DLF: Haben Sie denn etwas von Ihren familiären Wurzeln in Deutschland wiederentdecken können? Ist es ein Stück Heimat geworden, oder ist das zuviel?
Primor: Nein, das keineswegs. Ich habe keinen entdeckt; das hat meine Mutter schon vorher versucht und das hat sie auch nicht tun können. Meine Mutter ist übrigens noch vor der Nazizeit nach Israel gekommen. Aber aus der Familie ist niemand geblieben; den Holocaust hat keiner überlebt. Also, Heimat nicht, Familienbeziehungen auch nicht. Nein, das sind meine Erfahrungen hier in Deutschland, meine Erfahrungen, die Erfahrungen meiner Familie – also meiner Frau und meines Sohnes – hier in Deutschland. Das ist für mich Deutschland heute, und nicht die Vergangenheit.
DLF: Deutschland ist im Umbruch, Herr Botschafter. Knapp zehn Jahre nach der Vereinigung kam der politische Wechsel im vergangenen Herbst. Jetzt kommt auch der geographische Regierungswechsel nach Berlin. Mit welchen Gefühlen begleiten Sie den Umzug der Regierung nach Berlin, immerhin in die alte Reichshauptstadt?
Primor: Ja, also für mich und für uns überhaupt ist Berlin nicht unbedingt nur die alte Reichshauptstadt, die Hauptstadt des Dritten Reiches noch weniger. Natürlich ist Berlin als Hauptstadt des Dritten Reiches bekannt. Aus Berlin sind alle schrecklichen Sachen gekommen und so. Aber wir wissen ja, was Berlin in der Geschichte bedeutete, und Berlin hat eine sehr große Bedeutung für die Welt, für Europa und für die Juden in der Vergangenheit gehabt. Eine der wichtigsten jüdischen Gemeinden der Welt in den letzten zwei Jahrhunderten war die jüdische Gemeinschaft in Berlin. Die war nicht nur zahlreich, sondern hatte eine ganz besondere kulturelle Bedeutung gehabt, hatte eine sehr, sehr große Wirkung auf das jüdische Leben überall in der Welt gehabt. Es ging so weit, daß Herzl, der Gründer der zionistischen Bewegung vor einhundert Jahren dachte, daß die offizielle Sprache des zukünftigen jüdischen Staates, den er gründen wollte, deutsch sein sollte – wegen der Wirkung der jüdischen Gemeinschaft in Berlin, wegen der kulturellen Wirkung dieser Gemeinschaft, die so bedeutend war. Ja, jetzt ist aber für uns Berlin ein neues Kapitel, und für uns ist es nicht so, wie für alle anderen, die nach Berlin zurückkehrten. Also, vor dem Zweiten Weltkrieg hatten wir noch keinen Staat gehabt und deshalb haben wir keine diplomatischen Beziehungen gehabt, und nach dem Zweiten Weltkrieg hatten wir keine Beziehungen zur DDR gehabt, die uns nie anerkennen wollte. Also haben wir überhaupt nie eine Vertretung in Berlin gehabt, nie eine Botschaft in Berlin gehabt. Alles für uns bedeutete Bonn. Unsere Bekanntschaft mit Deutschland, die ersten Kontakte, die ersten Beziehungen, die Entwicklung der Beziehungen zwischen Deutschland und Israel – das wurde alles durch Bonn erzielt. Für uns ist das ein ganz neues Kapitel. Ich glaube, daß das eine sehr schöne Herausforderung für uns ist und Berlin eine wunderbare Stadt ist.
DLF: Dieser Wechsel nach Berlin: Könnte es sein, daß er als ein Symbol für eine neue Rolle Deutschlands steht – gewissermaßen der Abschied von der Bonner Bescheidenheit des Provisoriums in eine Berliner Republik des neuen Selbstbewußtseins?
