Donnerstag, 09. Mai 2024

Archiv

Populismus in Europa
Gysi: EU muss ihren Südeuropa-Kurs ändern

Der Linken-Politiker Gregor Gysi kritisierte, dass die EU und die Bundesregierung eine Mitschuld am Aufstieg des Populismus in Italien trage: Statt die Länder stetig unter Sparzwang zu setzen, brauche es einen Weg des Aufbaus. Gysi warnte vor einer weiteren Zuspitzung in dem Land.

Gregor Gysi im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 31.05.2018
    Linken-Fraktionschef Gregor Gysi spricht am 29.09.2015 zu Medienvertretern.
    "Wenn man die Löhne, die Renten, die Investitionen ständig runterfährt, dann sagen die Leute, wir haben die Nase voll davon": Gregor Gysi, Präsidenten der Europäischen Linken (dpa / picture alliance / Kay Nietfeld)
    Dirk-Oliver Heckmann: Wenn Italien trudelt, dann ist das für die Europäische Union weit dramatischer, als wenn Griechenland der Pleite entgegengehen würde, denn Italien ist die drittgrößte Volkswirtschaft Europas, Gründungsmitglied der EU. Nicht auszudenken, wenn das Land die Gemeinschaft verlassen würde. Noch ist es nicht soweit, aber Italien befindet sich in einer schweren politischen und ökonomischen Krise.
    Populisten von links und rechts verfügen über eine Mehrheit, aber die Regierungsbildung kommt dennoch nicht in Gang, währenddessen die Börsen in den Keller gehen, auch angesichts hoher Verbindlichkeiten des Staates und der italienischen Banken. Am Telefon ist Gregor Gysi, Vorsitzender der europäischen Linken, das ist der Zusammenschluss von 15 europäischen Parteien aus dem linken Spektrum, unter anderem der Linken in Deutschland. Morgen, Herr Gysi!
    Gregor Gysi: Einen guten Morgen, Herr Heckmann!
    "Die Linke ist mit dem Scheitern des Staatssozialismus erst mal selbst gescheitert"
    Heckmann: Herr Gysi, in Italien herrscht derzeit eine starke antieuropäische Stimmung. Ist das die Schuld der Europäischen Union oder die Schuld der italienischen Wähler?
    Gysi: Nein, das ist schon die Schuld der Europäischen Union und auch unserer Bundesregierung, also der ganzen Linie, die Merkel und Schäuble in den vergangenen Jahren in Bezug auf den Süden Europas gefahren sind. Ich habe immer gesagt, das ist gefährlich, permanent den Abbau zu verlangen, anstatt sich einen Marshallplan für einen Aufbau zu überlegen. Das war für alle Länder des Südens gefährlich, aber wenn es Italien jetzt wirklich erwischt, dann ist die EU in einem Grade gefährdet, wie sie noch nie gefährdet war, und dann muss man sich alle Konsequenzen überlegen, bis hin zu unseren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Unternehmen et cetera, et cetera.
    Heckmann: Die fremdenfeindliche Lega, die frühere Lega Nord, die kommt laut Umfragen auf 27 Prozent, habe ich gerade schon erwähnt. Bei Neuwahlen könnte sie zusammen mit Berlusconi die Mehrheit dann doch möglicherweise schaffen, aber wenn die EU so unsozial ist, wie Sie sagen, weshalb gehen die Wähler dann nicht nach links?
    Gysi: Das hat mehrere Gründe. Erstens ist die Linke mit dem Scheitern des Staatssozialismus natürlich erst mal selbst gescheitert. Auch die Parteien wie zum Beispiel die italienische kommunistische Partei, die immer eine Distanz zur Sowjetunion hatten, sind einfach mit tief in den Keller gegangen, das darf man nicht unterschätzen.
    Rechtsruck kann man nur mit den Linken erfolgreich bekämpfen
    Heckmann: Das heißt, die Linke hat keine Konzepte.
    Gysi: Na ja, das heißt erst mal, dass die Linke in den Keller gegangen ist, weil sie gescheitert ist, und dann ist die Linke jetzt auch etwas durcheinander, sowohl in Deutschland als auch in Europa. Bei der Frage sucht man vornehmlich nationale Antworten oder sucht man internationalistische Antworten. Für mich ist die internationalistische Richtung die einzig mögliche für eine linke Bewegung, aber das ist heute gar nicht mehr so einsichtig für alle wie für mich zumindest. Auch das bringt die Linke durcheinander.
