lange als bildunwürdig galt, waren vor allem kommerzielle Schriften: Wandreklame, Firmenlogos, Aufschriften auf Droschken und Lieferwagen, die Titel von Zeitungen und Zeitschriften, die gravierten Schilder der Ärzte und der Rechtsanwälte, die Preisschilder in den Schauvitrinen. Alles indiskutabel. Lange blieben fotografische Dokumentaristen nahezu unbemerkt, Leute wie Eugène Atget in Paris und Walker Evans in den USA, die das Gesicht der Stadt und den Körper der Landstraße visuell enträtseln konnten und auch wollten. Heute sind Eugène Atget und Walker Evans anerkannte Künstler, die das Dokumentarische als Arbeitsfeld entdeckten. Aber wären sie auch die Lieblinge von Verlagen und Museen geworden, wenn es die PopArt nicht gegeben hätte?
    Westdeutsche Rezeption der PopArt
    Der Einfluss von Künstlern auf andere Künstler ist das eine; die Wirkung einer Kunst, wenn sie beim Publikum ankommt, das andere. Was die PopArt betrifft, ist die Rolle der Westdeutschen bei ihrer Rezeption herausragend. Den Anfang findet man bei einem Kölner Museumsmann, dem Restaurator Wolfgang Hahn. Der kaufte in den 50er- und 60er-Jahren zeitgenössische Kunst, auf eigene Faust und unerschrocken, die er dann im Mai 1968 - doch, doch, im Mai '68! - in einer kleinen, aber durchschlagenden Ausstellung zeigen konnte, ausgerechnet im Wallraf-Richartz-Museum, das der alten Kunst gewidmet ist. Damit weckte er das Interesse - man könnte auch sagen die Eifersucht - eines Schokoladenfabrikanten aus Aachen, der über Picasso promoviert hatte.
    Der und seine Frau, Peter und Irene Ludwig, waren bis dahin bekannt als Sammler "für Antiken, Altamerika, Alt-China, europäisches Mittelalter, Porzellane und Keramik". Ganz falsch aber wäre zu glauben, dass Peter Ludwig, der in der ersten Hälfte der 60er-Jahre geschäftlich sehr häufig in New York war, das Aufkommen und die plötzliche Blüte der PopArt verpasst hätte. Dennoch, als er sich als Sammler einbrachte, ab 1968, war ihre Definitionsphase bereits abgeschlossen. Insofern betrat er ein soeben sichtbar gewordenes kunsthistorisches Feld, mit der einzigartigen Chance, sich dieses von der Schokoladenseite her einzuverleiben.
    Seine Sammlertätigkeit nahm alsbald solche Ausmaße an, dass man in New York schon überlegte, wie man den Markt gegen deutsche Kunden abriegeln könnte - damit diese nicht die Preise verdürben. Denn Karl Ströher sammelte für Darmstadt parallel, auch er mit den Gewinnen eines großen Unternehmens hinter sich. Große Teile der Sammlung Ströher finden sich heute im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt. Ludwig sicherte sich in Köln ein Museum unter eigenem Namen, wo soeben die spektakuläre Geschichte der Sammlung in der Ausstellung "Ludwig Goes Pop" frisch erzählt worden ist. Der Katalog ist voller überraschender Details.
    Für das deutsche Publikum war dieses Engagement damals schon und ist es auch heute noch ein riesiger Vorteil, weil der Sammler Ludwig keine Luschen kaufte, sondern großes Geschick an den Tag legte, um stilprägende Werke zu akquirieren. Ferner umstellte er die schrillsten Pop-Ikonen mit Vorläufern und Parallelerscheinungen und er verlor dabei keineswegs den Blick für die europäische Kunst.