Primor: Ich weiß das nicht, das sagt man so überall, man sagt es in Deutschland, man sagt es auch in Europa – nicht immer mit Begeisterung, manches Mal mit Angst, mit Beklommenheit. Ich empfinde es gar nicht so. Die Frage ist, ob Deutschland als Land, als Nation, als Staat sich verändern wird. Und was ist heute für mich das Wichtigste in Deutschland? Zunächst einmal, daß Deutschland europäisch geworden ist oder europäisch wird. Das wird meiner Meinung nach bleiben. Diese Geschichte, daß Berlin 100 km von Polen liegt, während Bonn nicht weit von der französischen oder belgischen Grenze liegt – was für eine Bedeutung hat das heute? Zweitens ist Deutschland ein dezentralisiertes Land wie kein anderes. Ich weiß: Dessen sind sich die Deutschen nicht so sehr bewußt. Die Deutschen wissen, daß sie eine Föderation haben, die auch sehr bedeutend ist. Sie wissen nicht, wie sehr dieses Land – mit anderen Föderationen verglichen – dezentralisiert ist, wie sehr der Bund in einer dezentralisierten Art und Weise funktioniert. Das ist für Deutschland ein Segen. Ich hoffe, daß sich das in Berlin nicht ändern wird.
DLF: Dieser Wechsel nach Berlin geht einher mit einem Generationswechsel der Politiker in Regierungsverantwortung; die Generation Gerhard Schröders hat den Krieg nicht mehr aktiv erlebt. Es ist die Generation nach dem Holocaust. Ist damit ein neuer Blick auf Geschichte verbunden unter Umständen?
Primor: Ja, das ist eine Frage, die die Israelis mir sehr oft stellen. Also, nach dem Regierungswechsel voriges Jahr hat man mir sehr oft gesagt: Es geht nicht nur um Personen. Da kommt wirklich die Frage der Generationen, so wie Sie sie stellen. Und ich sage: Die Frage der Generationen ist gar nicht düster, wie man das sehr oft darstellt. Das heißt nicht, daß - weil diese Leute den Krieg nicht erlebt haben, weil sie nicht persönlich die Erfahrungen der Nazizeit gemacht haben - daß sie eine andere Einstellung haben. Ganz im Gegenteil – wenn überhaupt – ganz im Gegenteil: Je jünger die Generationen in Deutschland, desto mehr interessieren sie sich für die Vergangenheit, desto weniger verdrängen sie die Vergangenheit. Und die Frage der Verdrängung war für uns immer die Hauptfrage in den Beziehungen zwischen Israel und Deutschland. Jahrelang hatten wir die größten Schwierigkeiten mit den Deutschen gehabt, weil die Deutschen die Vergangenheit verdrängt haben. Da haben wir gesagt: Mit Menschen, die verdrängen, kann man keinen ehrlichen Dialog führen, keinen offenen Dialog führen; dann bleibt der Dialog ganz oberflächlich. Und überhaupt: Mit Menschen, die mit einer Leiche im Keller leben – ja, das sind Leute, die nicht ruhig schlafen können, das sind Leute, die verkrampft sind. Mit denen kann man keine Freundschaft anknüpfen. Das hat sich mit der Zeit in Deutschland verändert, und je jünger die Generationen, desto normaler sind sie, desto mehr interessieren sie sich für die Vergangenheit ohne Beklommenheit.
DLF: Erst in diesen Tagen ist die Entscheidung über das Holocaust-Mahnmal gefallen, Herr Primor. Nun wird das symbolische Gräberfeld aus 2.700 Stelen nach dem Entwurf des amerikanischen Architekten Peter Eisenman gebaut. Ist die Debatte um das Holocaust-Mahnmal in Berlin für Sie ein Beispiel für den verantwortungsvollen Umgang mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte?
Primor: Also, ich werde Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich habe noch nie eine Meinung über das Mahnmal oder über die Debatte über das Mahnmal geäußert, und das werde ich heute auch nicht tun. Ich glaube nicht, daß es uns Israelis zusteht, uns in diese Debatte einzumischen. Worum geht es hier? Es geht um die Art und Weise, wie sich die Deutschen an die Vergangenheit erinnern wollen, wie sie die Vergangenheit wahrnehmen wollen, wie sie sie zur Kenntnis nehmen wollen, wie sie sie den künftigen Generationen übermitteln wollen. Die Tatsache, daß die Deutschen sich damit beschäftigen, daß sie sich darum kümmern, ist für uns höchst erfreulich. Es ist genau das, was ich vorher sagte in bezug auf Verdrängung, daß die Deutschen die Vergangenheit nicht nur nicht mehr verdrängen, sondern sich ganz aktiv damit beschäftigen, wie man die Vergangenheit zur Kenntnis nehmen soll und wie man aus der Vergangenheit eine Lehre ziehen soll, Konsequenzen ziehen soll. Die Tatsache, daß die Deutschen es machen, ist wunderbar. Wie die Deutschen das machen, ob sie ein Mahnmal in Berlin errichten wollen oder eher das Geld in den ehemaligen KZs, die heute Museen sind, investieren wollen, ob sie in Berlin ein Mahnmal errichten wollen, so oder so, und wie es aussehen soll, mit einem Studienzentrum oder mit einem Museum oder ohne Museum: In diese Frage werden wir uns nicht einmischen. Die Tatsache, daß die Deutschen es tun, daß sie sich damit beschäftigen, daß sie jahrelang darüber gesprochen haben und so intensiv, ohne jegliche Gleichgültigkeit – wie es mal in der Vergangenheit war –, war bei uns das erfreuliche Ergebnis. Und damit geben wir uns vollkommen zufrieden.
