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Premiere am Theater Ulm
Überforderte Heldenfiguren in Beethovens "Fidelio"

Von Ludwig van Beethoven einziger Oper "Fidelio" gibt es mehrere Fassungen. Am Theater Ulm inszeniert Regisseur Dietrich Hilsdorf dieses Werk als ein Lustspiel, bei dem die mit ihrem Schicksal überforderten Menschen im Vordergrund stehen. Dabei kommt Beethovens grandiose Musik bestens zur Geltung.

Von Ines Stricker | 30.09.2019
    Maryna Zbko, Guido Jentjens, Erica Eloff und Luke Sinclair in der "Fidelio"-Inszenierung am Theater Ulm
    "Fidelio", ein Drama mit übermenschlich großen Heldenfiguren, wird bei Dietrich Hilsdorf zu einem, wie er es nennt, "kleinen Dreckstück in 25 Szenen". (Theater Ulm/Jochen Klenk)
    Musik: "Fidelio", Szene Leonore
    Mit seinem "Fidelio" hat sich Ludwig van Beethoven besonders schwergetan. Seine erste und einzige Oper lässt sich am ehesten als Work in progress beschreiben: Drei Fassungen und vier Ouvertüren gibt es, entstanden zwischen 1805 und 1814.
    Die als Mann verkleidete Leonore befreit unter dem Namen Fidelio ihren zu Unrecht angeklagten Gatten Florestan aus dem Gefängnis und bewahrt ihn so vor der Rache des bösartigen Gouverneurs Pizzarro.
    Zu dieser tragisch-heroischen Erzählung kommt in Beethovens "Fidelio" noch ein Lustspiel: Marzelline, die Tochter des Kerkermeisters Rocco, verliebt sich in den hübschen jungen Fidelio und lässt dafür ihren Verlobten Jaquino links liegen.
    Musik: "Fidelio", Duett Marzelline-Jaquino
    Heldentum und Lustspiel verbinden sich
    "Also dem Stück wird immer vorgeworfen, dass es eine große heroische Oper ist, die anfängt mit so Spieloperszenen; ich war der Meinung, vielleicht ist das Ganze eine Spieloper, ja, vielleicht ist das gar nicht die große heroische Oper, es ist eine Spieloper à la Lortzing. Es ist fast eine Paraphrase auf ‚Was ihr wollt‘, also eine Frau verkleidet sich als Mann und hat nicht dran gedacht, dass sich dann eine Frau in ihn verlieben könnte. Daraus strickt man Komödien", erklärt Dietrich Hilsdorf, Regisseur des Ulmer "Fidelio".
    Blick vom Ulmer Münster auf das Theater Ulm
    Das Theater Ulm (weißes Gebäude rechts) feiert auch das 50-jährige Bestehen seines Theaterneubaus. (picture alliance/dpa - imageBROKER)
    Tatsächlich hat sich Beethoven bei der Umarbeitung seiner Oper mit ihren höchst unterschiedlich angelegten Handlungssträngen zwischen Verzweiflung, Ekstase und kleinbürgerlicher Beschaulichkeit, ergreifenden Szenen und gesprochenen Singspieldialogen nicht leichtgetan: Bereits Geschriebenes wurde auf Anregung eines Freundes wieder gestrichen, etwa das Terzett zwischen Marzelline, ihrem Verlobten Jaquino und ihrem Vater Rocco.
    Musik: "Fidelio", Terzett "Ein Mann ist bald genommen"
    Für den Ulmer "Fidelio" hat Dietrich Hilsdorf zusammen mit Generalmusikdirektor Timo Handschuh diese und andere Nummern wiederaufgenommen, also eher den Lustspielcharakter betont. Zu hören ist in Ulm statt der vierten und letzten Version der Ouvertüre die zweite, auch die veränderte Reihenfolge der Stücke zu Beginn entspricht einem früheren Entwurf Beethovens. Dafür lässt Hilsdorf sämtliche gesprochenen Dialoge wegfallen.