    Er war begeistert, ja, aber er ließ sich nicht blenden und systematisch beraten. Dennoch, seit dem Beginn der Sammlung in Aachen und wenig später in Köln hat sich die Lebenswelt des deutschen Kunstpublikums komplett verändert. Man fliegt nicht nur nach New York, sondern auch nach Miami, Houston, Los Angeles und Chicago. Die Lebenswelt der USA, ihre pulsierende, aber zum Gleichförmigen neigende Kommerzialität - genau das, was die Londoner Independent Group Mitte der Fünfziger aus der Ferne versucht hatte, zu dechiffrieren - ist inzwischen allgemeine Erfahrung geworden. Es wimmelt in Deutschland von Amerikaspezialisten. Das heißt, wer in Deutschland PopArt anguckt, ist alles andere als naiv. Um so schwieriger, eine Tür zu öffnen für eine deutsche PopArt, die auch noch als German Pop daherkommt, was als Ausdruck, wie wir ja wissen, eine Düsseldorfer Erfindung war.
    Gar nicht anders als in London, nur einige Jahre später, bildeten sich in Berlin, München und auch in Düsseldorf Künstlergruppen, junge Leute, die Aufmerksamkeit erzeugen, aber zur Sonntagskunst der prosperierenden Bundesrepublik nicht passen wollten. In West-Berlin tat man sich zusammen unter dem Adressennamen "Großgörschen 35"; in München hieß die Gruppe seit 1966 "Geflecht"; in Düsseldorf gab man nicht sich, sondern der Kunst einen Namen: "Kapitalistischer Realismus".
    Was im Winter in der Schirn zu sehen war, könnte man rückblickend Dada und vorausschauend Farbfeldmalerei nennen. Unübersehbar, wie sich die Künstler unter 30 von Informel und Abstraktion ab- und einer experimentellen Konkretion zuwandten. Die Arbeit am Gemeinsamen führte unweigerlich in die Gesellschaftskritik: "Nicht wir wollen schockieren, sondern die Dinge schockieren uns", formulierte der Maler Winfried Gaul in Düsseldorf. Die deutsche Begegnung mit der Warenwelt meinte, will man irgendeinen Konsens erkennen, eine brutalisierende Konfrontation mit dem Wirtschaftswunder und dem Muster der Verdrängung des Kriegs und der Verbrechen durch Rationalismus, Rechtschaffenheit und Erfolg. Eine frühe, deutsche Schrift über "Pop und die Folgen!!!" des Berliner Feuilletonisten Heinz Ohff zum Beispiel wurde gestaltet von Wolf Vostell, der Titel des Buchs eine quietschgrüne Parodie der Persil-Werbung von Henkel. Niemals gab es in der deutschen Kunst die frivole Selbstverständlichkeit einer Campbell-Suppendose, die sich wie von allein aus der amerikanischen Küche löste und als Pop-Ikone die Runde machte.
    Umkehr in politische Dogmatik
    1968 verkehrte sich die Suche nach einer anderen Materialität in politische Dogmatik. Das muss man sich mal vorstellen: Politisierte Künstler riefen Streiktage aus. In West-Berlin, wo Markus Lüpertz am Abend eines solchen Streiktags im farbverklecksten Overall in der Kneipe erschien, im Zwiebelfisch am Savignyplatz, wurde ihm von seinen Künstlerkollegen Prügel angedroht. Der hatte ja gearbeitet!
    Keine der drei Künstlergruppen hat 1968 überlebt. Viele urbane Künstler tauchten ab in die deutsche Provinz, probierten es ernsthaft mit Drogen oder gaben die Kunst gänzlich auf. Uwe Lausen nahm sich 1970 29-jährig das Leben. Auch aus solchen Gründen sind viele Namen, die man im Katalog der Ausstellung "German Pop" findet, so gut wie unbekannt.
    Gleichzeitig waren die Künstlergruppen, wie auch die Kuratorin Martina Weingart erkannt hat, das letzte große Männerbündnis unter Künstlern, und dieses könnte sogar ein entscheidendes Merkmal sein, das die amerikanische, englische und deutsche PopArt miteinander verbindet.
