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Pralle Zutaten

"Vom Plymouth-Sund mit einer Fracht von Narren/ Ist unser Schiff gen Maryland gefahren." – So erbarmungswürdig reimt ein junger Engländer, der es aber durchaus ernst meint mit der Dichtkunst. Ebenezer Cooke heißt dieser Poet, er lebt im ausgehenden 17. Jahrhundert zunächst in London, gerät aber bald in solch dramatische Verwicklungen, dass es ihn auf eine Odyssee über die Meere bis nach Amerika verschlägt, in eben jene damalige Kronkolonie Maryland, von der sein lächerliches Verslein spricht. Dort, in der Neuen Welt, besitzt Ebenezers Vater eine Tabakplantage, und der Sprössling soll nach dem Rechten sehen und so endlich einem ordentlichen Berufsleben nahe gebracht werden.

Joachim Scholl | 03.02.2004
    Denn bislang hat Ebenezer nur Flausen im Kopf gehabt, sein Studium geschmissen, eine Ausbildung zum Kaufmann abgebrochen, dafür die meiste Zeit dichtend im Kaffeehaus gesessen. Natürlich ebenfalls erfolg- und brotlos. Aber er fühlt sich zur Poesie berufen und die tiefe Überzeugung in seiner Brust, dass seine Zeit noch kommen wird! Ebenezer Cooke ist ein verträumter, lieber, naiver, gutgläubiger Jüngling und Dummkopf, und als solcher der irrwitzigen Fahrt, auf die ihn nun sein Autor John Barth mitnimmt, nur schwerlich gewachsen.

    Doch das gehört selbstverständlich schon zum Prinzip eines Romans, der von Beginn an mit größter Offenheit nachmacht und parodiert, was die Erzählungen so vieler klassischer Abenteuer einleitet: Ein junger Mann im Konflikt zwischen Pflicht und Neigung, die Lockungen der großen weiten Welt, zahlreiche gefährliche Prüfungen auf dem Weg zu Triumph oder Niederlage. Nicht fehlen dürfen: die Freundschaft mit wackren Kameraden, die Feindschaft finsterer Gegner und auf jeden Fall die Liebe, meist zu der einen reinen, als Lohn für schließlich alle Qual. Aus diesen traditionellen Zutaten mischt sich John Barth seine turbulente Story zusammen, deren Handlung kaum vernünftig zu vermitteln ist, ihren besonderen Charme aber gerade im völligen Durcheinander von Figuren, Geschehen und Motiven verströmt.

    Pralle Kneipen-, Sauf- und Bettgeschichten wechseln sich ab mit platonischen Dialogen zwischen dem Helden und seinen Gefährten, das englische 17. Jahrhundert lebt auf in Szenen von Studierstuben in Cambridgte oder vornehmen Londoner Salon, wo ein heimtückische Lord Baltimore den armen Dichterling mit der lächerlichen Würde eines "poeta laureatus" von Maryland hinters Licht führt; dann tauchen Piratensegel am Horizont auf, begleitet von philosophischen Exkursionen über das Recht und die Gewalt, Gott und die Welt, nach Schiffbruch mit einsamer Insel berichtet ein altes Tagebuch von wilden Indianerlegenden, kurz: Geschichten türmen sich auf Geschichten.

    Irgendwie kennt man sie alle schon, aber des Autors spürbar ganze Lust ist es, diese bekannten ErzählMuster nach seiner individuellen Phantasie über- und auszuformen, und mit enormer satirischer Energie ordentlich zu verunstalten. Dabei erweist John Barth etlichen bedeutenden literarischen Vorbildern pfiffige Reverenz: schon seine Charaktere sind allesamt Homunculi aus den Werken von Rabelais, Cervantes, Fielding, Defoe, Laurence Sterne und sogar Voltaire, wenn man Ebenezers Reise als Bildungsroman à la "Candide" auffasst. Fröhlich gelehrt plündert Barth den historischen Bestand, arbeitet unzählige Anspielungen, Verweise und Zitate ein. Dennoch mindert solche poeta doctus-Manier keinesfalls Spannung und Lese-Vergnügen, das der Autor vor allem durch ein spezielles Motiv immer wieder anheizt.

    Er hat es ebenfalls in der Tradition gefunden: Bis auf den superkeuschen "Robinson Crusoe" sind die Bücher jener erwähnten Giganten ja stets auch versteckte erotische Romane, und den größten Spass hätten die Verfasser vermutlich an der überbordenden erotischen Vorstellungskraft ihres modernen Nachfahren gefunden. Denn man muss es so deutlich sagen: Dieser "Tabakhändler" ist ein durch und durch versautes Buch. In allen Farben und Schattierungen malt John Barth den Sex, überall treiben es die Protagonisten, ständig stehen Männlein und Weiblein unter Dampf, und mit barocker Derbheit werden die Dinge beim Namen genannt, in einer der bemerkenswertesten Passagen beispielsweise 113 englische und französische Synonyme für das Wort "Hure". Der Held Ebenezer erschrickt allerdings mächtig angesichts solcher Erotik. Er ist nämlich noch Jungfrau und will sich diesen Status unbedingt als Ausweis eines ‚reinen‘ Dichtertums bewahren. Solch lebensfremdes l’art pour l‘art kann freilich keinen Bestand haben, selbstredend wird Ebenezer zum ganzen Manne geläutert, am Ende entwickelt er gar eine neue Philosophie, die die Unschuld zur "Ursünde" erklärt.

    Dass aus der Verdrängung von Sexualität alles zivilisatorisch Üble resultiert - wenn man es unbedingt wollte, ließe sich daraus wohl die zeitkritische Pointe von John Barths Roman ableiten, immerhin schrieb der Autor 1960 mit seinen dreißig Jahren, lange vor der sexuellen Revolution, in einem hochkonservativen, prüden Amerika. Es wäre jedoch unangemessen, dem Buch eindeutige und derlei banale moralische Absichten zu unterstellen. Seine Stärke ist die stilistische Virtuosität des Autors. John Barth inszeniert ein rasantes literarisches Possen- und Maskenspiel, brennt ein hochkomisches Feuerwerk brillanter Ideen und Spekulationen ab, das die Frage nach dem "Wozu" im bunten Bilderzauber schließlich untergehen lässt. So gesehen bildet der Roman den Vorreiter der spielerischen Postmoderne, Jahrzehnte vor Umberto Ecos Name der Rose , Robert Coovers Pinocchio in Venedig und Thomas Pynchons Mason & Dixon .

    An alle diese Avantgarde-Klassiker muss man bei der heutigen Lektüre dieses alten "Tabakhändlers" unwillkürlich denken, verblüffend sind die Parallelen, Sprachwitz, Stilwut - und auch die Zeitlosigkeit der Stoffe! Was nicht nur daran liegt, dass die Werke in vergangenen Jahrhunderten spielen. Sondern im Grunde nur von sich selbst und der Wahrheit der Literatur handeln. "Der Tabakhändler" ist ein herrliches Buch über Bücher. Leben heißt darin lesen und darüber schreiben. Mit diesen wuchtigen 1000 Seiten plädiert John Barth für nichts sonst als den ehrwürdigen Geist der Erzählung und seine Kraft. An einer Stelle ruft der Held Ebenezer aus: "Bei Gott, ihr Herren, es gibt nichts Schöneres als eine Geschichte!" Noch schöner ist es, wenn einer wie John Barth sie erzählt.

    John Barth
    Der Tabakhändler
    Verlagsbuchhandlung Liebeskind. 968 S., EUR 32, -