
"Im Frühling liebe ich die Morgendämmerung, wenn das Licht allmählich wiederkehrt, die Umrisse der Berge sich schwach vor dem hellen Himmel abzeichnen und schmale, rosa angehauchte Wolkenstreifen über sie hinwegziehen. Im Sommer sind es die Nächte, besonders die Mondscheinnächte, die es mir angetan haben. Im Herbst ist es die Abendstunde, wenn die noch kräftige Abendsonne sich immer mehr den Berggipfeln nähert. Im Winter mag ich den frühen Morgen. Vor allem, wenn Schnee gefallen ist oder Raureif alles weiß verziert."
Klassisches Genre der Zuihitsu-Literatur, "die dem Pinsel folgt"
Mit diesem zart hingetupften Jahreszeitenbild beginnt das berühmte "Kopfkissenbuch" der Hofdame Sei Shonagon. Als in Europa finsterstes Mittelalter herrscht, schreibt sie um die Jahrtausendwende im fernen Japan ihr Makura no soshi. Es ist die Zeit der japanischen Klassik, die von 794 bis 1185 währende Heian-Zeit, in der sich die japanische Literatur zu ihrer ersten hohen Blüte entwickelt. Neben Roman und Erzählung entsteht als besonderes Genre die sog. Zuihitsu-Literatur. Zuihitsu bedeutet "dem Pinsel folgend" und bezeichnet eine essayistische Literaturform, die aus spontaner Eingebung heraus Eindrücke, Empfindungen, Gedanken "in den Pinsel fließen lässt". Ein zuihitsu kann aus einzelnen Wörtern, kurzen Notizen, pointierten Beobachtungen, aber auch aus längeren Ausführungen bestehen, wobei sich Alltägliches mit Tiefsinnigem mischt. Als deren klassisches Meisterwerk gilt Sei Shonagons "Kopfkissenbuch", das mit seinen 325 Abschnitten jetzt zum ersten Mal vollständig in deutscher Übersetzung vorliegt. Lange hat der Leser darauf warten müssen. Erhältlich waren bisher lediglich stark gekürzte Ausgaben, meinte man doch, dem deutschen Lesepublikum nicht zuviel Japanisches zumuten zu dürfen. Ein Riesenverdienst von Übersetzer wie Verlag, dass es nun in seiner Gänze zu lesen und zu genießen ist.
"Die Jalousien des Wagens waren hochgerollt, sodass das Mondlicht bis ins Innere hineinschien. Der intensive Seidenglanz des tiefvioletten Mantels, den die Dame über ihren sieben bis acht Lagen der Hoftracht in Rosa, Weiß oder Rotpflaumenkombination trug, schimmerte im Mondlicht, ein prachtvolles Bild. Der Herr an ihrer Seite trug eine farbenfrohe Hoftracht in Ginsterkombination, Hellrot und Schneeweiß. Wegen der Helligkeit des Mondlichts glitt die Dame in den hintersten Winkel des Wagens zurück, aber der Herr zog sie immer wieder zu sich heran. Es war amüsant zu sehen, wie es sie genierte, dass man sie so erblicken könnte."
Die feudale Welt des Müßiggangs folgt einer strengen Etikette
Nicht weniger vergnüglich ist es für den Leser, dem Sei Shonagon viele erhellende Einblicke in das Innere ihrer Welt gewährt. Einer feudalen Welt, streng geregelt durch höfische Etikette, einer Welt des Müßiggangs und des hochverfeinerten Geschmacks, der noch die kleinsten Details des Lebens am Hof bestimmt – nicht zuletzt die Farbzusammenstellung der Gewänder, die bis zu zehn Lagen übereinander getragen wurden. "Im Winter Azalee, Kirschblüte, Färberdistel und Sappan, und für den Sommer Purpur und Weiß." Eine Welt, in der die Frauen eingehüllt in ihre Prachtgewänder, weißgeschminkt und mit körperlangem Haar, hinter Vorhängen und Stellschirmen tagsüber den Blicken der Welt entzogen, des nachts ihre wechselnden Liebhaber empfingen.
"In Nächten, in denen mein Liebster zu mir kommen soll, bereitet mir schon das Rauschen des Regens Herzklopfen."
Der Ablauf einer solchen Liaison war gleichfalls penibel festgelegt. Angefangen von den auf erlesenem Schreibpapier verfassten Gedichten, die durch Boten hin- und hergeschickt wurden, bis hin zu der Art und Weise, wie sich der Geliebte am Morgen zurückzuziehen hat.
"Es ist allzu ärgerlich, vom Liebsten noch vor der Zeit des Morgentaus verlassen zu werden."
Fremde Sitten und Gebräuche, doch gerade dies macht den besonderen Reiz ihrer Aufzeichnungen aus, dass sie den Leser unverstellt daran teilhaben lässt, aus den Höflingen und Hofdamen Menschen aus Fleisch und Blut macht und dem Leser hin und wieder sogar einen Blick hinter den schönen Schein ihrer Welt gestattet. Wenn es etwa um Klatsch, Eifersüchteleien oder peinliche Fauxpas bei Hofe geht oder wenn sich die Autorin darüber beklagt, dass im Sommer bei den endlosen Hofzeremonien die weiße Schminke anfängt, unschön zu zerlaufen und das Gesicht fleckig wird, oder wenn das helle Tageslicht gnadenlos enthüllt, dass sich die Damen mit Haarteilen behelfen, wenn das eigene Haar längst nicht so lang und üppig fließt, wie es idealiter sein sollte.
"Leider bin ich nicht mehr die Allerjüngste, und mein Haar ist durchaus nicht auf ganzer Länge mein eigenes", gibt die Dreißigjährige freimütig zu.
