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Postkarte aus Cannes
Spiegelneuronen im Dauereinsatz

Ist es eigentlich gesund, sich alle paar Stunden auf emotionale Achterbahnfahrt zu begeben? Und das bei festivalbedingtem Schlafentzug? Ein bisschen ausgelaugt fühlt sich unsere Filmkritikerin Maja Ellmenreich dann doch so langsam nach anderthalb Festspielwochen in Cannes.

Von Maja Ellmenreich | 26.05.2017
    Der Festivalpalast beim 70. Filmfestival in Cannes.
    Achterbahn der Emotionen bei vielen Vorstellungen des diesjährigen Filmfestivals in Cannes. (picture alliance / dpa / Ekaterina Chesnokova)
    Kommt eine Frau zum Arzt. Wie der Anfang eines schlechten Altherrenwitzes klingt der Plot von François Ozons Erotikthriller "L’Amant Double". Der doppelte Liebhaber? Das sind zwei Männer, die einander gleichen wie ein Ei dem anderen. Sie sind Zwillinge, beide Psychologen, und sie schlafen mit derselben Frau: mit Chloé, einer zart besaiteten Mittzwanzigerin, die von Bauchschmerzen gequält wird, ohne dass ein pathologischer Befund vorliegt. Kommt eine Frau zum Arzt.
    Am vorletzten Wettbewerbsabend zeigt das Festival der Presse diesen Film. Draußen ist es ungewöhnlich schwül für Côte-d’Azur-Verhältnisse: 72 Prozent Luftfeuchte. Auch wer am Nachmittag noch schwimmen war, kommt allein beim Schlangestehen vor dem Einlass ins Schwitzen. Und dann solch ein Film! Schweißtreibend in jeder Hinsicht.
    Morgens schon eine Überportion Stresshormone
    Ein bisschen abgelenkt bin ich zwischendurch, als ich bemerke, dass sich die Kinobesucherin neben mir auch die Hand vor die Augen hält - natürlich mit gespreizten Fingern, um dann doch noch das unheimliche Geschehen auf der Leinwand verfolgen zu können. Zu viel für unsere strapazierten Nerven?
    Schon am frühen Morgen waren wir schließlich einer Überportion Stresshormonen ausgesetzt. Als uns nämlich die Safdie-Brothers einen Tag und eine Nacht lang - zusammengeschnurrt auf eine Filmstunde und 40 -minuten - durch New York gescheucht haben: ruhelos und unerbittlich auf der Flucht vor der Polizei. Auch wenn ihr Film "Good Time" heißt: Die Protagonisten erleben darin so wenig eine "gute Zeit" wie die Figuren in Michael Hanekes Wettbewerbsbeitrag "Happy End" Friede-Freude-Eierkuchen-Seligkeit erfahren.
    Ich sitze hier im gut gepolsterten Kinosessel und muss weder um Leib noch Leben bangen. Aber allmählich stellt sich mir die Frage: Sind Spiegelneuronen im Dauereinsatz eigentlich gut für den Körper? Oder schlagen sie womöglich auf den Magen? Was würde wohl ein Arzt auf diese Fragen antworten?