    Die vierte Stadt von "German Pop" war in den 60er-Jahren Frankfurt, wo sich aber keine Gruppe bildete. Die Aktiven waren hier Peter Roehr und Thomas Bayrle, die an einem Stilprinzip gemeinsam arbeiteten, nämlich der Serialität, der Wiederholung von Motiven im gleichen Bild, im gleichen Relief.
    So erkenne ich auf einem Farboffsetdruck von Roehr das Rücklicht des Ford Taunus meiner Eltern wieder, aber das ist viel zu nüchtern ausgedrückt. Hier ist es ein warmrotes Mandelauge in einem pastellblau schwimmenden Körper, die betörende Glätte ins Bild gesetzt als Schärfe, noch betont durch einen unscharfen Hintergrund in einem kühleren Ton. Das Kfz-Detail, wahrscheinlich aus einer Werbeanzeige genommen, ist ohne jegliche Varianz achtmal in der Höhe und fünfmal in der Breite dargestellt, das macht 40 Mal. Man weiß gar nicht, wo man hingucken soll. Dieses Mandelauge ist opak und verschlossen, zärtlich und glitschig, technisch und animalisch, zuhauf und einzigartig. Sofort weckt es in mir Lust, es haben zu wollen: Aber nicht das Auto, sondern das Bild.
    Mit der Frankfurter Serialität haben wir nun wirklich German Pop vom Feinsten. Dabei fällt auf, dass sowohl Roehr als auch Bayrle keine klassischen Kunstakademien durchlaufen haben. Roehr, der aus Lauenburg in Holstein stammte, machte von 1959 bis 1962 in Frankfurt eine Lehre als Leuchtreklame- und Schilderhersteller und ging dann an die Werkkunstschule in Wiesbaden; der Ford-Rücklicht-Druck fällt ins letzte Jahr seiner Ausbildung dort. Während Roehr in Frankfurt Leuchtreklamen montierte, machte Thomas Bayrle eine Lehre als Weber in Offenbach. Alsbald gründete er eine Künstlerpresse und am Ende der 60er-Jahre war er Partner bei Bayrle & Kellermann, The Makers of Display, "ein Gemisch aus Atelier, Siebdruckwerkstatt und Werbeagentur, mit bemerkenswerten Kunden", wie Bayrle sich im Katalog "German Pop" erinnert: "tagsüber Ferrero, Benckiser und Pierre Cardin, nachts Marxisten-Anarchisten, antiautoritärer Kindergarten und Lotta Continua." Da gab es also eine echte Berührung mit der Welt des Kommerzes. Und auf der anderen Seite politisch Getriebene, die sogar vor Grafikdesignern als hilfreichen Genossen nicht zurückschreckten. Diese spezielle Frankfurter Spannung, übersetzt in Kunst, konnte nicht ohne Folgen bleiben.
    Die Brillo-Box als Kunst
    Es ist schon früh bemerkt worden, dass fast alle Zentralfiguren der PopArt eben auch eine Vorgeschichte mit Schaufensterdekoration, Cartoons oder Werbung hatten. Um sich vorzutasten zum entscheidenden Theorem des "Was ist Pop" soll hier an eine vergessene Künstlerfigur erinnert werden, einen amerikanischen abstrakten Maler namens James Harvey.
    Anders als Informel und Tachismus in Europa war ja die amerikanische Kunst der 50er-Jahre keine Farbflecken- und Kritzelkunst. Im Gegenteil, in New York und auf Long Island wurde an großen Formaten gearbeitet, bei denen es um nichts weniger ging, als die Erfahrung des Malens selber darzustellen und zu vermitteln. War der Betrachter davon ergriffen, konnte man von einer Kunst des Erhabenen sprechen. Um seine erhabene Kunst zu finanzieren, arbeitete James Harvey in New York dann nebenbei und sehr erfolgreich im Produktdesign. Für einen Hersteller von Stahlscheuerkissen - Topfreinigern - hatte er eine weiße Präsentationsbox entworfen, die in roten und blauen Lettern den Produktnamen "Brillo" trug, kinderleicht, fröhlich und in den Nationalfarben der USA.