Lag doch die Blüte der Frauen nach damaliger Auffassung zwischen vierzehn und sechzehn Jahren. Und immer wieder stellt man mit Erstaunen fest, wie "menschlich, allzu menschlich" vertraut trotz aller Fremdheit und Ferne ihre berühmten Aufzählungen: Was ich mag – was ich nicht mag, klingen.
Lag doch die Blüte der Frauen nach damaliger Auffassung zwischen vierzehn und sechzehn Jahren. Und immer wieder stellt man mit Erstaunen fest, wie "menschlich, allzu menschlich" vertraut trotz aller Fremdheit und Ferne ihre berühmten Aufzählungen: Was ich mag – was ich nicht mag, klingen.
"Unausstehliches
Ein Besucher, der genau dann kommt, wenn ich dringende Dinge zu erledigen habe, und dann endlos daher schwatzt.
Worüber ich mich totärgern könnte
Wenn mir bei einem Brief der eine oder andere viel treffendere Ausdruck erst einfällt, wenn ich ihn schon weggeschickt habe.
Peinliches
Über jemanden tratschen, ohne zu ahnen, dass der Betreffende mithört.
Liebreizendes
Klitzekleine Malvenblüten.
Was es leider nur selten gibt
Auch unter Frauen kommt es nur höchst selten vor, dass eine innig beschworene Freundschaft tatsächlich auch bis zum Ende überdauert, von Beziehungen zwischen Mann und Frau ganz zu schweigen.
Was mich freut
Wenn ein Gedicht, das ich zu einem festlichen Anlass oder beim Gedichtwechsel mit anderen Personen verfasst habe, gepriesen wird."
Ein Besucher, der genau dann kommt, wenn ich dringende Dinge zu erledigen habe, und dann endlos daher schwatzt.
Worüber ich mich totärgern könnte
Wenn mir bei einem Brief der eine oder andere viel treffendere Ausdruck erst einfällt, wenn ich ihn schon weggeschickt habe.
Peinliches
Über jemanden tratschen, ohne zu ahnen, dass der Betreffende mithört.
Liebreizendes
Klitzekleine Malvenblüten.
Was es leider nur selten gibt
Auch unter Frauen kommt es nur höchst selten vor, dass eine innig beschworene Freundschaft tatsächlich auch bis zum Ende überdauert, von Beziehungen zwischen Mann und Frau ganz zu schweigen.
Was mich freut
Wenn ein Gedicht, das ich zu einem festlichen Anlass oder beim Gedichtwechsel mit anderen Personen verfasst habe, gepriesen wird."
Japanromantik einer Hochkultur in hervorragender Übersetzung
Geistvoll, schlagfertig, witzig und bestens bewandert in der japanischen und chinesischen Literatur beherrschte Sei Shonagon außerdem perfekt die bei Hof beliebte Kunst des Wortspiels und der literarischen Anspielung. Bereits zu ihren Lebzeiten kursierte ihr "Kopfkissenbuch" am Kaiserhof zu Kyoto. Eine hellwache Beobachterin ihrer Um- und Mitwelt, überbrücken ihre ungekünstelten Aufzeichnungen spielend den zeitlichen wie kulturellen Abstand von immerhin eintausend Jahren. Was nicht zuletzt der hervorragenden Übersetzung zu verdanken ist, die fern jeder süßlichen Japanromantik das "Kopfkissenbuch" in einer schnörkellosen, frischen Sprache zu uns hinüberbringt. Und sollte es dem Leser doch einmal zu japanisch werden, ist der detaillierte Randkommentar auf jeder Seite so hilfreich wie erhellend. Somit kann dem Leser also nichts passieren, wenn er sich dem freien Pinsel- und Gedankenfluss von Sei Shōnagon überlässt. Den Aufzeichnungen einer gebildeten Hofdame und einfühlsamen Frau, die vor unserem geistigen Auge eine hochkultivierte Welt mit ihren sehr menschlichen Bewohnern sowie eine Welt allerfeinster Stimmungen und großer Schönheit entstehen lässt.
"Wenn es um den 9. Monat die ganze Nacht geregnet hat und die Morgensonne strahlend hervorbricht, sehen die Tropfen, die die Pflanzen im Palastgarten zum Überfließen benetzen, ganz wundervoll aus. Die zerrissenen Spinnengewebe, die der Regen durchnässt hat, sehen so überaus hinreißend und prächtig aus, als habe man glitzernde Perlen daran aufgereiht. Steigt die Sonne ein wenig höher empor, fallen die Tropfen von den regenschweren Buschkleezweigen, und die Zweige wippen plötzlich hoch. Mich begeistert es, wie diese Zweige hochschnellen, obwohl kein Mensch sie angefasst hat. Aber Leute anderen Sinnes mögen an dem, was ich hier erzähle, nichts Besonderes finden. Das soll mir auch recht sein."
Kopfkissenbuch
von Sei Shonagon
Erstmals vollständig aus dem Japanischen übersetzt von Michael Stein,
Manesse Verlag Zürich, 2015
Foliengeprägter Leinenband mit zweifarbigem Schmucksatz,
384 Seiten, 59,95 Euro.
Limitierte Luxusausgabe, Leinenband mit Goldprägung in Schmuckschatulle,
384 Seiten, 120,00 Euro.
von Sei Shonagon
Erstmals vollständig aus dem Japanischen übersetzt von Michael Stein,
Manesse Verlag Zürich, 2015
Foliengeprägter Leinenband mit zweifarbigem Schmucksatz,
384 Seiten, 59,95 Euro.
Limitierte Luxusausgabe, Leinenband mit Goldprägung in Schmuckschatulle,
384 Seiten, 120,00 Euro.