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Popkulturtagung "Common Ground"
Neue kulturelle Unruhe

Auf der Popkulturtagung "Common Ground" der Universität Siegen wird nach den kulturellen Gemeinsamkeiten der Popmoderne gesucht. Man könne heute mit Plattheiten reüssieren, ohne Sanktionen befürchten zu müssen, sagen die Veranstalter, die Literaturwissenschaftler Niels Penke und Jochen Venus im Deutschlandfunk.

Niels Penke und Jochen Venus im Corsogespräch mit Thekla Jahn | 26.10.2017
    Tabus werden gebrochen, Geschmacksgrenzen verschieben sich - zu sehen ist das zunehmend auf dem twitter Account von US-Präsident Donald J. Trump.
    Tabus werden gebrochen, Geschmacksgrenzen verschieben sich - zu sehen ist das zunehmend auf dem twitter Account von US-Präsident Donald J. Trump. (imago / ZUMA Press)
    Thekla Jahn: Ziemlich schwierig zu durchschauen ist unsere Welt - heute anno 2017. Hochspezialisiert und digitalisiert sind bald alle Lebensbereiche vom Auto bis zur Steuererklärung. Die Globalisierung eröffnet ständig noch mehr Weltwissen, aber verkompliziert es auch mit immer neuen Wechselwirkungen. Wer soll da noch durchblicken? Und vor allem: Blicken wir alle gleichermaßen durch oder eher nicht? Haben wir eine gemeinsame Basis - einen halbwegs ähnlichen Wissensstand, sodass wir uns mit dem Großteil unserer Mitmenschen austauschen können? Oder leben wir in Filterblasen, in Gruppen, die jeweils nur einen begrenzten Erfahrungs- und Wissenshorizont haben und untereinander wenig gemein? Parallelwelten, Missverständnisse und Konflikte sind dann natürlich vorprogrammiert.
    Eine Tagung im Museum für Gegenwartskunst in Siegen beschäftigt sich mit Fragen zum "Common Ground", zu den Gemeinsamkeiten, die wir heute haben - wie und woher wir gemeinsames Wissen beziehen - denn das bestimmt ja, wie wir zusammenleben.
    Zugeschaltet aus Siegen sind uns die Literaturwissenschaftler Niels Penke und Jochen Venus. Schönen guten Tag nach Siegen.
    Jochen Venus: Hallo.
    Niels Penke: Guten Tag.
    Jahn: Wie ist es denn um unsere Wissenskultur bestellt? Woher beziehen wir heute in erster Linie unser Wissen über unsere Gesellschaft?
    Venus: Tja, das ist eben gar nicht so einfach zu sagen. Ich meine, bevor wir in das Internetzeitalter eingetreten sind, gab es eben die klassischen Leitmedien.
    "Gewisse Spielregeln werden außer Kraft gesetzt"
    Jahn: Also Zeitungen zum Beispiel.
    Venus: Zeitungen zum Beispiel, Fernsehen. Und wir erleben - eigentlich parallel zur Durchsetzung des Internets - eine Konjunktur des 'Wir-Sagens', der Reklamation von Common Grounds.
    Penke: Auf Ihre Frage nach dem Wissen, also, woher Wissen bezogen wird, spielen diese Neuen Medien - also man denke da an YouTube oder an Facebook-Gruppen - eine zentrale Rolle. Und das Wissen, das dort generiert wird, hat sehr häufig auch Bezüge zu dem, was wir ansonsten in Siegen erforschen, nämlich der populären Kultur. Und aus diesen Beständen wird natürlich ein Wissen abgeleitet, das anders funktioniert, das anders gestrickt ist und auch ganz anders eingesetzt wird als das, was wir in den Universitäten - in welchem Zusammenhang auch immer - erzeugen und in die Welt senden, dass da gewisse Standards, gewisse Spielregeln außer Kraft gesetzt werden, und dass das ein Befund ist, also den wir sowohl in der Wissenschaft - in Bezug auf Wissen - als auch im Bereich der Politik, feststellen können.
    Wir haben noch länger mit Niels Penke und Jochen Venus gesprochen - hören Sie hier Langfassung des Corsogesprächs
    Jahn: Also, was Wissen angeht, sind wir nicht mehr im Elfenbeinturm der Wissenschaft oder Künste, sondern viel mehr Menschen werden angesprochen. Aber Sie sagten auch, das hat andere Spielregeln dann zur Folge, beziehungsweise bestimmte Regeln werden außer Kraft gesetzt. Welche denn zum Beispiel?
    Venus: Also es ist zum Beispiel so, dass die diskursive Struktur - also dass man Gründe angeben muss für Meinungen, und Gründe verlangen kann für Meinungen - dass das zurücktritt und stärker die Inszenierungspraktiken, das Bildliche, das Klangliche, also das Populäre in einem ganz aufmerksamkeitstechnischen Sinn, an Bedeutung gewinnt. Man kann das beispielsweise beobachten bei den populistischen Bewegungen, dass die sich mehr auch auf popkulturelle Schemata berufen und die einsetzen, um sozusagen in dem Gewimmel unserer breiten Gegenwart für Aufmerksamkeit zu sorgen.
