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Proteste gegen Sozialabbau

Ferdos Forudastan: Der Anspruch ist unbescheiden. "Aufstehen, damit es besser wird." Unter diesem Motto will kommenden Samstag ein breites Aktionsbündnis in etlichen europäischen Städten gegen den Sozialabbau protestieren. In Deutschland ruft der Zusammenschluss von Gewerkschaftern, Politikern, Kirchenleuten und Globalisierungskritikern zu Demonstrationen dagegen auf, dass die rot-grüne Regierung in Berlin Kranken, Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern noch mehr Opfer abverlangt als bisher. Unabhängig davon versuchen einige mit ihrer SPD unzufriedene Sozialdemokraten eine neue linke Partei zu gründen. Initiative Arbeit und soziale Gerechtigkeit heißt der Vorstoß. Gerd Koenen ist Historiker, Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung, und er beobachtet seit etlichen Jahren die politische Linke in der Bundesrepublik. Unter anderem hat er das Buch "Das rote Jahrzehnt" geschrieben. Ich habe Gerd Koenen gefragt, ob er beim Blick auf die aktuellen parlamentarischen Bewegungen so etwas wie ein Deja-vu-Erlebnis hat.

Moderation: Ferdos Forudastan |
    Gerd Koenen: Ja natürlich. In den späten sechziger Jahren und siebziger Jahren wimmelte es ja von Parteigründungsinitiativen jeder Art. Es wurde ja auch wieder eine kommunistische Partei gegründet, die DKP. Es wurden jede Menge kleiner Mini-Parteien gegründet, und aus den gescheiterten linksradikalen Parteigründungsprojekten der siebziger Jahre - jedenfalls aus dem Personal dieser verschiedenen, kleinen Gruppierungen - ist natürlich ein beträchtlicher Teil des Gründungspersonals der grünen Partei hervorgegangen. Die grüne Partei war natürlich auch erst mal eine Partei, die sich am linken Spektrum angesiedelt hat, allerdings mit einer Farbänderung von rot nach grün. Das heißt, zentrale Themen haben eine ganz bestimmte Verschiebung erfahren.

    Ferdos Forudastan: Wenn wir jetzt noch mal auf die aktuellen Initiativen schauen, was meinen Sie welches Bedürfnis sich da ausdrückt?

    Gerd Koenen: Das Bedürfnis kann ich gut verstehen. Es ist natürlich so, dass man das Gefühl hat, dass diese sich globalisierende, kapitalistische Weltwirtschaft natürlich nach Gesetzen funktioniert, die niemand so recht überblickt und beherrschen kann. Man ist gewissermaßen auf einen Tiger geschnallt und weiß nicht, wohin die Reise geht. Selbst für uns hier in den reicheren und entwickelteren Ländern ist das so. Ja bei uns hier ist das natürlich ein moralisch revoltierender Zustand, ein empörender Zustand, dass der Fortschritt der Produktivkräfte sich in einer Erhöhung der Arbeitslosenzahlen ausdrückt und man nicht sicher ist, ob mit irgendeiner konjunkturären Belebung das Problem zu beheben sein wird, dass ein ganzer Teil der Gesellschaft mit allen seinen Fähigkeiten, mit seiner Bereitschaft etwas zu tun, außer Arbeit gesetzt wird. Das kann natürlich nicht der Weisheit letzter Schluss sein; das finde ich schon klar. Nur der Weg zu dem alten, mächtigen, umverteilten Sozialstaat, der dann Arbeit gibt, das ist offensichtlich auch eine historische Sackgasse. Da muss man neu nachdenken.

    Ferdos Forudastan: Haben Sie denn den Eindruck, dass die Initiatoren dieser neuen Bewegungen darüber nicht nachdenken? Ist das alles nur rückwärts gewandt? Knüpft das an etwas an, was es eigentlich gar nicht mehr gibt, oder hat das auch aktuelle Züge?

    Gerd Koenen: Ja und nein. Ich meine, soweit das Widerstand der Gewerkschaften ist gegen ganz bestimmte Standards, die zurückgenommen werden sollen, die man sich historisch erkämpft hat, finde ich das normal. Das gehört zu einer floralen Gesellschaft. Wenn die Gewerkschaften dann in der Auseinandersetzung den Kürzeren ziehen, gut, aber das ist das Spiel der Kräfte. Etwas Anderes ist es, wenn Leute daraus das Gesamtmodell einer anderen Politik, die letztlich doch nur eine Umverteilungspolitik mit den Mitteln des Staates ist, destillieren, das kommt mir dann in der Tat wie etwas vor, dass eigentlich im vergangenen Jahrhundert bis zum Anschlag durchdekliniert worden ist. Man hat dann ja so etwas, wie einen realen Sozialismus gehabt. Ich will jetzt gar nicht von den ganzen Menschenopfern reden - das wird ja niemand so wollen in diesem Sinne, wie sich diese kommunistischen Bewegungen an die Macht gekämpft haben und die Klassenfeinde ausradiert haben - darum geht es nicht. Aber schon die ganze Vorstellung eines Staates, der jedem Arbeit gibt, der jedem eine Wohnung gibt, jedem dies, jedem das gibt, das ist das Bild eines allmächtigen Versorgungsstaates. Nicht nur, dass das nicht funktioniert, dass der vitale Antrieb sich selbst aus seinem Leben zu schaffen dabei erlahmt, sondern dass das Bild der Gesellschaft auch kein schönes Bild ist, weil dieser Staat allmächtig ist. Denn wenn ein Staat Arbeit zuteilt, darf er auch sagen, du arbeitest nicht, dich schicke ich dahin, oder du bist ein Parasit.

