Friedbert Meurer: Am Telefon begrüße ich Katherina Reiche, sie ist Brandenburgische CDU-Bundestagsabgeordnete und Bildungs- und Familienexpertin ihrer Partei. Guten Tag.
Katherina Reiche: Guten Tag.
Meurer: Halten Sie das wie andere auch für eine Zumutung, was Jörg Schönbohm gesagt hat?
Reiche: Er würde sicherlich diesen einen Satz so heute nicht mehr wiederholen, er hat heute in einer großen Brandenburger Zeitung noch einmal bekräftigt, dass ihm die Diskussion der letzten Tage sehr nachdenklich gemacht hat, aber wir alle sind immer noch vor Hilf- und Fassungslosigkeit über diesen Zivilisationsbruch, der sich dort ereignet hat und auch ich persönlich vermag diese Tragödie, die mein Vorstellungsvermögen überschreitet, noch schwer zu fassen.
Meurer: Gibt es für Sie wirklich keinen Zusammenhang zwischen dem SED-Regime der Vergangenheit und diesem Zivilisationsbruch?
Reiche: Das, was dort geschehen ist, bin ich überzeugt, ist nicht mit einem Auslöser oder einer Erklärung zu ergründen. Wir haben es dort offensichtlich nach dem, was wir wissen - und die Ermittlungen laufen ja noch - mit Alkoholismus zu tun, mit sozialem Verfall, Verwahrlosung, Verdrängung, offensichtlich ja auch dem totalen Bindungsverlust und Vereinsamung, Arbeitslosigkeit. Aber ich kann auch nicht ausschließen, dass es diktaturbedingte Deformationen gibt, aber ein solches Verbrechen mit einem singulären Aspekt zu erklären, erscheint mir zu einfach.
Meurer: Ist es wirklich so gewesen, dass es vor 1989 in der DDR Phänomene der Verwahrlosung gegeben hat, des Desinteresses an demjenigen, der neben mir in der Plattenbausiedlung wohnt und die Menschen sich weniger dafür interessiert haben?
Reiche: Generell beobachte ich in unserer Gesellschaft eine Tendenz, dass wir weniger zu unseren Mitmenschen gucken und mir scheint, dass sich dieser Trend in Ost und West verstärkt. Wir haben leider Kindsmorde in Lübeck gehabt, wir hatten sie in Graz in Österreich, wir haben aber auch Kinderschänderringe in Belgien gehabt, deren Ausmaß auch für uns alle fast nicht vorstellbar war. Ich glaube nicht, dass die Ereignisse in der DDR oder Sozialisation auch in einer ehemaligen Diktatur zu solchen Verbrechen führen. Ich kann mich erinnern, dass es immer Gebiete gab, wo eine gute Nachbarschaftshilfe existierte, aber ich weiß auch, dass es in großen Neubausiedlungen in Ost und West nicht anders auch eher die Anonymität und Vereinsamung gibt. Was mich bedrückt ist, dass wir immer mehr wegschauen, uns um unsere eigenen Dinge kümmern und nicht mehr uns getrauen, Fragen zu stellen: Was passiert dort eigentlich oder auch Einspruch zu erheben, auch zu Behörden zu gehen, das Gespräch mit den Nachbarn zu suchen. Offensichtlich ist die Angst, mit unangenehmen Dingen konfrontiert zu werden, von denen man lieber keine Kenntnis hat, größer als die Zivilcourage. Das kann man nicht einem System anlasten, das ist etwas, was die gesamte Gesellschaft berührt. Das wird übrigens auch Politik nicht alleine lösen können.
Meurer: Es betrifft Ost wie West gleichermaßen. Jetzt nennt der Hannoveraner Kriminologe Christian Pfeiffer eine Zahl: er sagt, in Ostdeutschland ist das Risiko für Kinder unter sechs Jahren, getötet zu werden, drei mal so hoch wie im Westen. Wie erklären Sie sich das?
Reiche: Er mag dafür sicherlich Statistiken haben. Mich bedrückt selber, dass wir in Brandenburg einige Vorkommnisse hatten, die Geschichte gemacht haben in der Republik und trotzdem noch einmal: Man kann einzelne Dinge wie eine ehemalige Diktatur oder auch "nur" Alkoholismus oder Arbeitslosigkeit nicht dafür verantwortlich machen. Am Ende sind es nämlich die Menschen und die Personen selbst. Wo war der Ehemann, wo waren die Kinder und Nachbarn. Das hat meines Erachtens nichts damit zu tun, wo jeder aufgewachsen ist, sondern etwas mit Herzensbildung, mit einem natürlichen Interesse an meinen Mitmenschen. Und wenn das verkümmert in unserer Gesellschaft, dann ist es um uns nicht mehr gut bestellt.
Meurer: Ist diese Herzensbildung auch wegen der hohen Arbeitslosigkeit verkümmert?
Reiche: Ich glaube, dass Menschen, die ohne Arbeit sind, sich ausgegrenzt fühlen. Uns oder mir geht es darum, was können wir in Zukunft tun? Insofern werden wir uns überlegen müssen, wie unsere Jugendhilfe und -fürsorge reformiert wird, um solche Dinge im Kein zu ersticken.