    Heckmann: Meinen Sie Sahra Wagenknecht?
    Gysi: Ich meine gar nicht jetzt Sahra im Einzelnen, ich meine auch Parteien in Frankreich, in anderen Ländern.
    Heckmann: Sie sagten ja gerade, auch in Deutschland ist die Linke ein bisschen durcheinander.
    Gysi: Auch in Deutschland, ja, da gibt es eben auch zum Beispiel von Sahra und von anderen doch den Hang, lieber Antworten hier in Deutschland zu suchen und zu finden als in der Europäischen Union und darüber hinaus. Darüber werden wir ja auch auf dem Parteitag beraten und entscheiden. Trotzdem sage ich, das müssen wir uns alles sehr gründlich überlegen.
    Aber bei den Linken kommt noch hinzu, dass natürlich auch ein gewisses Misstrauen entstanden ist. Sehen Sie, überall im Staatssozialismus herrschten Diktaturen. Die Leute sind sich ja nicht sicher, was machen wir, wenn wir wirklich die Macht haben et cetera. Wir müssen nach wie vor um Vertrauen werben und, Sie haben Recht, auch Konzepte vorlegen. Zum Teil haben wir die, aber die sind dann eben auch noch nicht überzeugend genug oder wir sind nicht kommunikativ genug, können die nicht gut genug vermitteln, und trotzdem müssen wir einsehen: Wir haben überall eine Rechtsentwicklung, in den US und in Europa. Überall gehen die Zeichen in Richtung Rechtsentwicklung, und jetzt steht die Linke vor folgender spannender Frage: Wir müssen das eigentliche Gegenüber zu diesen Rechten werden, und dann werden wir auch für die Mitte der Gesellschaft wichtig, denn die Mitte der Gesellschaft wird dann begreifen, ohne die Linke hätten wir die Rechtsentwicklung nie überwunden, aber jetzt haben wir sie.
    Linke sollte nicht nach nationalen Antworten suchen
    Heckmann: Derzeit ist die Linke aber, noch jedenfalls, durcheinander, wie Sie gerade gesagt haben, auch in Deutschland.
    Gysi: Habe ich gesagt, ja.
    Heckmann: Und Sie haben auch Sahra Wagenknecht angesprochen mit ihren Einlassungen in nationaler …
    Gysi: Sie haben Sie angesprochen, ich habe ein bisschen bestätigt!
    Heckmann: Ja, ich habe sie angesprochen, Sie haben bestätigt. Wir wollen da korrekt bleiben an der Stelle. Aber in der Tat, Sie haben ja abgehoben auf diese Lösungsmöglichkeiten, möglicherweise dann auch auf nationaler Ebene doch eher Lösungen zu suchen, auch die Einlassungen, wir können hier nicht jeden aufnehmen. Wie erklären Sie sich, dass Sahra Wagenknecht beispielsweise und ihr Lager dann doch immer wieder auf solche Mittel zurückgreift? Ist das die Angst vor den Rechten?
    Gysi: Na ja, ich glaube, das hat damit zu tun, dass sie dort eher Lösungsmöglichkeiten sehen, eher Wirkungsmöglichkeiten sehen. Das Problem ist nur, was sie meines Erachtens unterschätzt, wenn man bestimmte Gremien eher ablehnt, kann man dort natürlich nicht wirksam sein, ist aber auch in den Gremien, in denen man wirksam sein will, nicht besonders wirksam. Die Linke muss auf allen Ebenen wirksam sein, das heißt lokal, in Bundesländern, in Deutschland und auf der europäischen Ebene, und eigentlich muss uns auch noch weltpolitisch was einfallen.
    Heckmann: Aber ist es auch der Versuch, Wähler wieder zurückzuholen, zur AfD, denn die Linke, die hat ja auch Wähler an die AfD in Massen verloren.
    Gysi: Ja, aber wir haben mehr Wähler dazugewonnen, das darf man auch nicht vergessen, als wir verloren haben. Ja, ich finde ...
    Heckmann: Das mag ja sein, aber Sie haben verloren.
    Wähler nicht mit falscher Politik zurückgewinnen
    Gysi: Ich finde die Idee gar nicht falsch, dass man Wähler zurückgewinnt, aber doch nicht, indem ich einem falschen Denken entgegenkomme, sondern indem ich sie vom Gegenteil überzeuge. Das ist, wenn Sie so wollen, der Streit, den es da bei uns gibt, und der ist schon gravierend.