DLF: Es gab Vorbehalte in Berlin, vorgebracht vor allem vom Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen. Er hat davon gesprochen, Berlin dürfe nicht zur 'Hauptstadt der Reue' werden. Wie haben Sie das verfolgt? Wie haben Sie darauf reagiert?
Primor: Also, wenn Berlin die Hauptstadt sein will, dann trägt Berlin eine besondere Verantwortung. Die Stadt Berlin, die eine Hauptstadt ist, ist nicht mehr die Stadt Berlin, die man vor der Wende kannte. Diese Stadt trägt heute eine ganz andere Verantwortung in vielen Bereichen, unter anderem auch im Zusammenhang der Vergangenheit, der deutschen Vergangenheit. Das war ja die Hauptstadt des Dritten Reiches, das kann man auch nicht vergessen.
DLF: Glauben Sie, daß die Bevölkerung das Mahnmal annehmen wird in Berlin?
Primor: Ich bin fest davon überzeugt, weil – wie gesagt – die Bevölkerung, besonders die jüngeren Generationen – und wenn ich von jüngeren Generationen spreche, dann meine ich nicht die Leute, die 15-20 Jahre alt sind, ich meine die Leute, die auch 60 Jahre alt sind, also die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgewachsen sind – die interessieren sich für die Vergangenheit zunehmend und ernsthaft. Und deshalb glaube ich, daß sie auch das Mahnmal annehmen werden und ernsthaft annehmen werden.
DLF: Ich darf vielleicht ein bißchen suggestiv fragen: Wäre denn die Glaubwürdigkeit dieser Mahnmal-Debatte größer, wenn den Worten nun endlich Taten folgen würden – in dem Sinne, daß es nun auch eine Regelung für die Entschädigung der Zwangsarbeiter geben muß im Nationalsozialismus?
Primor: Ja, ich glaube, daß auch diese Frage ernsthaft debattiert wird. Natürlich muß man die Zwangsarbeiter und besonders die Sklavenarbeiter entschädigen - die wenigen, die noch leben. Es gibt ja sehr wenige. Das ist Teil der Entschädigung für Naziopfer. Und wenn es da noch Lücken gibt – und die gibt es leider –, die muß man jetzt erfüllen.
DLF: Haben Sie Verständnis, Herr Primor, für die Interessen der deutschen Unternehmen, die da sagen: Wir wollen Rechtssicherheit haben, wir wollen Einzel- oder Sammelklagen in Zukunft ausschließen. Das ist der Grund, weshalb die Gespräche seit Monaten laufen, ohne daß es konkrete Ergebnisse gibt?
Primor: Wenn man so etwas schaffen kann – weiß ich eben nicht –, kann man sicher sein, daß es keine Lücken mehr geben wird, nachdem man einen Vertrag unterzeichnen wird? Es gibt doch immer Leute, die nicht wissen, daß es ihnen zusteht, Entschädigungen zu bekommen. Es gibt Leute, die krank sind, die Pflege brauchen, weil sie damals so gelitten haben. Kann man das wirklich so hermetisch schließen, kann man so ein Paket so endgültig schnüren? Ich weiß nicht. Wenn man es kann, wäre es sehr gut - aber wenn nicht, muß man auch auf diese Leute Rücksicht nehmen.
DLF: Der SPIEGEL hat im vergangenen Jahr getitelt: "Ist die Schuld verjährt?" Stehen denn diese Mahnmal- und Entschädigungsdebatten letztendlich nicht doch unter dem Vorzeichen: Laßt uns einen Schlußstrich ziehen – Herr Primor?
