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Proteste gegen libanesische Regierung
"Wir bleiben, bis sie gehen“

Den Ausschlag gab die Ankündigung einer Steuer für all diejenigen, die das Internet zum Telefonieren nutzen. Im Libanon gehen deshalb seit einer Woche Demonstranten auf die Straße und fordern den Rücktritt der gesamten Führungsriege. Diese sehen ihr Klientel-System in Gefahr.

Von Björn Blaschke | 24.10.2019
Die vermummte Frau mit roter Mütze blickt in die Kamera und macht mit den Fingern das Victory-Zeichen. Der Hintergrund ist schwarz von dichtem Rauch.
Wollen sich nicht mehr mit Versprechungen abspeisen lassen: Viele Demonstranten fordern einen Rücktritt der gesamten Regierung. (Hussein Malla / AP / dpa)
"Thawra" – skandieren die Protestierenden wieder – "Thawra": "Revolution".
Seit einer Woche versammeln sie sich in allen größeren Ortschaften und Städten des Libanon - und natürlich auch hier, vor dem Sitz ihrer Regierung, im Zentrum von Beirut: Sollten sie ihr Ziel erreichen, wäre es tatsächlich eine Revolution. Denn die Protestierenden fordern überwiegend friedlich den Rücktritt der gesamten libanesischen Führung: Der Staatspräsident soll gehen, der Regierungschef und sein Kabinett, der Parlamentspräsident und die Volksvertreter. Auch der 30-jährige George, ein Student, fordert:
"Schluss! Wir wollen keinen Regierungschef Hariri mehr, keinen Präsidenten Aoun. Schluss! Revolution ist Revolution."
Ausgelöst wurden die Proteste durch eine Ankündigung vorvergangene Woche. Die libanesische Regierung wollte eine neue Steuer einführen: Wer das Internet zum Telefonieren nutzt – zum Beispiel per WhatsApp -, sollte fortan sechs Dollar im Monat zahlen. Diese Idee fanden die meisten Libanesen empörend. Auch die 21-jährige Rawaan, ebenfalls Studentin:
"Was alles entfacht hat, war die Idee von der WhatsApp-Steuer. Die App gehört den Regierenden noch nicht einmal. Man muss sich das mal vorstellen! Wir haben so die Nase voll! Jeder von denen sollte abtreten. Wir brauchen eine Total-Renovierung für das ganze Land."

