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Pralles Leben im Nebenwerk

Seit seiner Emeritierung vor 15 Jahren glänzt Odo Marquard mit Reden und Aufsätzen, die regelmäßig einem breiten Publikum in den gelben Heftchen des Reclam-Verlags zugänglich gemacht werden. Sieben Vorträge, zwei Essays und ein Interview aus den vergangenen zehn Jahren kreisen in "Skepsis in der Moderne" um den Begriff der Gewaltenteilung.

Von Florian Felix Weyh |
    Er bezeichnet sich selbst als einen "Transzendentalbelletristen" und ist unter den lebenden Philosophen derjenige mit der elegantesten Feder: Odo Marquard. Seit seiner Emeritierung vor 15 Jahren glänzt er mit Reden und Aufsätzen, die regelmäßig einem breiten Publikum in den gelben Heftchen des Reclam-Verlags zugänglich gemacht werden und genau das verdienen: ein breites Publikum. "Zu einem Hauptwerk reicht es auch dieses Mal nicht", bedauert der Autor auf der ersten Seite seiner neuen Sammlung "Skepsis in der Moderne", "ein Schelm, der mehr gibt, als er hat".

    Was brauchen wir Hauptwerke, wenn wir solche Nebenwerke haben? Sieben Vorträge, zwei Essays und ein Interview aus den vergangenen zehn Jahren kreisen um den Begriff der Gewaltenteilung - nicht um den politischen nach Montesquieu, sondern um den philosophischen à la Marquard. Ein Skeptiker, belehrt uns der Philosoph, trägt je Kasus mindestens zwei Seelen in seiner Brust, besitzt mindestens zwei Überzeugungen, zwei Interpretationsvarianten - wie das Wort "Zweifel" schon semantisch vorgibt. Er teilt die Gewalt des vom Totalitarismus stets verführbaren Intellekts sorglich auf viele Perspektiven und Positionen auf - je mehr, desto besser. Schriftsteller, die sich einseitig in die politische Diskussion werfen, hält er darum für "torheitsfähig" und bespöttelt zugleich politische Künstler als "standhafte Sinn-Soldaten".

    Wer so mit Sprachwitz zu operieren vermag, den schreckt auch die eigene Zunft mit ihren Verquastheiten nicht. Schon als junger Dozent befand Odo Marquard, vom Jargon der Frankfurter Schule abgestoßen, wenngleich von ihrer Wirkungsmacht beeindruckt: "Man muss Adorno gehabt haben wie die Masern." Masern kriegen alle - wie in seiner Generation, Jahrgang 1928, auch alle Heidegger kriegten, mit dem sich eine prägende Erinnerung verbindet: Als Odo Marquard im Freiburg der End-40er-Jahre - Heidegger hatte noch Lehrverbot und war offiziell nicht präsent - an Buchständen vorüberschlenderte, fiel ihm der enorme Preisunterschied bei den Professorenpostkarten auf. Ja, so einen Starkult gab es mal in der akademischen Welt! Die Porträtkarten gewöhnlicher Lehrstuhlinhaber kosteten 80 Pfennige, ein Heidegger-Bild 1,20 Mark. "In der Philosophie war Freiburg ein durch Heidegger missioniertes Gebiet", resümiert Marquard und stuft sich in diesem System als Heide ein - was ihm dann einen Heidenspaß bescherte, denn so konnte er Veranstaltungen unterschiedlicher "Heidegger-Sekten" besuchen und sich über deren Ereiferungen amüsieren.

    Was also brauchen wir Hauptwerke, wenn die Nebenwerke pralles Leben plus philosophische Essenz vermitteln? Der Skeptizismus des 80-Jährigen beruht dabei auf einem sehr stabilen Vernunftbegriff: Nichts ist wahr, es sei denn, man fände keinerlei plausible Einwände dagegen. Wobei Vernunft eigentlich das Normale und nicht das erst zu Erringende darstellt, charakterisiert man sie wie Marquard als "Verzicht auf die Anstrengung, dumm zu bleiben". Noch präziser - und ebenso süffisant - lautet eine Definition, die man als Generalabsage an eine ganze Geistesrichtung sehen kann: "Vernünftig ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet." Die großen, normativen Würfe machtversessener und daher von Macht korrumpierbarer Epochendenker mag Odo Marquard gar nicht. Ihnen stellt er einen umgeschriebenen Marx gegenüber: "Die Geschichtsphilosophen haben die Welt nur verschieden verändert; es kömmt darauf an, sie zu verschonen."

    Ins Schwarze getroffen, wie so oft in diesem Büchlein, das intellektuell und sprachlich Freude macht, weswegen man ihm verzeiht, dass darin manche Sätze mehrfach auftauchen. Bestimmte Rhetoriken des mündlichen Vortrags hat Marquard im Druck nicht angeglichen, sondern lässt sie wie in einer Liturgie immer wieder anklingen. Das schafft Vertrautheit, ja Heimat, und bittet den lesenden Zuhörer stets aufs Neue in den imaginären Hörsaal hinein, wo er dann das tröstliche Credo des Skeptikers in sich aufnehmen mag: "Die Welt ist mehr Nichtkrise als Krise: sie ist gewiss nicht der Himmel auf Erden, aber auch nicht die Hölle auf Erden, sondern die Erde auf Erden."


    Odo Marquard: Skepsis in der Moderne
    Aufsätze des Philosophen
    Reclam, 128 Seiten, 4 Euro