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Prix Goncourt und Prix Renaudot
Zwei aus der Tradition gefallene Preisträger

Im Pariser Restaurant Le Drouant wurde wieder getagt, die beiden wichtigsten Literaturpreise Frankreichs sind vergeben: Eric Vuillard erhält den Prix Goncourt und der Prix Renaudot geht an Olivier Guez. Das Erstaunliche ist, dass beide Werke von der deutschen Nazi-Vergangenheit handeln.

Dirk Fuhrig im Gespräch mit Dina Netz | 06.11.2017
    Reges Treiben um Eric Vuillard, den Gewinner des Prix Goncourt 2017
    Reges Treiben um Eric Vuillard, den Gewinner des Prix Goncourt 2017 (imago stock&people)
    Dina Netz: Vor einem guten Jahr, da war Leila Slimani noch eine recht unbekannte junge Schriftstellerin, die zwei Romane veröffentlicht hatte. Leila Slimani wurde über Nacht zum Star, als ihr zweiter Roman "Chanson douce" im November vor einem Jahr überraschend mit dem wichtigsten französischen Literaturpreis Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. Die Geschichte einer Kinderfrau, die die ihr anvertrauten Kleinkinder umbringt, verkaufte sich daraufhin mehr als eine halbe Million Mal. Der Prix Goncourt katapultiert die Verkäufe der ausgezeichneten Bücher nicht nur in Frankreich in schwindelerregende Höhen; er kurbelt auch die Übersetzungen an: In Deutschland ist Slimanis Roman in diesem Sommer als "Dann schlaf auch du" erschienen. Und das ist noch nicht alles: Heute kommt die Meldung, dass Frankreichs Präsident Emmanuel Macron Leila Slimani zur "persönlichen Vertreterin des Präsidenten für die Frankophonie" ernannt hat. Der Prix Goncourt kann also auch der Startschuss für eine politische Karriere sein. Heute hat die Académie Goncourt wieder im Pariser Restaurant Le Drouant getagt. Und wenn man sich einig ist, wird der oder die Preisträger oder Preisträgerin ins Restaurant gerufen und darf aus dem Fenster winken. Dirk Fuhrig, heute hat Eric Vuillard gewunken. Worin geht es in seinem Roman "L’Ordre du Jour", für den Vuillard dieses Jahr mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wird?
    Dirk Fuhrig: "L’Ordre du Jour", das heißt ja so etwas wie "Tagesbefehl". Man hört schon den militärischen Klang, der damit zusammenhängt. Und es geht um das Militär, es geht um den Zweiten Weltkrieg, es geht um Deutschland, ganz konkret um den Anschluss Österreichs am 12. März 1938. Vuillard schildert die letzten Stunden vor dem Einmarsch der Deutschen. Da kommen vor der österreichische Kanzler Schussnig und Konsorten, also die willfährigen Politiker. Aus einer ganz persönlichen Perspektive werden die beschrieben, nicht aus der Perspektive eines Historikers, sondern aus den Kleinlichkeiten, Unentschlossenheiten, Selbstsüchtigkeiten der Individuen. Das ist das, was Eric Vuillard beschreibt, gleichzeitig auch noch die Verquickung der deutschen Industrie mit Hitler, mit den Nazis, die den Krieg ja erst möglich gemacht haben. Darum geht es in diesem Buch "Tagesbefehl".
    Eine ungewöhnliche Entscheidung für den Prix Goncourt
    Netz: Die Académie Goncourt steht ja jetzt etwas verallgemeinert in dem Ruf, eher solide erzählte als literarisch raffinierte Romane auszuzeichnen. Gilt das auch für "L’Ordre du Jour"?