Die Idee von der WhatsApp-Steuer verwarf die libanesische Regierung schnell. Die Protestierenden blieben auf der Straße. Denn: Der Libanon mit seinen etwa 6,8 Millionen Einwohnern kämpft mit einer Wirtschafts- und Finanzkrise. Das Land hat die dritthöchste Schuldenquote weltweit. Dabei werfen viele Libanesen den Politikern ihres Landes vor, korrupt zu sein, Staatsgelder zu veruntreuen und Vetternwirtschaft zu betreiben. Das sagt auch der 50-jährige Bashir, ein Bankangestellter.
"Es sind alles Diebe – vom Staatspräsidenten, über den kleinsten Minister, bis runter zu den Parlamentariern: Alles Diebe!"
Regierungskritische Demonstrantinnen und Demonstranten in Beirut schwenken am 19. Oktober 2019 die Nationalflagge
Ausgelöst wurden die Proteste von einer Art WhatsApp-Steuer (AFP)
Regierungschef präsentiert Maßnahmenkatalog
Harame -Dieb: Angesichts der Massenproteste setzte Regierungschef Saad El Hariri seinem Kabinett eine 72-Stunden-Frist, um Lösungen zu finden. Nach dreitägigen Beratungen präsentierte Hariri vergangenen Montag einen Maßnahmenkatalog.
"Es wird einen Gesetzentwurf zur Wiederbeschaffung veruntreuter Staatsgelder erarbeitet. Dazu kommt vor Ende des Jahres ein Gesetzentwurf zur Einrichtung einer Kommission, die die Korruption bekämpfen soll."
Obendrein will das Kabinett die Gehälter von Ministern und Parlamentariern um die Hälfte kürzen, sowie einige Regierungseinrichtungen schließen oder zusammenlegen. Neue Steuern soll es im kommenden Jahr nicht geben, stattdessen sollen arme Familien finanzielle Unterstützung erhalten.
Den Protestierenden im Libanon reicht das nicht. Sie wollen, dass unabhängige Experten die Veruntreuungs- und Korruptionsfälle auf höchster politischer Ebene untersuchen. Dass das mit der jetzigen Führung des Landes möglich ist, ist unwahrscheinlich. Wer lässt schon gerne gegen sich selbst ermitteln? – Regierungschef Hariri scheint zu ahnen, dass seine Rede aus Sicht der Protestierenden große Schwächen hatte:
"Die Beschlüsse, die wir heute gefasst haben, entsprechen vielleicht nicht Euren Forderungen. Diese Beschlüsse haben wir aber nicht gefasst, um Euch dazu zu bewegen, nicht mehr zu demonstrieren. Ich werde nicht von Euch verlangen, die Demonstrationen zu beenden. Das ist Eure Entscheidung. Ihr dürft aber sicher sein, dass ich niemandem erlaube, Euch zu bedrohen, denn der Staat ist verpflichtet, Euch - und das Recht auf friedliche Meinungsäußerung - zu schützen."
Protestierende halten an ihren Forderungen fest
Die politische Führung des Libanon macht kleine Zugeständnisse und zeigt sich da großzügig, wo es selbstverständlich sein sollte. Letztlich will sie aber alles beim Alten belassen - an der Macht bleiben. Die Protestierenden machen nach Hariris Ansprache weiter, halten an ihrer Hauptforderung fest: Die gesamte politische Führung soll abdanken.
"Mit drei Tagen Kabinettsberatungen kann man das Land nicht umkrempeln. Nicht nach 30 Jahren Misswirtschaft. Wir brauchen eine Alternative."
Klientelpolitik ist tief verankert
30 Jahre - fast: 1990 endete formal der libanesische Bürgerkrieg. Seinerzeit einigte man sich inner-libanesisch auf ein politisches Übergangssystem. Nur, dass dieses System nicht ersetzt wurde, sondern sich etablierte: Es sieht vor, dass alle 18 anerkannten Religionsgemeinschaften des Landes politisch vertreten sind. Die politischen Führer der Religionsgemeinschaften teilen sich nach einem strengen Proporzsystem die Macht. Und jeder dieser Führer bevorzugt wiederum ihre Klientel, was zur jetzt beklagten Misswirtschaft und Korruption geführt hat. Treue an der Wahlurne.
Unweit der Massendemonstrationen am Regierungssitz in Beirut ist Nassib Ghobrils Büro. Ghobril ist der Chefökonom der libanesischen Byblos-Bank. Er analysiert seit Jahren, welche der konfessionellen Parteien welche Geschäfte macht:
"Es gibt Deals. Jede Finanztransaktion, jeder Handel, jede Konzession, die erteilt wird, jede Regierungsinvestition. Und wer hat Vorteile? – Firmen, die an Parteien hängen. Kommissionen werden ihnen gezahlt. Oder der ganze öffentlichen Sektor: In den vergangenen vier Jahren wurden 31.000 neue Bedienstete angestellt. Das ist auch eine Form der Korruption!"
Denn: Angestellt wurden vor allem Leute, die zu einer der konfessionellen Parteien gehören. Viele andere Libanesen leiden unter der hohen Arbeitslosigkeit. Auch deshalb wollen jetzt viele Protestler das Klientel-System stürzen. Sie haben keine Anführer: Drusen, maronitische oder protestantische Christen, sunnitische oder schiitische Muslime - sie demonstrieren gemeinsam. Auch Nassib Ghobril, Chefökonom der Byblos-Bank in Beirut fordert einen Wandel:
"Der erste Schritt ist, dass diese Regierung zurücktritt. Der zweite Schritt ist, dass eine Regierung aus Experten gebildet wird. Die haben zwei Hauptaufgaben: Die erste ist, dass die Forderungen umgesetzt werden, die die Leute auf der Straße haben: Der Kampf gegen Korruption, keine Misswirtschaft, Verbesserung der Infrastruktur, Erhöhung des Lebensstandards. Und die zweite Aufgabe ist, dass sie eine vorgezogene Wahl für das Parlament vorbereiten."

Bisher sind die politisch-konfessionellen Führer nicht dazu bereit. Wohl auch, weil sie nicht nur die Macht, sondern auch Geschäfte einbüßen würden. Die Frage ist, wie sie in den nächsten Tagen oder Wochen reagieren werden. Die Hisbollah zum Beispiel. Sie ist die stärkste politische Kraft im Libanon: eine von Schiiten dominierte Bewegung, verbündet mit dem Iran. Generalsekretär Hassan Nasrallah hat sich in einer Ansprache geäußert. Seine Worte: eine Warnung.
"Die Hisbollah kann leicht die Demonstrations-Karte spielen. Wir hoffen, dass wir sie nie ziehen müssen, denn wenn die Zeit dafür käme, würdet Ihr uns alle auf der Straße sehen, uns überall finden. In voller Stärke."
In den zurückliegenden Tagen hat sich die Hisbollah tatsächlich zurückgehalten. Sie sieht sich einen großen Zahl Protestler gegenüber, unter denen auch viele Schiiten sind. Theoretisch ihre eigene Klientel. Nur an einem Abend fuhren Hisbollah-Anhänger am Rande von Beirut groß auf - mit Motorrollern. Eine Demonstration der Stärke.
Sollten die Hisbollah oder andere Gruppierungen ihre Machtpositionen im Libanon allerdings bedroht sehen, könnten sie massiv auftreten, gewalttätig.
Das schreckt die Protestierenden wenig. So wenig wie die Armee, die gestern vergeblich versuchte, ein paar Straßen zu räumen, die die Demonstrierenden besetzt hielten. Die Protestierenden halten den politischen Führern weiter entgegen: "Wenn Ihr nicht geht, bleiben wir! Wir wollen Thawra – Revolution."
Blick von oben auf Beirut bei Nacht. Tausende Demonstrantinnen und Demonstranten versammeln sich auf zentralen Plätzen. 
Auch nach den Reformankündigungen der Regierung gehen die Proteste weiter (AFP)