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Pressefreiheit in der Türkei
"Journalisten müssen ständig mit Verhaftungen oder Verfahren rechnen"

Es gebe nur noch wenige unabhängige Medien in der Türkei, sagte Christoph Dreyer von Reporter ohne Grenzen im DLF. Der Großteil sei per Dekret geschlossen worden. Das sollte die EU sehr klar benennen. Der Fall Deniz Yücel sei nur die Spitze des Eisberges.

Christoph Dreyer im Gespräch mit Mario Dobovisek |
    Kundgebung Pressefreiheit Türkei Internationaler Tag der Pressefreiheit: Kundgebung gegenüber der Türkischen Botschaft in Berlin von Reporter ohne Grenzen und Amnesty International für die Freilassung der in der Türkei verhafteten Journalisten. Rally Press freedom Turkey international Day the Press freedom Rally to the Turkish Embassy in Berlin from Reporter without Borders and Amnesty International for the Release the in the Turkey arrested Journalists
    Teilnehmer einer Kundgebung gegenüber der Türkischen Botschaft in Berlin. Sie machen sich für die Freilassung der in der Türkei verhafteten Journalisten stark. (imago stock&people)
    Mario Dobovisek: Rang 155 belegt die Türkei auf der Pressefreiheits-Rangliste von Reporter ohne Grenzen, für deren deutsche Sektion Christoph Dreyer tätig ist. Er ist jetzt bei uns am Telefon. Guten Tag, Herr Dreyer.
    Christoph Dreyer: Guten Tag!
    Dobovisek: Erdogan behauptet, so haben wir es gerade im Bericht unseres Korrespondenten Reinhard Baumgarten gehört, die Medien seien nirgendwo so frei wie in der Türkei. Sie sehen die Türkei dagegen im internationalen Vergleich direkt nach Weißrussland und der Republik Kongo. Gibt es demnach in der Türkei überhaupt noch eine freie Presse?
    Dreyer: Es gibt noch wenige unabhängige Medien, aber man kann sie wirklich inzwischen sehr leicht abzählen und der Großteil wurde geschlossen per Dekret, oder kann aus anderen Gründen nicht mehr arbeiten, und auch die, die noch arbeiten können, werden ständig bedrängt und die Journalisten müssen ständig mit Verhaftungen oder irgendwelchen Verfahren rechnen.
    Dobovisek: Was hören Sie dort über den journalistischen Alltag?
    Dreyer: Wir hören zum einen, dass tatsächlich die Leute sich ständig fragen müssen, womit errege ich als nächstes Anstoß und wann kommen bei mir die Behörden, wann kommt die Hausdurchsuchung. Viele Journalisten beschäftigen sich aber auch oder sind gezwungen, sich damit zu beschäftigen, dass sie sich vor Gericht verteidigen. Es gibt manche Tage, an denen ist es im großen Justizpalast in Istanbul wie bei einem Journalistenkongress. Da geben sich die prominenten Journalisten die Klinke in die Hand, nicht, weil die alle über irgendeinen prominenten Terroranschlag oder über so etwas berichten würden, sondern einfach, weil sie selbst alle vor Gericht stehen in diversen Verfahren, und viele haben auch überhaupt kein Einkommen, keine Einkommensmöglichkeiten mehr, weil die ganzen Zeitungen und Medien, für die sie gearbeitet haben, geschlossen sind.
    "Das heißt nicht, dass die Türkei dann sofort die Hacken zusammenschlägt"
    Dobovisek: Wie sollte die Europäische Region darauf reagieren?
    Dreyer: Die Europäische Union sollte sehr klar diese Dinge benennen, auch Namen nennen. Im Fall Deniz Yücel passiert das ja von deutscher Seite erfreulich, aber der ist die Spitze des Eisberges. Es gibt rund 150 andere Journalisten, die auch im Gefängnis sitzen, und von sehr vielen Fällen ist einfach sonnenklar, dass die wegen ihrer journalistischen Arbeit da sitzen. Alles was Druck erzeugt, um diese Leute herauszubekommen, und auch die vielen anderen, die Verfahren laufen haben, das ist, glaube ich, angebracht.
    Dobovisek: Nur mahnende Worte reichen ganz offensichtlich nicht.
    Dreyer: Na ja, es gehört auch Druck dazu, diplomatischer Druck, und der ist immer dann gut, wenn er auch unterfüttert ist mit Machtmitteln. Das heißt nicht, dass die Türkei dann sofort die Hacken zusammenschlägt, aber klare Worte und eine konsistente Politik, die dann auch diesen Worten gegebenenfalls, wenn sich da überhaupt nichts tut, Taten folgen lässt, ist da immer schon sehr hilfreich.
    Dobovisek: Die Türkei auf Platz 155, weltweit ein Indexrang, und Chartlisten, das klingt immer gut und plakativ. Bei Reporter ohne Grenzen vergeben Sie für jedes Land Punkte. Wie ermitteln Sie diese Punkte?