Katherina Reiche: Guten Tag.
Meurer: Halten Sie das wie andere auch für eine Zumutung, was Jörg Schönbohm gesagt hat?
Reiche: Er würde sicherlich diesen einen Satz so heute nicht mehr wiederholen, er hat heute in einer großen Brandenburger Zeitung noch einmal bekräftigt, dass ihm die Diskussion der letzten Tage sehr nachdenklich gemacht hat, aber wir alle sind immer noch vor Hilf- und Fassungslosigkeit über diesen Zivilisationsbruch, der sich dort ereignet hat und auch ich persönlich vermag diese Tragödie, die mein Vorstellungsvermögen überschreitet, noch schwer zu fassen.
Meurer: Gibt es für Sie wirklich keinen Zusammenhang zwischen dem SED-Regime der Vergangenheit und diesem Zivilisationsbruch?
Reiche: Das, was dort geschehen ist, bin ich überzeugt, ist nicht mit einem Auslöser oder einer Erklärung zu ergründen. Wir haben es dort offensichtlich nach dem, was wir wissen - und die Ermittlungen laufen ja noch - mit Alkoholismus zu tun, mit sozialem Verfall, Verwahrlosung, Verdrängung, offensichtlich ja auch dem totalen Bindungsverlust und Vereinsamung, Arbeitslosigkeit. Aber ich kann auch nicht ausschließen, dass es diktaturbedingte Deformationen gibt, aber ein solches Verbrechen mit einem singulären Aspekt zu erklären, erscheint mir zu einfach.
Meurer: Ist es wirklich so gewesen, dass es vor 1989 in der DDR Phänomene der Verwahrlosung gegeben hat, des Desinteresses an demjenigen, der neben mir in der Plattenbausiedlung wohnt und die Menschen sich weniger dafür interessiert haben?
Reiche: Generell beobachte ich in unserer Gesellschaft eine Tendenz, dass wir weniger zu unseren Mitmenschen gucken und mir scheint, dass sich dieser Trend in Ost und West verstärkt. Wir haben leider Kindsmorde in Lübeck gehabt, wir hatten sie in Graz in Österreich, wir haben aber auch Kinderschänderringe in Belgien gehabt, deren Ausmaß auch für uns alle fast nicht vorstellbar war. Ich glaube nicht, dass die Ereignisse in der DDR oder Sozialisation auch in einer ehemaligen Diktatur zu solchen Verbrechen führen. Ich kann mich erinnern, dass es immer Gebiete gab, wo eine gute Nachbarschaftshilfe existierte, aber ich weiß auch, dass es in großen Neubausiedlungen in Ost und West nicht anders auch eher die Anonymität und Vereinsamung gibt. Was mich bedrückt ist, dass wir immer mehr wegschauen, uns um unsere eigenen Dinge kümmern und nicht mehr uns getrauen, Fragen zu stellen: Was passiert dort eigentlich oder auch Einspruch zu erheben, auch zu Behörden zu gehen, das Gespräch mit den Nachbarn zu suchen. Offensichtlich ist die Angst, mit unangenehmen Dingen konfrontiert zu werden, von denen man lieber keine Kenntnis hat, größer als die Zivilcourage. Das kann man nicht einem System anlasten, das ist etwas, was die gesamte Gesellschaft berührt. Das wird übrigens auch Politik nicht alleine lösen können.
Meurer: Es betrifft Ost wie West gleichermaßen. Jetzt nennt der Hannoveraner Kriminologe Christian Pfeiffer eine Zahl: er sagt, in Ostdeutschland ist das Risiko für Kinder unter sechs Jahren, getötet zu werden, drei mal so hoch wie im Westen. Wie erklären Sie sich das?
Reiche: Er mag dafür sicherlich Statistiken haben. Mich bedrückt selber, dass wir in Brandenburg einige Vorkommnisse hatten, die Geschichte gemacht haben in der Republik und trotzdem noch einmal: Man kann einzelne Dinge wie eine ehemalige Diktatur oder auch "nur" Alkoholismus oder Arbeitslosigkeit nicht dafür verantwortlich machen. Am Ende sind es nämlich die Menschen und die Personen selbst. Wo war der Ehemann, wo waren die Kinder und Nachbarn. Das hat meines Erachtens nichts damit zu tun, wo jeder aufgewachsen ist, sondern etwas mit Herzensbildung, mit einem natürlichen Interesse an meinen Mitmenschen. Und wenn das verkümmert in unserer Gesellschaft, dann ist es um uns nicht mehr gut bestellt.
Meurer: Ist diese Herzensbildung auch wegen der hohen Arbeitslosigkeit verkümmert?
Reiche: Ich glaube, dass Menschen, die ohne Arbeit sind, sich ausgegrenzt fühlen. Uns oder mir geht es darum, was können wir in Zukunft tun? Insofern werden wir uns überlegen müssen, wie unsere Jugendhilfe und -fürsorge reformiert wird, um solche Dinge im Kein zu ersticken.