    Aber darf ich noch auf etwas hinweisen: Die großen internationalen Konzerne und Banken haben etwas angerichtet, worauf sie selbst nicht vorbereitet waren, geschweige denn die Regierung. Sie haben den weltweiten Lebensstandardvergleich organisiert, sie haben Beschäftigte, Dienstleistungs- und Produktionsstätten auf allen fünf Kontinenten, und durch Handy und Internet kann jetzt jede und jeder sich überzeugen, wie er denn lebt, wenn er woanders lebte. Das hat auch, neben den Kriegen, neben Hunger, Not und Elend, dazu beigetragen, dass die Fluchtwelle so angestiegen ist, und was fällt den Regierenden ein: nichts anderes außer Abschottung, und wenn das nicht die richtige Antwort ist, dann erwarte ich von der Linken, dass sie die richtige Antwort findet, und zwar eine internationalistische.
    Ich muss es auch ganz klar sagen: Wenn ich als Linker nur an der Seite der armen Deutschen stehe, dann bin ich noch nicht links. Da kann auch ein Rechter stehen. Erst wenn ich an der Seite aller Armen stehe, bin ich links.
    Heckmann: Okay.
    Gysi: Was aber nie bedeutet, dass man etwas zu Lasten der eigenen Armen oder der eigenen Mitte der Gesellschaft dulden kann. Im Gegenteil, da muss es eine Sozialgarantie geben und eine Besserstellung geben, aber das alles …
    Heckmann: Herr Gysi, lassen Sie mich mal kurz eine Frage stellen zwischendurch auch. Sie haben gesagt …
    Gysi: Aber noch nicht der kleine Vortrag!
    "Italienische Regierung hat einen großen Anteil an der Situation"
    Heckmann: Wir werden das hier noch zum Dialog machen. Herr Gysi, Sie haben am Anfang gesagt, am Anfang dieses Gesprächs, Europa ist Mitschuld, also Brüssel, auch Berlin, wegen dieser Stabilitätspolitik, die Sie ja schon immer attackiert haben, aber man muss auch dazu sagen, den Eurostabilitätspakt, den hat Italien mit beschlossen, und trotzdem hat Italien einen gigantischen Schuldenberg aufgehäuft.
    130 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung, so hoch sind die Schulden. Erlaubt sind eigentlich nur 60 Prozent der Wirtschaftsleistung. Es ist doch nicht so, dass die EU nicht alle Augen zudrücken würde, oder?
    Gysi: Na ja, es ist natürlich so, dass die italienische Regierung auch einen großen Anteil an der gegenwärtigen Situation hat. Bloß wir dürfen eins nicht vergessen: Die Schulden waren alle erträglich, selbst die Griechenlands, bis wir die große Bankenkrise hatten, und die Entscheidung, alle Banken zu retten - die USA sind ja einen etwas anderen Weg gegangen -, also die Entscheidung, alle Banken zu retten und sie zu finanzieren, hat dann zu einer Verschuldung geführt in Italien, in Griechenland und in anderen Ländern, die kaum noch zu bewältigen ist, und dann kommen wir Deutsche sehr belehrend immer im Ton, oberschlau, wie wir nun mal so dahinschreiten, und sagen denen immer, ja, ihr müsst alles abbauen, die Löhne, die Renten, die Investitionen, alles runter. So, und wenn du das ständig runterfährst, dann sagen die Leute, wir haben die Nase voll davon, und dann gewinnen Parteien, die populistisch gegen die EU, gegen jeden Internationalismus et cetera auftreten. Das kann doch nicht die Lösung sein.
    Heckmann: Aber die Lösung kann doch auch nicht sein, Schulden aufzuhäufen ohne Ende. Bei 130 Prozent ist man in Italien.
    Gysi: Nein, das ist ja wahr. Da haben Sie ja völlig recht. Also hätte man einen Aufbaukredit geben müssen. Man hätte sich überlegen können, wie kann man die Schulden strecken. Kann man vielleicht eine Schuldenkonferenz machen wie 1953, als übrigens Deutschland fast alle Schulden erlassen worden sind - dürfen wir auch nicht vergessen -, hätten wir das machen können, hätten wir sagen müssen, wir müssen bestimmte Schulden erlassen, das ist den Banken zumutbar.
    Gegen Steuerflucht vorgehen
    Heckmann: Und dann wäre die AfD bei 30 Prozent in Deutschland auch.