    Brillo hat den europäischen Markt nie erobert. Und doch ist die Brillo-Box hier völlig geläufig, weil Andy Warhol daraus einen Kunstgegenstand machte: viele, viele geschlossene Holzkisten, siebbedruckt, aufgestapelt in einer New Yorker Galerie im April 1964. Die Vorlage dafür stammte direkt aus dem Supermarkt. James Harvey nun warf Warhol vor, sein Design gestohlen zu haben, was natürlich richtig war. Um auf die Vorgeschichte der Pop-Künstler zurückzukommen: Warhol selbst hatte die 50er-Jahre nicht als abstrakter Maler verbracht, sondern als Werbeillustrator, gut beschäftigt von einem großen Schuhgeschäft. Und genau so einen brauchte es eben, um die Kunsttauglichkeit des Produkt- und Verpackungsdesigns zu erkennen.
    Es ist oft gesagt worden, dass die New Yorker PopArt eine neue, aggressive Form des Realismus gewesen sei, die die abstrakten Expressionisten, die Malerkönige der Nachkriegszeit, komplett in die Defensive gebracht hätte, ja geradezu diskreditiert. Begreift man aber James Harvey als Fall, entdeckt man das Dilemma der Abstrakten in der zweiten und dritten Generation, die wie auch ihre Lehrmeister entschieden hatten, den Kontakt mit der Gesellschaft der Massenmedien und Massenprodukte zu meiden, also von ihrer Kunst fernzuhalten. So entstand ein Vakuum der Sinndeutung, das die PopArt genutzt hat.
    Eine Frage ist noch offengeblieben: Ob der Wortgebrauch der Londoner Independent Group sich überlebt hat oder nicht. Für sie, für Lawrence Alloway und Richard Hamilton, war "pop" genau das, was es im Schülerlexikon von 1924 ist, nämlich ein Kürzel für das Populäre. Falls sie also Mitte der 50er-Jahre schon "pop art" sagten, was im zu Kürzeln neigenden britischen Sprachgebrauch sehr wahrscheinlich ist, meinten sie die angewandte Kunst für jedermann, also Illustration, Comics, Werbung, Produktdesign und nicht zu vergessen: kommerzielle Typografie.
    Weil die Londoner mit dem Wort "pop art" noch das Sujet einer neuen Kunst bezeichneten und nicht die Kunst selbst, hat man sie kunsttheoretisch zu genialen Vorläufern verklärt. Dabei ist aber eine Erklärungslücke geblieben. Nicht nur, dass wirklich keiner genau zu sagen weiß, wer diese Kunst überhaupt zuerst so genannt hat. Viel wichtiger ist die Frage, warum sich PopArt mit derart rasender Geschwindigkeit als Genrename einer neuen Kunst durchsetzen konnte. Am schönsten wäre natürlich die Erklärung, die Kunst wäre sofort populär gewesen und hätte deshalb diesen Namen auf sich gezogen. Das stimmt aber nicht: Sie hatte es in den ersten vier Jahren sogar eher schwer am Markt.
    Vielleicht hilft die andere Wortwurzel weiter; versuchen wir es noch einmal mit dem "pop corn". Mais heißt im Amerikanischen einfach "corn", und wenn dieses unter Hitze platzt, dann ist es eben pop corn. Jedenfalls eine spektakuläre Verwandlung, die auch den Größenmaßstab erfassen kann, ein Knall, die urplötzliche Entstehung von etwas Neuem. Man könnte sagen, PopArt sei die Transformation eines populären Motivs in Kunst, eine Transformation, die nur glückt, wenn sie flutscht. Wenn sie knallt. Manche Deutsche sagen, wenn man einen Sektkorken springen lässt, dass es ploppt. Da sind wir sprachlich ziemlich nah dran. Und das Schülerlexikon von 1924 verzeichnet eine überraschende Anwendung des Wortes: "to pop the question" bedeutet, einen Heiratsantrag zu machen.
