Donnerstag, 28. März 2024

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Prognose der Wirtschaftsweisen
"Jetzt müssen wir nach vorne schauen"

Zum Großteil gibt Carsten Linnemann, Vorsitzender CDU-Mittelstandsvereinigung, den Wirtschaftsweisen recht: Derzeit würden vorhandene Spielräume nicht für die Zukunft genutzt werden, sondern nur für die Gegenwart, sagte er im DLF. Dafür sei jedoch nicht nur die deutsche Politik verantwortlich, sondern auch geopolitische Ursachen.

Carsten Linnemann im Gespräch mit Gerd Breker | 12.11.2014
    Carsten Linnemann, Vorsitzender der CDU/CSU-Mittelstandsvereinigung, im ZDF
    Carsten Linnemann, Vorsitzender der CDU/CSU-Mittelstandsvereinigung, befürwortet die Flexirente. (dpa / Karlheinz Schindler)
    Er habe selbst dem Koalitionsvertrag nicht zugestimmt, weil die Spielräume im Haushalt nicht genutzt würden. "Wir müssten uns eigentlich jetzt die Frage stellen, was müssen wir tun, damit es uns morgen noch gut geht." In Deutschland habe man sich lange genug mit der Erweiterung des Sozialstaates beschäftigt. Es sei höchste Zeit, dass an diejenigen gedacht werde, die diesen Sozialstaat finanzieren würden.
    Linnemann forderte dazu auf Maßnahmen zugunsten der Wirtschaft zu ergreifen. So müssten zum Beispiel Anreize geschaffen werden, dass ältere Menschen länger arbeiten.

    Das Interview in voller Länge:
    Gerd Breker: So genau weiß man es noch nicht, aber die 20 Millionen Rentner dürften im nächsten Jahr um bis zu zwei Prozent mit gestiegenen Renten rechnen - im Osten etwas mehr als im Westen wird es wohl sein. Das ergibt sich aus den Zahlen der Deutschen Rentenversicherung, deren Vertreter derzeit in Würzburg tagen. Die Kassen der Rentenversicherung sind so gut gefüllt, dass nicht nur der Beitragssatz gesenkt werden kann, sondern auch die Rentenangleichung Ost-West zu einem Thema werden kann.
    Wir haben es gehört: Die vollen Rentenkassen sind wohl eher so eine Art Zwischenhoch, denn nicht zuletzt die demografische Entwicklung wird für ein Abschmelzen sorgen. Abgeschmolzen werden auch die Konjunkturerwartungen; insofern hatten die Vertreter der fünf führenden Wirtschaftsinstitute heute wenig Überraschendes zu vermelden. Die Prognosen, sie weisen bei allen nach unten. Auffällig jedoch die Deutlichkeit, mit der die Wirtschaftsweisen die Politik der Großen Koalition für diese Absenkung verantwortlich machen.
    Am Telefon sind wir nun verbunden mit Carsten Linnemann. Er ist der Bundesvorsitzende der Mittelstandsvereinigung der CDU/CSU. Guten Tag, Herr Linnemann!
    Carsten Linnemann: Guten Tag, Herr Breker.
    Breker: Die Wirtschaftsweisen - Sie haben es gehört, Herr Linnemann - stellen dieser Bundesregierung ein schlechtes Zeugnis aus.
    Linnemann: Na ja, so schlecht war es ja nun nicht. Man darf die schwarze Null beziehungsweise, dass wir jetzt mit dem Geld auskommen, was wir einnehmen - ich meine, immerhin hat man das 40 Jahre nicht geschafft -, dass das jetzt funktioniert, ist positiv der Bundesregierung anzurechnen.
    Breker: Ist aber fast das einzig Positive, Herr Linnemann, denn die Bundesregierung, die Große Koalition, die Regierung Merkel ist verantwortlich für das Absenken der Konjunkturerwartung.
