Seit ein paar Wochen hängen große Wahlplakate im Großraum Lissabon, auf denen Bundeskanzlerin Merkel neben dem portugiesischen Premierminister Passos Coelho steht und den Daumen in die Luft streckt. "Eine Regierung die Deutscher ist als die Deutsche" steht in großen Lettern daneben, in deutscher Sprache, mit kleinen Rechtschreibfehlern und einer portugiesischen Übersetzung. Die Oppositionspartei "Linksblock" hat das Plakat entworfen, um Portugals konservative Regierung in ein schlechtes Licht zu rücken. Denn "deutscher sein als die Deutschen" wird in Portugal zurzeit nicht unbedingt als Kompliment gewertet.
"Deutschland muss sich um Dialog kümmern"
Vor fünf, sechs Jahren sei das noch ganz anders gewesen, sagt Rui Tavares. Der Historiker war 2009 als unabhängiger Kandidat über die Wahlliste des Linksblocks ins Europäische Parlament gewählt worden. Wenn er über die Zukunft Europas und die Rolle Deutschlands spricht, erinnert er gerne an entscheidende Momente der europäischen Geschichte aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg: Der Marschallplan, der Schuldenerlass für Deutschland, das in Bretton Woods gegründete Währungssystem. Die derzeitige Krise in Europa könnte gelöst werden, wenn Deutschland an ähnlichen Projekte mitarbeiten würde, sagt er, anstatt den Zuchtmeister der hoch verschuldeten südeuropäischen Staaten zu spielen:
"Deutschland täte es gut, wenn es sich flexibler zeigen würde. Denn mit dieser starren Haltung tut sich Deutschland selbst weh. Und diejenigen, die die Deutschen daran erinnern, sind echte Freunde. Denn vor 10 Jahren, als Deutschland den Stabilitätspakt brach, sah alles noch ganz anders aus. Deshalb muss sich Deutschland intensiv um einen Dialog mit Südeuropa kümmern."
"Von Schumans Europa zu Merkels Nicht-Europa"
Die angeblich fehlende Kompromissbereitschaft der deutschen Regierung bemängelt auch Eduardo Paz Ferreira, der Leiter des Europa-Instituts an der Universität Lissabon. Paz Ferreira hat im vergangenen Jahr ein Buch unter dem Titel "Von Schumans Europa zu Merkels Nicht-Europa" veröffentlicht. Deutschland müsse aufhören, wie ein autoritärer Vater aufzutreten, heißt es darin. Europa brauche ein Deutschland, das eine ähnlich starke, solidarische Rolle einnimmt wie die USA nach dem Zweiten Weltkrieg. An dieser Frage, davon ist Paz Ferreira überzeugt, entscheide sich schließlich auch die Zukunft der Europäischen Union:
"Europa steht an einem Scheideweg. Entweder die EU zerbricht, oder sie baut sich wieder auf und erfindet sich neu. Das Verhalten Deutschlands war bedauerlich, weil es versucht, seine Maßstäbe anderen aufzuzwängen. Es gibt also zwei Entwicklungen, die die Fundamente Europas erschüttern. Erstens die ständige Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Mitgliedsstaaten; und zweitens fehlen Solidarität und Einsicht, dass wir die Mittel in Europa gerechter umverteilen müssen. Ich erinnere nur an die deutsche Wiedervereinigung, wo ein solche Umverteilung im Rahmen der EU geklappt hat und von den Mitgliedsstaaten mitgetragen wurde."
In Portugal haben offen antideutsche Parolen kaum Platz in der Öffentlichkeit. Doch selbst in Teilen der Bevölkerung, die sich wenig für die große Politik interessieren, macht sich der Eindruck stark, dass Deutschland und "A Senhora Merkel" die Zukunft Europas und damit auch Portugals entscheidend prägen. Für José Silva Peneda, ehemaliger Arbeitsminister einer konservativen Regierung und mittlerweile Berater von Jean-Claude Junker in der EU-Kommission, liegt der Ball in Berlin:
"Deutschland hat ein strategisch enorm wichtiges Problem zu lösen. Es muss sich fragen, ob es Europa tatsächlich führen will. Denn wer das Steuer in der Hand hat, muss Europa als Ganzes denken und den ganzen Kontinent betrachten. Es geht nicht, Europa nur durch die deutsche Brille zu sehen und nach den Interessen Deutschlands zu lenken."
"Wir brauchen Reformen"
Silva Peneda glaubt, dass die europäische Krise nur durch eine Flucht nach vorne zu lösen sei. Doch er vermisst bei deutschen Politikern den Willen, die Einheit des Euroraumes weiter zu vertiefen:
"Ich glaube, der Euro kann in seiner derzeitigen Form nur überleben, wenn die riesigen wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den Ländern langfristig abgebaut werden. Dafür brauchen wir Reformen. Und hier stellt sich die Frage, wie wir unseren Wirtschaftsraum regieren wollen. Sollte der Euroraum eine eigene, einheitliche Haushaltspolitik und ein eigenes Budget haben? Ich denke schon. Aber es gibt viele, insbesondere deutsche Regierungsvertreter, die nicht so denken. Sollte der Euroraum ein einheitliches, eigenes Parlament haben? Und schließlich ist offen, ob eine Gemeinschaftswährung überhaupt existieren kann, wenn alle achtzehn Länder ihre Schulden selbst verwalten müssen, anstatt das gemeinschaftlich zu tun."