    Pop als fantastische Schule des Schauens
    Pop ist nicht Replica von Warenwelt, damit sie umso schöner werde. Es geht auch um das Glitschige, das Suggestive, das Verdrängte, den Fetisch und das Unheimliche. Fixiert man sich nicht auf die 60er-Jahre, sondern schaut, was aus den stilbildenden Künstlern geworden ist, erscheint Pop als fantastische Schule des Schauens, ein Spiegelsaal mit vielen Türen. Gerhard Richter ist herausgekommen bei einem künstlerischen Verfahren, das nahezu sämtliche Prozesse von Wahrnehmung und Repräsentation akribisch abarbeitet: Nichts ist, wie es scheint, aber was scheint, ist nicht nichts. Oldenburg, Richter, Bayrle, Rosenquist: Sie alle arbeiten an ihrem Spätwerk. Noch ist das Abenteuer, das mit Pop seinen Startschuss hatte, nicht zu Ende.
    Rückblickend betrachten aber kann man das Werk des ersten Pop-Künstlers überhaupt, des Londoner Pioniers Richard Hamilton, von dem die frühe, bitterböse Collage "Just what is it that makes today's homes so different, so appealing?" stammt, von der anfangs die Rede war; sie befindet sich übrigens im Besitz der Kunsthalle Tübingen. Hamilton, 1922 geboren und vor drei Jahren 89-jährig gestorben, war als Künstler ein Denker, Tüftler und Ingenieur. Seine Vorstellung einer widerspenstigen Kunst war inspiriert vom französischen Anti-Künstler Marcel Duchamp.
    Berühmt ist er für seine merkwürdigen, wolkigen Gemälde, ein haarsträubendes Herumgeistern in der Leib-Ding-Welt, Fleisch und doch nicht Fleisch, Verführung vermischt mit Subversion. Das Interessanteste an Hamilton aber ist, dass er, der die Codes des Kommerzes geknackt hat, selbst moderne Designs entwarf und ein großer Anhänger der Ulmer Hochschule für Gestaltung war, also der Brutstätte des Designs der Firma Braun. Hamilton ist auch selbst in Ulm gewesen. Wer nun wissen will, ob Pop und Moderne Antipoden sind, muss sich nur eine berühmte Schallplatte vornehmen, eine Doppel-LP, die The Beatles hieß und mangels eines Titels bald vom Volksmund, der ja auch mitreden darf, das White Album genannt wurde. Gar keine Bilder außen drauf, nur eine Seriennummer. Drinnen ein Poster: eine Collage von Beatlesfotos, aufs Subtilste mutierend von Schwarzweiß zu Farbe. Beides stammt von Richard Hamilton. Das Poster ist Pop; das Cover weiße Moderne. Passt das zusammen? Nun - was man zusammen denken kann, das passt auch zusammen.
    Der Kunstsoziologe Walter Grasskamp hat in einem wissenschaftlichen Vortrag unlängst vorgeschlagen, mit Pop als Mythos abzurechnen. Man könne, hat er in London gesagt, "die Popkultur aus ihren Einzelteilen durchaus auch andersherum zusammensetzen, nämlich als Kulisse des existenziellen Elends inmitten einer entwickelten Konsumgesellschaft und damit einer Tragik, der sie ihr Bild vorhält" - soweit Grasskamp. Der Autor dieses Radioessays nimmt für sich in Anspruch, Pop weder als Mythos zu überhöhen, noch sie als Kulissenkunst einzureißen. Aber nicht, weil es einfach wäre - im Sinne von: "You see what you see". Ganz im Gegenteil, irgendetwas bleibt immer verborgen.