    Linnemann: Es ist ein bisschen differenzierter zu sehen. Ich teile ja den Großteil dessen, was die Wirtschaftsweisen sagen, dass wir die Spielräume jetzt nicht nutzen für die Zukunft, sondern nur für die Gegenwart und dass wir uns nicht mit den wirklich wichtigen Fragen beschäftigen, wie wir in fünf, zehn oder 15 Jahren noch Wohlstand erreichen können. Aber ich wehre mich davor, dass man jetzt nur die deutsche Politik dafür verantwortlich macht. Die geopolitischen Ursachen wiegen mindestens, wenn nicht schwerer, und das sollte man nicht unter den Tisch fallen lassen. Gleichwohl gebe ich zu - und deswegen kümmern wir uns ja auch darum, auch von der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung; das ist ja auch das, was wir kritisiert haben. Ich persönlich habe dem Koalitionsvertrag genau aus diesem Grunde nicht zugestimmt, weil wir genau die Spielräume, die wir haben, jetzt nicht nutzen. Wir müssten uns eigentlich jetzt die Frage stellen, was müssen wir tun, damit es uns morgen noch gut geht. Das sind die entscheidenden Fragen und die müssen auf die Agenda und nicht das, was wir im letzten Jahr gemacht haben.
    Breker: Es klingt bei Ihnen durch, Herr Linnemann: Der gute alte Spruch von wegen "Spare in guten Zeiten, dann hast Du in der Not", der wird hier durch die Politik dieser Bundesregierung konterkariert.
    Linnemann: Also noch mal: Spare in guten Zeiten - ich muss mich noch mal wiederholen! Seit 40 Jahren versuchen wir in Deutschland, mit dem Geld auszukommen, was wir haben, und es hat nie funktioniert. Und jetzt funktioniert es! Das ist der positive Punkt. Aber es kann natürlich nicht sein, dass wir sowohl der Wirtschaft und den Leuten in Deutschland, die das Leben selbst in die Hand nehmen, morgens auf den Wecker klopfen und arbeiten gehen, das Gefühl geben, dass wir das Thema soziale Gerechtigkeit, um mal ein Beispiel zu nennen, nur noch so definieren, dass es um die Frage geht, wie können wir Transferleistungen erhöhen oder den Sozialstaat vergrößern. Da müssen wir uns dringend mal mit den Leuten wieder beschäftigen, die diesen Sozialstaat erst möglich machen und finanzieren, und das sind Arbeitnehmer, das sind Arbeitgeber, das sind Freiberufler, das sind Handwerker - ich könnte dran bleiben. Das wäre ein wichtiger Punkt, glaube ich, den man jetzt setzen muss. Die Wirtschaftsweisen haben es ja auch explizit angesprochen. Das Thema kalte Progression wäre so ein Punkt. Und dann müssen wir natürlich auch an die Investitionen denken in Verkehrsinfrastruktur und Bildung.
    Abbau der kalten Progression
    Breker: Sie haben nicht umsonst, Herr Linnemann, gerade den Konjunktiv benutzen müssen. Man müsste das tun. Man tut es aber nicht, man tut das Gegenteil: Mütterrente, Rente mit 63 und eben halt der Mindestlohn.
    Linnemann: Jetzt warten wir mal ab. Wenn Sie in den Rückspiegel schauen, so wie Sie das tun, haben Sie völlig recht. Ich muss natürlich auch nach vorne schauen. Wir haben jetzt eine große Debatte auf dem Bundesparteitag der Union Anfang Dezember in Köln über die Frage der kalten Progression, ob wir das noch in dieser Legislaturperiode angehen. Das wird eine harte Debatte und ich bin gespannt, wie die ausgeht. Ich bin guter Dinge, weil bereits ein Großteil der Mitglieder, rund 60 Kreisverbände in Deutschland, für die Beseitigung der kalten Progression noch in dieser Legislaturperiode gestimmt haben, und jetzt werden wir mal schauen auf dem Bundesparteitag der Union, wie das ausgeht. Die CSU hat sich ganz klar dafür ausgesprochen, dass man in dieser Legislaturperiode finanzwirksam den ersten Schritt beim Abbau der kalten Progression unternimmt. Also es läuft gar nicht so schlecht. Jetzt müssen wir nach vorne schauen. Darüber hinaus hat ja auch Volker Kauder, auch die Bundeskanzlerin gesagt, keine weiteren Belastungen für die Wirtschaft, und ich hoffe jetzt einfach, dass sich das auch in der täglichen Politik so jetzt niederschlägt.