Primor: Ja, einen Schlußstrich: Das haben sich Menschen in Deutschland erwünscht seit 1946 schon. Schon 1946 hat man von einem Schlußstrich gesprochen; darüber wird immer wieder gesprochen. Besonders war es sehr bedeutend am Ende des Jahres 1995, nachdem man das 50. Jahr des Ende des Krieges mit so viel Würde und Intensivität in Deutschland begangen hat, gab es viele Leute, die sagten: 'Ja, aber jetzt nach so einem Jahr und 50 Jahre nach dem Krieg wollen wir einen Schlußstrich ziehen'. Darüber kann man tausend mal sprechen und debattieren: Das geht aber nicht. Nicht, weil man es rechtfertigen kann oder nicht rechtfertigen kann. Nur ganz einfach, schlicht und einfach: Weil ein Schlußstrich in der Geschichte nicht uns Menschen zusteht. Wir können das nicht. Das bestimmt die Geschichte mit dem geschichtlichen Rückblick. Wann und wie das geschehen wird, wissen wir nicht. Die Menschen, die sich einen Schlußstrich wünschen, die kann ich verstehen. Die werden es aber nicht erreichen, weil das die Frage der Historie ist.
DLF: Wir alle erinnern uns an die Rede Martin Walsers zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im vergangenen Jahr. Er hat davor gewarnt, Auschwitz zu instrumentalisieren, zur Drohkulisse werden zu lassen, zur Moralkeule oder auch nur zur Pflichtübung. War diese Debatte ein Teil der Schlußstrichdiskussion?
Primor: Ich dachte – als ich die Rede gehört habe –, daß das ein Versuch war, einen Schlußstrich zu ziehen. Wenn der Herr Walser von 'wegschauen' spricht – er sagte: 'Wenn ich Berichte im Fernsehen über Naziverbrechen sehe, dann schaue ich weg'. Das Wegschauen, das war doch ein Hauptproblem während der Nazizeit. Nicht alle Deutschen waren Nazis, aber die meisten haben weggeschaut, und das war doch das Hauptproblem. Wenn er davon spricht, dann dachte ich, er würde damit meinen, tatsächlich wieder zu verdrängen und ganz bestimmt einen Schlußstrich zu ziehen. Nur – dann habe ich erfahren, daß viele junge Leute in Deutschland den Walser anders verstanden haben. Die haben seine Rede als einen Protest gegen eine Ritualisierung der Erinnerung verstanden. Und das ist eher positiv. Wenn die Leute sagen: Wir müssen uns an die Vergangenheit erinnern, aber nicht so, wie es heute gemacht wird, in einer wirksamen Art und Weise – dann ist es eher positiv.
DLF: Nach dem Kosovo-Krieg könnte man natürlich fragen: Hat Walser mit seiner Warnung, Auschwitz zu instrumentalisieren, nicht doch recht behalten. So, wie sich Deutschland unter Berufung auf 'nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz' über fünf Jahrzehnte lang nicht an kriegerischen Auseinandersetzungen beteiligt hat, so zog Deutschland unter Berufung auf 'nie wieder Auschwitz' erstmals in den Krieg. Wird Auschwitz nicht doch zum moralischen Instrument der Politik gemacht?
Primor: Ja, das kann ein positives wie ein negatives Instrument sein. Wenn die Schlußfolgerung der Instrumentalisierung von Auschwitz bedeutet, daß man sich aktiv gegen Völkermord einsetzt, dann ist es sehr positiv. Das hängt davon ab, wie man das instrumentalisiert. Ich glaube, daß Walser eine ganz andere Idee damals hatte, obwohl ich nie richtig verstanden habe, was er genau sagen wollte. Und deshalb gibt es auch so viele Interpretationen der Rede. Ich glaube, daß er sagte: 'Laßt uns in Ruhe mit dieser Geschichte von Auschwitz, genug damit'. So habe ich es verstanden. Aber wenn man sagt: 'Wir müssen die Geschichte von Auschwitz zur Kenntnis nehmen und daraus Konsequenzen ziehen, nämlich alles mögliche tun, um solche schrecklichen Sachen zu verhindern', dann ist es sehr positiv.
DLF: Herr Botschafter, hinter allem steht die schwierige Frage nach dem Umgang mit der Schuld. Was sollen die Deutschen der zweiten Generation ihren Kindern in der dritten, in der vierten Generation sagen?