    Jahn: Das heißt, es muss also immer um etwas Besonderes gehen, um die Katastrophe, um den Skandal, und weniger um den Sinn?
    Venus: Das ist das eine. Und das andere ist, es muss gewissermaßen eine gute, prägnante Form haben. Also, denken Sie etwa an die Auftritte der Identitären Bewegung, die sich in ihrem ganzen Erscheinungsbild auf popkulturelle Formen beziehen.
    Penke: Also das beliebte Beispiel, also das jetzt auch im Rahmen der Tagung behandelt wird, Donald Trump zum Beispiel, jemand, der ja am Fließband für Skandale und Überraschungen gesorgt hat, weil seine Form der Kommunikation, also zum Beispiel twitter anstelle einer offiziellen Pressestimme dort einzusetzen, ist so ein Moment, also, dass dort Spielregeln außer Kraft gesetzt werden, die nicht mehr kalkulierbar sind. Und das trifft in vielen gesellschaftlichen Zusammenhängen zu, unserem Eindruck nach, also dass das Erwartbare auch, also wie Wissen produziert wird, wie "man" miteinander umgeht, wie "man" kommuniziert, was "man" voneinander zu erwarten hat - also 'man' immer in Anführungszeichen gedacht - dass das sich grundlegend gewandelt hat. Es geht nicht mehr um Gründe, es geht weniger um Sinn und Bedeutung als um, ja, Spektakel, um Resonanz, um Aufmerksamkeit.
    "Im neuen Populismus gibt es eine sehr große Elitenfeindschaft"
    Jahn: Ja, Sie haben es zum zweiten Mal schon angesprochen: Bestimmte Regeln, Konventionen, die wir kennen, die werden außer Kraft gesetzt, es gibt weniger Tabus, weniger Geschmacksgrenzen. Ist das so?
    Venus: Also die Geschmacksgrenzen gibt es natürlich immer, nur sie verschieben sich eben. Dinge, die bis vor Kurzem nicht sagbar waren, werden sagbar. Andere Dinge, die vorher als normal gegolten haben, werden als gewissermaßen dünkelhaft empfunden.
    Jahn: Als elitär.
    Venus: Als elitär. Und es gibt natürlich, gerade eben in dem Zuge des neuen Populismus, eine sehr große Elitenfeindschaft. Und die zu beschreiben, wie die genau funktioniert, ist denke ich ein wichtiges Hintergrundwissen, um damit auch informiert umgehen zu können.
    Jahn: Heißt es denn, dass wir, wenn wir so miteinander umgehen, weniger tiefgründig sind als früher? Das Oberflächenrauschen wird wichtiger?
    Venus: Vielleicht waren wir früher gar nicht so sehr viel tiefsinniger als heute, aber man muss den Tiefsinn heute eben nicht mehr in der Weise prätendieren, wie das in früheren Hochkulturen praktiziert worden ist. Also man kann heute mit Plattheit sozusagen reüssieren, ohne dafür Sanktionen befürchten zu müssen.
    Frage nach zukünftigen Kommunikationspraktiken
    Jahn: Wenn wir das ein bisschen zusammenfassen, Popmoderne anno 2017, ist das ein Beginn eines neuen, kulturellen Aushandlungsprozesses, an dem wir uns gerade befinden?
    Venus: Ganz sicher. Wobei dieser Aushandlungsprozess vermutlich nicht zu einer, sozusagen, neuen Stabilität führen wird, sondern wir uns in dieser Instabilität der zum Teil scharf geführten Debatten darüber, wer wir sind, gewöhnen werden. Wir vermuten, dass es eine neue kulturelle Unruhe gibt und diese Unruhe nicht zu einem neuen, stabilen Niveau führen wird, wie in früheren Nationalkulturen, etwa als Bildungsgut, als Kanon von Werten und Werken vorausgesetzt werden konnte.
    Penke: Da ist einerseits die Frage, auf welchem Kanal werden solche Prozesse zukünftig verbindlich ausgetragen, das ist das eine. Und vor allen Dingen, welche Form der Auseinandersetzung wird sich dort behaupten. Also, dass Kommunikationspraktiken gepflegt werden, die nicht mehr darauf beruhen, dass man einander ausreden lässt, dass man dem anderen zuhört, dass man Argumente austauscht, sondern wer am lautesten schreit oder die besten Bots zum Beispiel einsetzt, kann sich an solchen Orten behaupten. Und wenn man sich diese AfD-Kampagnen auf Facebook anschaut, also dann sind es eher die Antiliberalen, die nicht oder weniger pluralistisch, weniger emanzipatorisch gesonnenen Bewegungen und Akteure, die dieses Spiel für sich erst mal gewonnen haben. Und da wird sich zeigen, wie man damit umgehen kann.
    Jahn: Spannende Fragen, die gestellt werden auf der Tagung unter dem Titel "Ästethik und Rhetorik des Common Ground". Die Tagung beginnt heute im Museum für Gegenwartskunst in Siegen, dauert noch zwei Tage. Danke Ihnen, die Literaturwissenschaftler Niels Penke und Jochen Venus im Corsogespräch. Danke Ihnen. Ja, und spannende Diskussionen bei Ihrer Tagung.
    Penke & Venus: Dankeschön.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.