    Fuhrig: Auf den ersten Blick gilt das überhaupt nicht dafür. Das ist eine Auswahl, die komplett dem entgegensteht, was Sie gerade geschildert haben, dass man so große auserzählte Werke auswählt für den Prix Goncourt. Eric Vuillard, das ist ein schmales Bändchen, und wenn man die anderen drei, die im Rennen waren, am Schluss vergleicht, die anderen drei Bücher, das waren dicke Bücher von über 500 Seiten meistens oder mehr sogar. Das ist eher so eine kleine Erzählung. Aber dafür ist genau Eric Vuillard ja auch bekannt. Das ist auch ein Filmemacher und er bringt geschichtliche Momente auf so einen Punkt. Es ist wirklich so eine filmische Methode, könnte man sagen, die er in die Literatur packt: Hier dieser Moment des Anschlusses, wo er alles in ein Bild packt. Das ist sehr, sehr interessant, aber steht eigentlich den Prinzipien des Prix Goncourt, der Jury komplett gegenüber. Das ist eine ganz, ganz andere und sehr, sehr ungewöhnliche Entscheidung.
    Eher journalistische Recherche für den Prix Renaudot
    Netz: Wir müssen, Herr Fuhrig, noch über einen anderen Preis sprechen. Ebenfalls im Restaurant Drouant ist heute der Träger eines weiteren wichtigen Literaturpreises benannt worden, nämlich des Prix Renaudot. Es ist gezielt ausgleichende Gerechtigkeit, dass der Preisträger niemals identisch ist mit dem des Prix Goncourt. Gekürt wurde Olivier Guez für "La Disparition de Josef Mengele". Da geht es um das Untertauchen des Nazi-Euthanasie-Arztes in Südamerika. Das ist thematisch jedenfalls nicht die gewohnte Ergänzung des Prix Goncourt, sondern damit gehen interessanterweise zwei wichtige französische Literaturpreise an Romane, die sich mit der deutschen Geschichte beschäftigen…
    Fuhrig: Das ist wirklich sehr erstaunlich, muss ich sagen. Ich hätte nie gedacht, dass diese beiden Titel gleichzeitig die beiden großen Literaturpreise bekommen. Die Verkündung ist ja immer direkt nacheinander, wenige Minuten oder Sekunden hintereinander sogar. Dass dieser Mengele-Roman von Olivier Guez jetzt auch noch einen Preis bekommen hat, den Renaudot, das muss man wirklich als ein ganz außergewöhnliches Ereignis betrachten. Denn auch hier gilt für dieses Buch: Es ist eigentlich kein klassischer Roman, kein wirklich literarisch ausgefeilter, lange erzählter Roman, sondern es ist eine eher journalistische Recherche. Olivier Guez ist auch Journalist, in Straßburg geboren, aus einer jüdischen Familie, hat auch über die Geschichte der Juden in Deutschland bereits geschrieben, und er hat mit diesem Mengele-Buch ein Thema aufgegriffen, das in Deutschland eigentlich längst vergessen ist. Wenn Sie sich erinnern: Das war in den 70er-, 80er-Jahren. Da hat man diesen Nazi-Arzt, der in Auschwitz ja diese grauenvollen widerwärtigen Menschenexperimente durchgeführt hat, der dann nach Südamerika geflohen ist, da hat man ihn gesucht, gejagt. Aber mit seinem Tod ist das dann irgendwie in Vergessenheit geraten als Episode der Judenvernichtung. Guez holt jetzt diese Geschichte wieder nach vorne, wieder ins Rampenlicht. Das ist auch erstaunlich. Und es ist wie gesagt erstaunlich, dass das zwei Themen sind, die mit der deutschen Nazi-Vergangenheit zu tun haben, diese beiden Preise.
    Würdige Preisträger?
    Netz: Herr Fuhrig, jetzt abgesehen von der thematischen Verwandtschaft, sind Olivier Guez und Eric Vuillard, der ja in Deutschland bei Matthes & Seitz Berlin auch einen deutschen Verlag hat, sind das für Sie würdige Preisträger?
    Fuhrig: Es sind überraschende Preisträger. Ich bin erstaunt, dass die diese beiden Preise bekommen haben. Aber wenn man mal kurz hinter die Überraschung zurücktritt, muss man sagen, es sind beides natürlich schon sehr klug konstruierte, sehr packend beschriebene, pointiert beides geschriebene Werke, die aus der Tradition der beiden Preise etwas herausfallen, aber durchaus diesen Preis oder diese beiden Preise jeweils verdient haben, würde ich schon sagen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.