    Breker: Wenn wir nicht nach vorne schauen, Herr Linnemann, sondern auf die Gegenwart, dann vermittelt die doch den Eindruck, dass die Sozialdemokratisierung der Union voranschreitet.
    Linnemann: Das darf sie nicht! Da gebe ich Ihnen recht. Ich höre das oft. Ich bin sehr viel unterwegs auf Vorträgen und so weiter. Aber das darf sie nicht, und deshalb freue ich mich ja darüber, dass es eine neue Geisteshaltung gibt, keine weiteren Belastungen mehr, und dass wir jetzt nach vorne schauen. Es gibt beispielsweise eine Gruppe hier, eine Kommission, die im nächsten Monat schon die Ergebnisse vorlegt. Da geht es um den flexiblen Renteneintritt. Flexibilität, wenn ich Rentner bin. Früher war es verboten, im Rentenalter zu arbeiten. Deswegen arbeiten auch so wenig Rentner in Deutschland. Viele wollen aber, da haben wir den ersten Schritt mit der Flexirente gemacht im Rentenpaket. Weitere müssen folgen und ich glaube, nur durch Politik im Alltag, dass wir die Dinge auch umsetzen, die wir ansprechen, ich glaube, so schaffen wir wieder Vertrauen in der Wirtschaft und auch unter den Menschen in Deutschland.
    "Schaffen wir es, unsere Industrie mit der digitalen Welt zu verschmelzen"
    Breker: Der Eindruck ist, Herr Linnemann, dass einzig Altkanzler Schröder und sein ehemaliger Sozialminister die Zeichen der Zeit erkannt haben und eine neue Reformära fordern. Sie fordern eine Agenda 2020. Aus der Union hört man das nicht!
    Linnemann: Ich sage mal, das wichtigste Thema überhaupt, wenn wir mal ehrlich sind, das allerwichtigste Thema ist meines Erachtens, dass wir am industriellen Mittelstand, an der Industrie in Deutschland festhalten und auch in Zukunft noch Produkte und Dienstleistungen produzieren, die weltweit abgenommen werden, gekauft werden. Dafür ist natürlich das digitale Thema das Thema Nummer eins: Schaffen wir es, unsere Industrie mit der digitalen Welt zu verschmelzen. Und ich glaube, dass dieses zentrale Zukunftsthema erkannt worden ist von der Bundesregierung und dass man jetzt versucht, möglichst schnell Wachstumskapital auf den Weg zu bringen für junge Start-ups, damit die sich nicht in die Maschine setzen, nach Amerika oder nach Asien oder nach Israel oder nach Schweden fliegen, um sich dort das Geld zu holen, und dann sind die weg, sondern dass in Deutschland junge Unternehmen entstehen, die in Zukunft ihre Produkte und Dienstleistungen verkaufen. Ich glaube, das ist das zentrale Thema, und die Bundesregierung hat das erkannt. Deswegen würde ich nicht alles schwarzmalen.
    Aber ja: Wir haben uns jetzt lange genug mit der Erweiterung des Sozialstaates beschäftigt. Es wird höchste Zeit, dass wir an diejenigen denken, die diesen Sozialstaat finanzieren. Da gebe ich Ihnen und gebe ich auch den Wirtschaftsweisen ausdrücklich recht.
    "Eines der zentralen Punkte ist die Beschäftigung Älterer in Deutschland"
    Breker: Wobei natürlich der demografische Wandel erkannt: Er kommt! Ob wir wollen oder nicht, er wird einfach kommen, da sein. Und dann? Wie stehen wir da?
