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Prostitution in Berlin
Das Miteinander ist schwieriger geworden

Die Kurfürstenstraße in Berlin ist seit über 100 Jahren bekannt für ihren Straßenstrich. Doch seit einiger Zeit schlagen die Wogen hoch: Anwohner fühlen sich gestört von Müll, Fäkalien und öffentlichem Sex. Der Bezirksbürgermeister wünscht sich einen Sperrbezirk, doch der Senat hält dagegen.

Von Benjamin Dierks | 07.01.2019
    Die Kurfürstenstraße im Berliner Stadtteil Schöneberg. Hier gibt es einen Straßenstrich, der immer wieder in der Presse thematisiert wird.
    Die Kurfürstenstraße im Berliner Stadtteil Schöneberg. Hier gibt es einen Straßenstrich, der immer wieder in der Presse thematisiert wird. (dpa/ picture alliance/ M. C. Hurek)
    Stephan von Dassels wirksamste Waffe gegen den Straßenstrich misst 1,20 Meter mal 1,40 Meter, hat vier Wände aus geöltem Birkenpressholz, ein abgeschrägtes Dach und innen Multiplexplatten, die sind leicht zu reinigen. Es sind zwei Toilettenhäuschen nahe der Kurfürstenstraße, auf die der Bezirksbürgermeister von Berlin-Mitte seine Hoffnungen setzt. Ökotoiletten sind es, ohne Wasserspülung und mit Holzspänen statt mit Chemie. Stephan von Dassel preist sie in den höchsten Tönen:
    "Nach meinem Empfinden ist es wirklich faszinierend, wie wenig eine wasserlose Toilette stinken kann."
    Die Toiletten sollen dem strapazierten Kiez in Berlins Zentrum Abhilfe schaffen. Die Kurfürstenstraße steht in der Hauptstadt synonym für Straßenstrich – seit über 100 Jahren schon, aber seit einiger Zeit schlagen die Wogen hoch. Eine Bürgerbefragung des Bezirksbürgermeisters hat ergeben, dass die Anwohner sich vor allem durch Müll, Fäkalien und öffentlichen Sex gestört fühlen.
    Mit den beiden Toiletten will von Dassel zumindest dafür sorgen, dass die Notdurft seltener im Freien verrichtet wird. Geschätzte 250 Mal in der Woche würden sie benutzt, sagt er: "250 Toilettengänge, die vielleicht vorher in der Grünanlage, auf der Straße, auf dem Parkplatz von Möbel Hübner, vor Ihrer Haustür, in Ihrem Hausflur stattgefunden haben. Das muss aus meiner Sicht spürbar sein."
    Mehrheit der Bürger will einen Sperrbezirk
    Von Dassel steht vor einigen vollbesetzten Stuhlreihen in einem Kulturzentrum im Kurfürstenkiez. Er hat Anwohner aus dem Viertel zum Gespräch geladen und taxiert sie durch seine schwarze runde Brille. Der Bezirksbürgermeister hat ein Problem: Eigentlich würde er gern härter durchgreifen. Sogar einen Sperrbezirk, der die Prostitution ganz aus dem Kiez verdrängt, könnte der Grünen-Politiker sich vorstellen. Dafür stimmte auch eine Mehrheit in seiner Bürgerbefragung.
    Aber das Bezirksparlament ist dagegen, wie auch die Bezirksbürgermeisterin vom benachbarten Tempelhof-Schöneberg, die für die südliche Umgebung der Kurfürstenstraße zuständig ist. Und ohnehin kann nur der Berliner Senat einen Sperrbezirk einrichten. Und der will nicht. So muss von Dassel seinen Bürgern erklären, dass der Strich bleibt und er nur die Auswirkungen etwas abmildern kann. Das schmeckt vielen nicht: "Alles, was Sie vorgestellt haben, trägt doch eigentlich zur Stabilisierung der Sexarbeit hier im Kiez bei, damit wird ja ein optimaler Sex-Kiez hier entwickelt."
    "Ich bin jetzt nicht so furchtbar prüde, aber morgens um elf will ich noch keine nackten Hintern sehen."
    Die neuen Toiletten würden nun auch noch als "Verrichtungsbox" missbraucht. Es sei sogar schon ein Zuhälter beobachtet worden, der für die Toilettennutzung Geld verlangte.
    "Meiner Meinung nach, sage ich ganz eindeutig, sind das Kämpfe gegen Windflügel."
    "Der Zuhälter mit dem dicken Auto wird unterstützt und nicht die Frauen dort."
    "Man gewinnt wirklich den Eindruck, dass die Prostitution mehr Schutz genießt als der Bürger, der diesen ganzen Missständen ausgesetzt ist."
    Straßenprostitution als Affront
    Da hilft es auch kaum, dass von Dassel den Frauentreff Olga eingebunden hat, eine Beratungsstelle für Drogenkonsumentinnen und Sexarbeiterinnen. Die Betreiberinnen von Olga wollten bei ihren Rundgängen den Frauen am Straßenrand auch die Probleme der Anwohner nahebringen, sagt die Sozialarbeiterin Lilli Böwe: "Das heißt, sehe ich eine Frau vor einer Kirche, sehe ich eine Frau vor einer Schule, spreche ich sie darauf an, ob sie weiß, wo sie jetzt gerade steht, woran sie es merken kann, dass sie sich gerade vor einer Schule oder einer Kita aufhält."
    Mit Piktogrammen, die auf den Asphalt gesprüht werden, wollen die Sozialarbeiterinnen von Olga derlei Orte ausweisen, damit die Prostituierten dort ihre Dienste möglichst nicht anbieten und zum Beispiel Kinder nicht direkt mit ihnen konfrontiert werden. Der Stadtteil um die Kurfürstenstraße verändert sich rasant. Seit der EU-Osterweiterung stehen hier vor allem osteuropäische Frauen, häufig von Zuhältern überwacht. Ein Miteinander ist schwieriger geworden. Eigentlich soll das vor über einem Jahr verabschiedete Prostituiertenschutzgesetz Kriminalität verhindern und Frauen Schutz bieten.
    Aber die verpflichtenden Anmeldungen bleiben weit unter den Erwartungen. Und die zuständige Senatsverwaltung hat immer noch nicht die nötige Vorschrift erlassen, um die Anmeldungen überprüfen zu können. Viele neue Wohnhäuser werden gebaut im Kiez – vor allem mit teuren Wohnungen. Und wer eine solche mietet oder kauft, habe einen anderen Anspruch an seine Umgebung, sagt Gabriele Hulitschke, die sich seit 20 Jahren ehrenamtlich im Kiez engagiert: "Und dass dann eben Straßenprostitution auch die Form eines Affronts hat. Und die Anwohner, die heute hier waren, das sind nicht unbedingt die Menschen, die sich für den Kiez und den Stadtteil engagieren."
    Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel, das verspricht er, will bald wieder nachfragen, was den Anwohnern unter den Nägeln brennt. Als nächstes plant er einen gemeinsamen Spaziergang durch den Kiez.