Primor: Also, es gibt keine Schuld mehr. Die Frage der Schuld ist schon längst überholt. Wer soll heute noch eine Schuld tragen? Ja, es gibt noch irgendwelche Greise, die immer noch auf ihre Tätigkeit in der SS stolz sind. Aber das sind eher Anekdoten – diese Leute. Nein, die Deutschen tragen keine Schuld, das ist selbstverständlich. Besonders die Generationen, die in der Nachkriegszeit geboren sind und aufgewachsen sind, die sind doch alle von demokratischen Ideen und Werten geprägt. Damit sind sie aufgewachsen. Das ist doch heute eine ganz andere Bevölkerung mit anderen Werten und Ideen und so.
DLF: Aber wenn in Sachsen-Anhalt fast 13 Prozent der Wähler DVU wählen, und davon 30 Prozent Jungwähler sind: Ist da nicht doch etwas schiefgelaufen?
Primor: Ich spreche von 50 – 54 Jahren demokratischer Erziehung. Das haben die Leute in Sachsen-Anhalt nicht bekommen. Das ist es eben. Ich spreche von der alten Bundesrepublik, da brauchte man ja auch sehr viel Zeit, bis die Leute mit den neuen Werten aufwachsen, bis eine neue Generation der Lehrer an die Schulen kommt. Das braucht auch ein bißchen Zeit in den neuen Bundesländern. Dort haben sie damit erst vor 8 – 9 Jahren begonnen. Das geht nicht so schnell. Das ist eine Frage der Erziehung, nicht der Propaganda. Aber ich sage: Schuld gibt es nicht, es gibt die Frage der Verantwortung, Verantwortung für die Zukunft. Das betrachte ich übrigens als eine gemeinsame Verantwortung – der Israelis und der Deutschen. Das sollen wir ja zusammen machen. Wir tragen auch eine Verantwortung - aus anderen Gründen - für die Zukunft. Das müssen wir zusammen machen, um die Zukunft zu gewährleisten.
DLF: Bundespräsident Roman Herzog hat am 24. Mai 1995 gesagt: 'Ich werde immer wieder gefragt, ob es denn nicht zwischen Israel und Deutschland längst normale Beziehungen gibt, und ich sage darauf immer 'nein', normal sind die Beziehungen nicht, dazu trennt uns aus der Geschichte zu viel'. Werden die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel jemals normal sein können?
Primor: Ich weiß nicht, was 'normal' in internationalen Beziehungen überhaupt bedeutet. Die sind ja so unterschiedlich – von einem Land zum anderen – und ändern sich ununterbrochen. Aber ich würde sagen, daß die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel so gut geworden sind, daß wir immer sagen, daß Deutschland heute unser größter Freund in der Welt nach den Vereinigten Staaten geworden ist, das Land, mit dem wir am meisten kooperieren, und dies in jedem Bereich. Aber es ist eine gewisse Empfindlichkeit noch bestehen geblieben: Wenn Deutschland zum Beispiel einem blutrünstigen Diktator wie Saddam Hussein Hilfe leistet – Deutschland hat’s nicht gemacht, es gab manche deutsche Unternehmer, die das machen –, da gibt es bei uns sofort einen Aufschrei, und die Leute sagen: 'Wieso können ausgerechnet die Deutschen so etwas nicht verstehen, daß man einem blutrünstigen Diktator, der ganz offen sagt, daß er uns vernichten will, keine Hilfe leisten soll. Ausgerechnet die Deutschen, die sollen es besser wissen'. Also, diese Empfindlichkeit ist noch bestehen geblieben, und das braucht noch Zeit. Aber Normalität bedeutet: Wenn man 'normal' ist, das heißt, wenn man offen ist, ehrlich ist, nichts mehr verdrängt, dann führt man auch mit dem anderen einen normalen Dialog, weil man nichts zu verschleiern hat. Das – glaube ich – sind die Deutschen heute geworden.
DLF: Ein Wort noch zum Nahen Osten, Herr Primor. Auch in Israel hat es eine politische Wende gegeben. Im Mai wurde Benjamin Netanyahu abgewählt. Der neue Ministerpräsident heißt Ehud Barak. Wird die Geschichte jetzt korrigiert, die im November 1995 mit der Ermordung Yitzhak Rabins endete?
Primor: Man kann den Friedensprozeß beschleunigen. Das kann man. Ich habe ja immer behauptet, daß auch Netanyahu und seine Regierung und sein Umfeld den Friedensprozeß nicht torpediert haben. Ich bin immer noch fest davon überzeugt. Aber sie haben ihn in einer Art und Weise geführt, die für unsere Nachbarn vielleicht nicht glaubwürdig genug war. Ich glaube, daß die neue Regierung den Friedensprozeß nicht nur beschleunigen wird, sie wird ihn auch glaubwürdiger machen. Und insofern wird es vielleicht ein bißchen besser vorwärts gehen.