    Linnemann: Das ist genau das, was ich eben gesagt habe. Sie haben völlig recht: Wir reden jetzt seit Jahren über den demografischen Wandel. Und die Babyboomer-Generation - das sind die Geburten, sage ich mal, zwischen 1950 und 65, über eine Million jedes Jahr; im Moment haben wir noch 600.000, 650.000 -, die gehen jetzt ab 2015, also ab nächstes Jahr in Rente, und genau dann findet der demografische Wandel statt. Und ich glaube, dass eines der zentralen Punkte die Beschäftigung Älterer in Deutschland ist. Wenn wir das schaffen, so wie die Japaner, die bis 70 durchschnittlich arbeiten - übrigens freiwillig. Da gibt es eine ganz andere Mentalität als bei uns. Dort ist Arbeit noch ein Wert! Dort sagt man, ich arbeite gerne, ich will nicht von 100 auf null. Das müssen wir in Deutschland schaffen und deswegen erhoffe ich mir gute Ergebnisse durch diese Kommission, die im Moment tagt und im nächsten Monat ihre Ergebnisse vorlegen wird.
    Breker: Es müsste sich, Herr Linnemann, aber einiges ändern. Ansonsten ist so ein Begriff wie Generationengerechtigkeit einfach nur ein Wort!
    Linnemann: Ja, aber Sie hören ja: Ich bin mir sicher, wenn wir in einem Monat telefonieren, dass es da Punkte gibt. Es gibt zum Beispiel einen Punkt, dass man nur bis 450 Euro arbeiten kann, wenn man in Rente gegangen ist, oder früher in Rente gegangen ist. Diese Hinzuverdienstmöglichkeiten werden wir wahrscheinlich erweitern, dass man bis zum letzten Bruttogehalt beispielsweise kommt.
    Dann ist die Frage: Was machen wir mit den Rentenversicherungsbeiträgen? Arbeitgeber müssen Rentenversicherungsbeiträge für Rentner zahlen. Die sind absurd, die müssen weg. Dann müsste man einen Bonus schaffen für Leute, damit die länger arbeiten. Das ist für mich Politik des Tages, des Alltags. Das müssen wir machen. Und es sind natürlich viele Punkte, aber wir müssen anfangen, und ich erhoffe mir einfach den ersten großen Schritt durch diese Kommission. Einen kleinen hat es schon gegeben, die Flexirente, dass man im Alter länger arbeiten kann, aber das sind alles Punkte, die wir jetzt angehen müssen, um generationengerecht zu denken.
    Zinspolitik in Deutschland und in Europa
    Breker: Und den jungen Leuten, den wird empfohlen, noch privat vorzusorgen für ihr Alter, für ihre Rente, und wir hören von den Banken, die planen Negativzinsen.
    Linnemann: Jetzt machen wir natürlich ein neues großes Fass auf. Hier sind wir natürlich auch bei der Zinspolitik nicht nur in Deutschland. Die ist ja in Europa unterwegs durch die EZB. Die Sorgen teile ich. Ich sehe auf absehbare Zeit nicht, dass diese Zinsen nennenswert steigen. Man muss immer aufpassen bei Zinsprognosen. Ich sehe es nicht, weil der Süden, vor allen Dingen Frankreich und Italien, noch viel Zeit braucht. Ich hoffe, dass sie die Zeit auch nutzen. Das heißt, wir werden weiterhin eine Situation haben in Deutschland, dass die private und die betriebliche Altersvorsorge nicht mehr so läuft wie früher. Deshalb werden wir ja auch im nächsten Jahr - im Sommer folgt ein Bericht von Herrn Schäuble, danach wird dieses Thema private und betriebliche Altersvorsorge zentrales Thema im Deutschen Bundestag, was wir da machen können, um diesem schwierigen Trend entgegenzuarbeiten.
    Breker: Also schauen wir nach vorne. - Im Deutschlandfunk war das der Bundesvorsitzende der Mittelstandsvereinigung der CDU/CSU, Carsten Linnemann. Herr Linnemann, danke für dieses Gespräch.
    Linnemann: Danke, Herr Breker.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.