    Ferdos Forudastan: Nun sind das ja nicht die ersten Versuche, einer als ungerecht empfundenen Politik, einer neoliberalen Wirtschaftspolitik, etwas entgegenzusetzen. Es gibt seit Jahren die Globalisierungskritiker von Attac. Es gibt etliche sehr engagierte Gewerkschafter, es gibt die PDS, die die SPD vor allem von links angeht, aber so richtig erfolgreich im Sinne von "und ziehen sie immer mehr Menschen auf ihre Seite", sind diese Initiativen nicht. Woher kommt das?

    Gerd Koenen: Weil man, glaube ich, die Grundprobleme dieser Gesellschaft neu definieren muss. Das alte Sozialismus-Modell ging ja davon aus, dass der Kapitalismus nicht in der Lage sei Produktivkräfte zu entwickeln. Aber er entwickelt sie so, dass wir versuchen müssen, sie überhaupt in menschenverträgliche Bahnen zu lenken. Dann denke ich, dass dieses ganze "Mehr, Mehr, Mehr", dieses Mehr an Waren, mehr an Produkten, etwas ist, wo sogar der Sozialismus konvergiert hat, der reale Sozialismus der Vergangenheit. Das kann auch nicht die Lösung sein.

    Ferdos Forudastan: Das heißt, dieser klassische Wachstumsgedanke?

    Gerd Koenen: Die Qualitäten müssten es vielmehr sein. Man muss die Linke neu definieren. Man muss qualitative Standards setzen und nicht nur diese Wachstumsideologie anders herum propagieren. Diese Leistungsgesellschaft müsste man in anderer Weise definieren. Da sind aber kreative Ansätze notwendig. Man müsste diese neue Linke schon neu finden.

    Ferdos Forudastan: Könnte es denn auch sein - nennen wir es jetzt einfach mal einen kollektivistischen Ansatz, also einen Ansatz, der davon ausgeht, dass die Menschen in Gemeinschaften leben und dass da gerecht verteilt werden muss, dass da auch die Gruppe zählt und nicht nur der Eine und dessen persönliches Fortkommen und dessen persönlicher Wohlstand - dass diese Ideen, so schön sie auch sein mögen, so richtig im Moment keine große Konjunktur haben und deshalb auch linke Bewegungen nicht erfolgreich sind bis auf Weiteres?

    Gerd Koenen: Ja, aber ich meine, das sind eigentlich zwei Seelen in der Brust eines Jeden.

    Ferdos Forudastan: Aber mal ist die eine stärker und mal die andere. Zu Zeiten der 68er-Bewegung und zu Zeiten, als die Grünen gegründet wurden, war bei vielen Menschen die eine stärker, und momentan ist die andere stärker.

    Gerd Koenen: Damals suchte man den Anschluss im Kollektiv, in einer imaginären Gesamtbewegung, der man sich zugehörig fühlte. Andererseits war auch damals das Element der Individualisierung und das "raus aus den alten gesellschaftlichen Zwängen" sehr stark. Das war beides drin in der 68er-Bewegung. Ich denke, es ist immer beides drin. Wie gesagt, die Vorstellung, die gesamte Gesellschaft, wie Lenin damals sagte, als ein Büro, als eine Fabrik zu organisieren, und alle gehören wir zusammen, ist letztlich auch eine schreckliche Gesellschaft, die niemand will. Aber andererseits ist natürlich die Vorstellung, jeder ist seine eigene, kleine Monade und kämpft für sein kleines Ding und beißt sich da durch, das ist auch keine Gesellschaftsvorstellung, die befriedigt. Also geht es darum, einen Ausgleich zwischen diesen Bedürfnissen zu finden, und auch da, würde ich sagen, käme es darauf an, die Vorstellungen von einer solidarischen Gesellschaft, von einer Solidargesellschaft so neu zu erfinden, dass nicht der Antrieb des Einzelnen erstirbt oder dass der Einzelne sich nicht untergebuttert fühlt.

    Ferdos Forudastan: Sie meinen, das ist auch noch nicht geleistet worden, oder wird jetzt auch von diesen aktuellen Bewegungen bisher nicht geleistet?

    Gerd Koenen: Doch, es gibt den einen oder anderen spannenden Gedanken dabei. Das kommt ja auch aus einem ziemlichen Gewirre von einzelnen Gruppen heraus, Gruppen, die noch Bürgerinitiativen haben, sind anders als zum Beispiel Attac. Ich denke sowieso, das kann man alles nicht erfinden. Das muss an einem bestimmten Punkt auf den Plan treten. Es gibt nicht den Mastermind, der sich das alles ausdenkt. Ich lenke als Historiker so ein bisschen meinen Blick auch auf die Gegenwart und denke mir, wenn es an der Zeit ist, dann werden sich auch wieder gesellschaftliche Alternativen herauskristallisieren, die vielleicht dieses gemeinschaftliche Element wieder stärker betonen, aber dafür auch Angebote machen, die die Leute wollen.

    Ferdos Forudastan: Ein Gespräch mit dem Historiker Gerd Koenen war das.