DLF: Zunächst mal auf der syrischen Schiene? Es gibt ja Friedenszeichen von Seiten Hafiz al-Assads aus Damaskus.
Primor: Ja, ich wollte gerade sagen: Nicht nur mit den Palästinensern, sondern bestimmt auch mit den Syrern und mit den Libanesen – und nicht nur, weil Hafiz al-Assad sich so ausgedrückt hat.
DLF: Er hat gesagt: "Ehud Barak ist ein starker und ehrlicher Mann".
Primor: Ja, warum sagt er das und wieso weiß er das? Weil: Es gab mal eine Verhandlung zwischen dem syrischen Befehlshaber mit seinem israelischen Kollegen. Diese Verhandlungen waren sehr sachlich und sehr erfolgreich. Sie wurden nicht fortgesetzt, leider. Assad wollte sie damals nicht fortsetzen. Der israelische General, der mit dem syrischen Kollegen verhandelt hat, war Ehud Barak. Also hat Ehud Barak gute Erinnerungen an die Verhandlungen, die er mit den Syrern geführt hat – und genau so hören wir jetzt von Hafiz al-Assad, daß er auch gute Erinnerungen an die Verhandlungen mit Ehud Barak immer noch hat.
DLF: Geben Sie uns einen Zeitrahmen vor. Binnen eines Jahres möchte sich Ehud Barak mit den israelischen Truppen aus dem Südlibanon zurückgezogen haben?
Primor: Ja, aber wir wissen, daß er damit das Problem von Südlibanon, das Problem der Sicherheit der Städte und Dörfer in dem Norden von Israel nicht lösen kann. Die Lösung kommt aus Syrien, weil Syrien über Libanon herrscht. Also die Frage ist nicht nur, ob er die Truppen aus Libanon zurückzieht – das wird er auf jeden Fall machen, weil wir sowieso keine Ansprüche an libanesisches Territorium haben. Die Frage ist, ob er auch eine Verständigung mit den Syrern finden kann. Dann werden wir auch im Südlibanon Ruhe haben.
DLF: Das würde bedeuten: Rückzug von den Golan-Höhen.
Primor: Also, darüber wird verhandelt. Das ist eben das Thema, das ist das Streitobjekt. Und wir sind bereit, darüber zu verhandeln.
DLF: Herr Botschafter, Sie kehren nach Tel Aviv zurück. Was werden Sie tun?
Primor: Ich gehe wieder mal in die Universität, was ich schon mal gemacht habe. Ich werde diesmal Vizepräsident der Universität von Tel Aviv sein. Das ist heute die größte Universität, die auch sehr, sehr viel Zusammenarbeit in Sachen Wissenschaft und Forschung mit den deutschen Universitäten betreibt. Das wird mich mit Deutschland in Verbindung halten. Und darüber hinaus übernehme ich auch den Vorstandsvorsitz der Journalistenschule von Israel, eine Schule, die mit der Bertelsmann-Stiftung sehr eng verbunden ist und mit deren Journalistenschule in Hamburg. Das wird mich wiederum nochmals mit Deutschland in Verbindung halten.
DLF: Ihr Sohn Daniel war das erste israelische Diplomatenkind, das eine deutsche Schule besucht hat. Was für ein Deutschlandbild nimmt er mit nach Hause?
Primor: Ja, Deutschland ist für ihn die Heimat, nicht Israel ist für ihn die Heimat. Er war vier Jahre alt, als er nach Deutschland gekommen ist. Er wird heute zehn Jahre alt werden. Der kennt Bonn. Bonn ist seine Heimat, und alle seine Freunde sind deutsche Kinder, die mit ihm zur Schule gegangen sind. Seine Sprache – seine erste Sprache – ist heute deutsch. Er spricht deutsch erheblich besser als hebräisch. Ich glaube, daß für ihn Deutschland immer ein Teil seines Lebens bleiben wird. Und wir werden alles dafür tun, damit er die deutsche Sprache nicht nur bewahrt, sondern damit er sie auch weiter entwickelt und mit seinen Freunden in Deutschland in Verbindung bleibt. Das haben wir ihm auch versprochen.