    Gysi: Na ja, ich sage ja nur trotzdem, ich sage ja nur trotzdem, wir hätten andere Wege gehen müssen. Die ist man nicht gegangen, und dann hätte man sich überlegen können, wie kriegt man denn mehr Steuereinnahmen. Portugal geht jetzt einen anderen Weg. Die haben wieder Löhne und Renten erhöht, haben plötzlich mehr Steuereinnahmen, sind schon in der Lage, das zurückzuzahlen. Warum konnten wir diesen Weg nicht in Griechenland gehen, warum konnten wir diesen Weg nicht in Italien gehen und in anderen Ländern. Wenn man die Binnenkaufkraft stärkt, stärkt man auch die Steuereinnahmen. Natürlich muss man in diesen Ländern auch Steuergerechtigkeit herstellen. Davon sind wir ja in Europa auch weit entfernt, was mich ärgert.
    Zum Beispiel schlage ich immer eine US-Regel vor. Ich meine, ist ja auch selten, dass ich US-Regeln vorschlage, und zwar, dass man als Staatsbürger eines Landes auch immer im eigenen Land für die Steuern verantwortlich bleibt. Dieses Umgeziehe der Leute, um immer Steuern zu sparen, das muss aufhören, und das haben die USA geregelt. Wenn du in Monaco wohnst, bleibst du in den USA steuerpflichtig. Natürlich wird alles anerkannt, was du in Monaco zu bezahlen hast, aber die Differenz musst du in den USA bezahlen. Warum können wir das nicht in Europa endlich machen, damit die Umzieherei aus Steuergründen aufhört, dann findet sie wirklich nur noch wegen des Wetters statt. Einverstanden.
    Heckmann: Herr Gysi, guter kleiner Witz am Rande. Blicken wir mal nach Italien, Herr Gysi. Die Entscheidung des italienischen Präsidenten Mattarella, diese Ministerliste von der Lega und der Fünf-Sterne-Bewegung nicht zu akzeptieren, die hat ja wütende Reaktionen ausgelöst. Die Lega, die rechtsextreme, also als rechtsextrem geltende Partei, die könnte die Gewinnerin sein bei Neuwahlen. Die wird jetzt bei 27 Prozent gesehen mittlerweile. Herr Gysi, wäre es nicht das Beste, die etablierten Parteien in Italien, die würden keinen Widerstand mehr leisten und denen den Auftrag zur Regierungsbildung geben, die die Mehrheit haben?
    Gysi: Also ich glaube, obwohl ich sehr respektiere die Entscheidung des Staatspräsidenten, dass es tatsächlich ein Fehler gewesen sein kann. Wir hatten schon mal vor vielen, vielen Jahren eine ähnliche Situation zwischen dem griechischen König und Papandreou, und der griechische König weigerte sich, auch einen bestimmten Minister abzusetzen oder besser: einen anderen einzusetzen, selbst dem Ministerpräsidenten wollte er nicht den Auftrag für das Verteidigungsministerium geben, und zwei Jahre später hatten wir einen Putsch. Mit anderen Worten, weil dann gab es Rücktritte et cetera. Wir kriegen das so nicht gelöst, indem wir sagen, wir streichen diesen Minister und jenen Minister. Ich verstehe den Präsidenten, so ist es nicht, ich respektiere ihn auch …
    "Wir müssen unseren Kurs ändern in Bezug auf Südeuropa"
    Heckmann: Aber Sie hätten es nicht empfohlen.
    Gysi: Ich hätte es nicht empfohlen, weil ich glaube, dass wir dann eine weitere Zuspitzung bekommen. Jetzt radikalisiert sich ja das Ganze.
    Heckmann: Das heißt, Ihnen wäre lieber eine Koalition jetzt aus diesen beiden Parteien, Lega und Fünf Sterne?
    Gysi: Na von Lega kann überhaupt gar keine Rede sein. Ich kann nur höchstens sagen, gut, ich habe das erst mal zu respektieren, und dann müssen sich nun - ich sage es mal so - die vernünftigen Kräfte mal endlich sammeln, und zwar in ganz Europa. Wir müssen unseren Kurs ändern in Bezug auf Südeuropa, wir müssen auch mal einsehen, dass der Weg falsch ist, den wir bisher gegangen sind, dass wir einen anderen Weg, einen Aufbauweg brauchen et cetera, um den Leuten dann wieder die Grundlage zu entziehen. So schnell kriegen die das ja auch nicht umgesetzt, weder den Austritt aus der EU noch das Fallenlassen des Euro et cetera, et cetera.