    Dreyer: Dahinter steckt ein ziemlich umfangreicher Fragebogen mit, ich glaube, 87 Fragen, oder 71, eine ganze Menge Fragen und auch Unterpunkten. Der wird an einige hundert Experten weltweit verschickt, die dann jeweils für die einzelnen Länder beantworten, wie es dort um Finanzierungsmöglichkeiten von Medien steht, um die Rechtsstaatlichkeit, um die Möglichkeit, frei von Einflussnahme zu berichten, überhaupt den Zugang zum Journalismus, also eine ganze Latte von Fragen. Das fließt alles ein in sechs thematische Kategorien, die dann jeweils eine Punktzahl kriegen, und die werden zusammengerechnet, und es kommt noch dazu eine Kategorie für solche Dinge wie verhaftete Journalisten, auch gewalttätige Übergriffe, im schlimmsten Fall Morde an Journalisten. Das wird dann alles gewichtet und daraus ergibt sich eine Gesamtpunktzahl und im Verhältnis zueinander ergeben die dann diese Platzierung auf der Rangliste.
    Dobovisek: Und genau auf dieser Rangliste steht Norwegen auf Platz eins, Deutschland dagegen auf Platz 16. Was läuft bei den Norwegern besser als bei uns?
    Dreyer: Ein Punkt, den die Skandinavier traditionell sehr viel besser machen als wir, ist Informationsfreiheit, das Recht auf Zugang zu Behördeninformationen, Behördenakten. Das gibt es in Deutschland inzwischen auch. Seit, ich glaube, elf Jahren gibt es ein Bundesgesetz darüber, auch in einigen Ländern, aber die sind immer noch nicht sehr weitreichend im internationalen Vergleich. Es gibt immer noch ziemlich viele Ausnahmemöglichkeiten, zum Beispiel Informationen zurückzuhalten, weil dadurch irgendwelche Geschäftsgeheimnisse von Unternehmen berührt würden. Manchmal muss man jahrelang erst vor Gericht ziehen, um dann irgendwie eine nicht besonders hilfreiche und nicht sehr weitreichende Auskunft zu bekommen, und das ist in Skandinavien, in Norwegen zum Beispiel sehr viel weiterentwickelt.
    "Privaten Medien werden ziemlich systematisch Anzeigen verwehrt von staatlichen Stellen"
    Dobovisek: Erdogan in der Türkei, Trump in den USA, Lügenpresse-Vorwürfe hier in Deutschland. Ist denn Populismus eine Gefahr für die Pressefreiheit?
    Dreyer: Ja, durchaus. Das ist in einer ganzen Reihe von Ländern zu beobachten. Ein paar haben Sie genannt, auch Polen zum Beispiel würde ich dazurechnen, Ungarn. Zum einen ist es diese Rhetorik, die Medien und Journalisten systematisch schlecht macht und versucht zu delegitimieren und diese Rolle, einfach Kritik zu üben, Dinge zu hinterfragen, die eine wichtige Funktion ist in der Demokratie und in einer pluralistischen Gesellschaft, in Zweifel zieht. Und dort, wo Politiker, die so einen Diskurs betreiben, das Sagen haben, zum Beispiel in Polen oder in Ungarn, werden dann auch im Laufe der Zeit die entsprechenden Gesetze gemacht, die das tatsächlich auch in praktische Konsequenzen gießen. In Polen beobachten wir, dass der öffentliche Rundfunk ja schon inzwischen sehr an die Kandare genommen wurde und sehr stark staatlich kontrolliert wird. Privaten Medien werden ziemlich systematisch Anzeigen verwehrt von staatlichen Stellen, die eine wichtige Einnahmequelle sind. Es gibt diese Überlegungen, Medien auch zu repolonisieren, wovon gerade deutsche Verlage auch stark betroffen wären, die dann sehr aktiv sind. Das sind alles solche Dinge, die mit diesem Diskurs zusammenhängen und die zeigen, dass das nicht im luftleeren Raum passiert und berechtigte Kritik ist.
    Dobovisek: Welche Verantwortung tragen genau für diesen Diskurs, diesen Umgang auch mit Populismus und die Folgen daraus, die Sie jetzt auch eindrücklich beschrieben haben, wir Journalisten selbst?
    Dreyer: Ich glaube, man muss da sehr vorsichtig sein und das nicht den Journalisten in die Schuhe schieben. Natürlich gibt es auch Verfehlungen und schlechte Leistungen im Journalismus, und ich glaube, das Gute, das aus diesem Diskurs entstanden ist, den es ja auch in Deutschland schon seit einiger Zeit gibt – Sie haben das Stichwort Lügenpresse genannt -, ist mehr Selbstkritik, auch viele neue Formate. Manche Medien machen Hörerkonferenzen oder schaffen Ombudsstellen, machen transparenter, wie sie arbeiten, und machen transparenter, wenn Fehler passieren. Das sind, glaube ich, alles gute Dinge. Aber ich glaube, diese Verfehlungen oder die Fehler, die es auch gibt, kann man, glaube ich, nicht dafür verantwortlich machen, was da an Kritik passiert, sondern das passiert, glaube ich, wirklich von politisch interessierter Seite. Zum Beispiel in Frankreich im Wahlkampf hat man das jetzt gesehen, dass manche Politiker auch durchaus außerhalb des extremistischen Spektrums sich dann profilieren wollen, indem sie sich vom Mainstream abgrenzen, und dazu werden dann auch die Medien gerechnet.
    Dobovisek: Christoph Dreyer von der Organisation Reporter ohne Grenzen am internationalen Tag der Pressefreiheit. Vielen Dank für das Interview.
    Dreyer: Gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.