Lange: Das ist jetzt sozusagen die justiztheoretische Abhandlung, aber selbst das Verfassungsgericht, das ja eine Stellungnahme abgegeben hat zu dem, was die Bundesregierung da vorhatte oder jetzt nicht vorhat, besteht nicht darauf, Rechtsmittel einzulegen, sondern hält es eigentlich auch für vertretbar, erst mal die Auswirkungen auf die Praxis der Fachgerichte abzuwarten. Also doch das Ganze etwas tiefer hin?
Prantl: Nun ja, die Verleger und die Chefredakteure haben es mit den Beispielen, die sie genannt haben, sehr hoch gehängt, und es war wohl auch nicht alles so extrem zu sehen. Aber tatsächlich ist mit diesem Urteil in Straßburg etwas passiert, was durchaus gefährlich werden könnte. Es sind die Gewichte zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsinteresse neu verteilt worden, und zwar anders verteilt worden, als es das Gericht in Karlsruhe, unser oberstes deutsches Gericht, und die deutsche Rechtsprechung insgesamt machen.
Es kommt denjenigen Kritikern entgegen, die sagen, die Pressefreiheit in Deutschland geht zu weit, greift zu sehr in Persönlichkeitsinteressen ein. Sie macht es am Beispiel der Yellow-Press, sie macht es am Beispiel der Caroline von Monaco, aber wenn Sie das Urteil aus Straßburg genau lesen, dann sehen Sie, hier wird Pressefreiheit tatsächlich eingeschränkt, und es wird möglich, sie stärker einzuschränken als bisher, weit über die Fälle der Caroline hinaus. Es geht im Kern des Urteiles natürlich um die Auswüchse der Boulevardpresse, aber das Urteil aus Straßburg ist so formuliert, dass es Auswirkungen darüber hinaus haben kann.
Lange: Es gibt diese zwei, sagen wir mal, etwas extremeren Meinungen. Die Zeitungsverleger sagen, das ist ein Freibrief für Zensur, dieses Urteil. Ihr Kollege Leyendecker meint, jetzt von mir etwas zugespitzt, das trifft ja nur die Yellow-Press, und um die ist es im Grunde auch nicht so schade. Wer hat denn da etwas mehr Recht?
Prantl: Nun ja, es ist wie immer bei Gerichtsurteilen, sie sind interpretationsfähig. Zunächst mal ist es tatsächlich so, das Gericht trifft nicht die Politiker, es betrifft im Kern nicht die politische Berichterstattung. Es betrifft konkret diesen Fall von Boulevardübertreibungen. Wenn wir uns das Urteil genau anschauen, dann zeigt sich, dieses Urteil schiebt tatsächlich in seiner Begründung die bisherigen Grundsätze deutscher Rechtssprechung beiseite. Die lebt von Begriffen wie absoluter Person und relativer Person der Zeitgeschichte. Sie akzeptiert diese Begriffe nicht, führt neue Begriffe ein, die sehr allgemein sind, und in dieser Allgemeinheit steckt, meine ich, die Gefahr auch für den Bereich der politischen Berichterstattung, weil man nicht weiß, wie weit geht jetzt der private Schutz für Politiker oder für politiknahe Personen?
Für mich ist der klassische Fall derjenige des sächsischen Ministerpräsidenten, der damals bei der Ikea-Kasse in Dresden sehr stürmisch Rabatte gefordert hat. Wenn ich die Begründung des Straßburger Urteiles nehme, dürfte ich darüber nicht mehr schreiben, weil die Frau des Ministerpräsidenten keine Person ist, die selber ein öffentliches Amt bekleidet, und nur bei diesen Personen, die in der Politik stehen und selber ein öffentliches Amt bekleiden, wäre nach den Ausführungen des Straßburger Gerichts weiterhin Berichterstattung, Nachrichten aus dem Bereich des Innerprivaten möglich. Die nächste Frage stellt sich bei Wirtschaftsführern. Wenn nur noch Politiker absolute Personen der Zeitgeschichte sind, stellt sich die Frage, was mache ich denn mit dem Vorstandsvorsitzenden von Daimler, der Deutschen Bank und ähnlichen Großbetrieben? Darf ich aus den Bereichen in diesem Amt berichten oder nicht?
Lange: Ich höre bei Ihnen noch einen gewissen Argwohn heraus gegen nachgeordnete deutsche Gerichte, die sich vielleicht doch diese Sichtweise dann allzu gern zueigen machen würden.
Prantl: Nun ja, man muss sehen, Deutschland macht sich schadensersatzpflichtig, wenn ich diese Regeln und Rechtsprechung, die Straßburg eingeführt hat, nicht anwende. Das heißt, letztendlich würde sich die Bundesregierung, wenn jetzt Caroline von Monaco 300.000 Euro Schadensersatz kriegt, sich diese 300.000 Euro aus dem Topf des Bundesverfassungsgericht nehmen. Das heißt, die Gerichte stehen tatsächlich finanziell im Feuer, und es zeigt, es geht um etwas. Gegebenenfalls werden sich Gerichte hüten, sich auf die Art und Weise in finanzielle Schwierigkeiten zu bringen.
Lange: Es ist gestern spekuliert werden, diese Bundesregierung sei in Personen befangen. Ist es nicht doch ein bisschen albern?
Prantl: Ich denke, man muss natürlich sehen, hier hat die Politik ein eigenes Interesse. Ich sehe auch das eigene Interesse als durchaus berechtigt. Man kann darüber klagen, in welcher Art und Weise Politiker in die Öffentlichkeit gezerrt werden in ihrem privaten Bereich. Aber ich denke, hier sollte über solche Klagen die Politik nicht selber entscheiden. Sie hätte die letzte Instanz anrufen sollen und dann, wenn die Urteile vorliegen, vergleichen und entscheiden, ob gesetzgeberisch etwas zu tun ist. Jetzt, glaube ich, besteht die Situation, dass man eine rechtliche Unsicherheit, die eingetreten ist, durchaus gesetzgeberisch ausnutzen könnte und sagen: Leute, es gibt die Unsicherheit, wir müssen jetzt eine Art Ehrenschutzgesetz in Lauf setzen, um eine juristische Unsicherheit zu beseitigen, die die Politik mit ihrer Entscheidung nicht weiterzugehen in Straßburg, selber herbeigeführt hat.
Lange: Vielen Dank für das Gespräch.