    Aber wenn ich dann eine solche Zuspitzung herbeiführe, wissen Sie, dann weiß ich immer nicht, was daraus wird. Wenn ich das wüsste, dann wäre ich ja sicher in meinem Urteil. Das kann dann eben so sein, dass die Parteien noch mehr zulegen.
    Heckmann: Das heißt, Sie würden empfehlen, jetzt wirklich zu sagen, okay, dann sollen diese beiden Parteien aus dem …
    Gysi: Na ja, jetzt ist es schwer. Er verliert auch wieder sein Gesicht, wenn er das plötzlich macht.
    Heckmann: Ja, wenn er zuhört, ja!
    Gysi: Also vielleicht kann man sich noch auf irgendwas einigen. Das ist zwar ein anderer Name, ist aber ein ähnlicher, und dann wird er berufen, denn seine komische Regierung, die er da installieren will, die vorübergehend ist, die wird ja keine Mehrheit im Parlament haben, dann verschärft sich die Krise weiter, dann steht die Frage von Neuwahlen, bei den Neuwahlen werden die - Anführungsstriche - falschen Ausführungsstriche -, zumindest aus meiner Sicht - ohne Anführungsstriche und Ausführungsstriche - falschen, zulegen. Das muss man alles mit beachten. Das ist alles nicht so einfach. Die Situation ist extrem schwierig.
    "Oettinger muss jetzt deshalb nicht zurücktreten"
    Heckmann: Herr Gysi, apropos Gesichtsverlust, letzte Frage: EU-Kommissar Oettinger, der hat sich ja für eine Interviewäußerung entschuldigt. Er hatte nämlich gesagt, meine Sorge, meine Erwartung ist, dass die Turbulenzen an den Märkten bei den Staatsanleihen und die wirtschaftliche Entwicklung so einschneidend sein könnten, dass dies für die Wähler ein Signal ist, nicht Populisten von links und rechts zu wählen. Die EU-Kommission hat inzwischen festgestellt, nur die Italiener entscheiden über ihre Regierung, sonst niemand. Grünen-Europachef Reinhard Bütikofer, der hat trotzdem gefordert, Oettinger zu entlassen. Sehen Sie das auch so?
    Gysi: Nee, ich verstehe ja, was Oettinger meint, aber als Kommissar steht es ihm natürlich nicht zu. Das ist mir schon klar, weil er ja für alle europäischen Staaten gleichermaßen zuständig ist. Trotzdem hat er eine Idee, über die es sich lohnt, nachzudenken, die ich aber für falsch halte. Man wünscht sich immer, dass sich etwas zuspitzt und immer schwieriger und schwieriger wird und hofft, dann kommt eine vernünftige Lösung zustande. Wenn wir uns aber die Geschichte ansehen, war es auch bei uns umgekehrt. Als sich das immer mehr zuspitzte - ich sage mal vor 1933 -, die Wirtschaftskrise wurde immer dramatischer, na, und hat das die Leute zur Vernunft gebracht? Eher wenig. Das Wahlergebnis der Nazis wurde immer besser, wobei sie übrigens nie eine Mehrheit hatten. Das wurde auch immer durcheinander gebracht. Hitler bekam erst dann die Mehrheit, als er Arbeitsplätze und weiß ich was alles geschaffen hat, das war aber nachdem er … Mit anderen Worten …
    Heckmann: Zurück zu Oettinger, hat er nicht all die bestätigt, die sagen, wir werden hier aus Brüssel fremdgesteuert und fremdbestimmt?
    Gysi: Nein, nein. Ich sage was ganz anderes. Ich sage, wir dürfen nicht auf Zuspitzung hoffen. Das, was Herr Oettinger ein bisschen hofft, weil dann die Leute zur Vernunft kommen. Die Geschichte beweist das Gegenteil. Zweitens, er muss sich mit solchen Äußerungen zurückhalten, das stimmt, aber er muss jetzt deshalb nicht zurücktreten. Mein Gott, was andere Leute schon alles für schiefe Sätze gesagt haben. Nein, das ist für mich nicht der Maßstab.
    Heckmann: Der Vorsitzende der europäischen Linken, Gregor Gysi, war das live hier im Deutschlandfunk. Herr Gysi, ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch, wünsche Ihnen einen schönen Tag!
    Gysi: Ich danke Ihnen, Herr Heckmann!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.