    "Die Texte und die Fassungen sind zum Teil wirklich konfus und die Texte sind nicht sehr gestisch, sind keine wirklichen Theatertexte, und da gab es einfach Probleme. Also da hatte ein Genie Probleme mit der Oper."
    Das Idyll trügt
    Dietrich Hilsdorf lässt bei seinem "Fidelio" die Entstehungszeit, das Biedermeier, und den Ort zusammen mit Bühnenbildner Dieter Richter und Kostümbildnerin Bettina Munzer wiederauferstehen: Marzelline plättet ihr selbstgenähtes Hochzeitskleid auf dem Tisch, die tapezierten Wände über dem Sofa ziert ein Ölbild mit Rotkäppchen und dem Wolf.
    Doch in dieser scheinbaren Idylle werden gesellschaftliche Risse sichtbar: Die hochaufragenden Wände im Hintergrund sind vermodert, das Grab für den gefangenen Florestan wird mitten auf der Bühne ausgehoben, die Gefangenen strömen aus dem Keller hinein ins kleinbürgerliche Wohnzimmer.
    Musik: "Fidelio", Chor der Gefangenen
    Und am Schluss, als Leonore alias Fidelio ihren Florestan aus den Klauen des bösartigen Gouverneurs befreien kann, lässt Hilsdorf das Happy End einfach weg: Das Liebespaar ist von den vorausgegangenen Strapazen und dem Rollenwechsel so zermürbt, dass sich das Glück partout nicht einstellen will: Der gerettete Florestan taumelt in Marzellines Hochzeitskleidchen über die Bühne, die immer noch in Uniform steckende Leonore bricht zusammen.
    Die ehemaligen Gefangenen dagegen fordern ihre bürgerlichen Rechte massiv und aggressiv ein. Der Befreier Don Fernando, der zum Schluss als Deus ex Machina auftritt, erscheint als bloße Marionette des Volks.
    Musik: "Fidelio", Solisten und Schlusschor
    Der Mensch steht im Vordergrund
    "Fidelio", ein Drama mit übermenschlich großen Heldenfiguren, wird bei Dietrich Hilsdorf zu einem, wie er es nennt, "kleinen Dreckstück in 25 Szenen". Im Vordergrund stehen die mit ihrem Schicksal und den Zeitläuften heillos überforderten Menschen.
    Dennoch tut diese Sicht der Dinge der Oper keinen Abbruch, im Gegenteil: Hilsdorfs Fassung bringt Beethovens grandiose Musik, die gespenstische Auslotung der Kerkeratmosphäre, die Zerrissenheit und Verzweiflung des Liebepaares wie die eher bescheidenen Hoffnungen und Träume der anderen voll zur Geltung.
    Dabei konnte sich der Regisseur auf ein insgesamt sehr gut disponiertes Sängerensemble verlassen, das sich weitestgehend aus Ensemblemitgliedern des Theaters Ulm zusammensetzte.
    Star des Abends: Erica Eloff
    Unangefochtener Star des Abends war freilich die als Gast auftretende Erica Eloff: nicht nur völlig gestaltungs- und höhensicher, sondern auch vom Phänotyp her unübertrefflich androgyn und gleichzeitig anrührend gestaltete sie ihre Partie als Leonore alias Fidelio. Dirigent Timo Handschuh blieb nicht nur immer bei seinen Sängern, unter seiner Leitung brachte das Orchester auch vor allem die lyrischen und stellenweise unheimlichen, düsteren Passagen der Beethoven’schen Musiksprache zum Leuchten.
    Mit dieser Darstellung von Beethovens Botschaft der bürgerlichen und persönlichen Freiheit macht Dietrich Hilsdorf seinem Ruf, Altbekanntes gegen den Strich zu bürsten und so aktuell werden zu lassen, alle Ehre.