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Protestforscher sieht keine Gefahr für die Demokratie

Hans Peter Probst: In Leipzig treffen sich heute DGB-Chef Sommer, der Pfarrer der Nikolaikirche, Führer, mit anderen Gewerkschafts- und Kirchenvertretern sowie den Organisatoren von Arbeitsloseninitiativen zu einer Diskussion über die soziale Einheit in Deutschland. Das nennt sich Runder Tisch, eine weitere Anleihe an die Wendezeit, wie auch bei den Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV. Von einer Gefahr, einer neuen Spaltung zwischen Ost- und Westdeutschen wird gesprochen. DGB-Chef Sommer zum Beispiel, verschiedene Unionsabgeordnete, sogar das gesamte demokratische System werden in Frage gestellt. Professor Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin ist so etwas wie Protestforscher. Herr Rucht, können Sie diese Gefahr auch so sehen, dass es so schlimm ist?

Moderation: Hans Peter Probst |
    Dieter Rucht: Nein, ich sehe diese Gefahr nicht. Im Rückblick auf 50 Jahre Bundesrepublik hat es sehr, sehr viele Demonstrationen gegeben, Massendemonstrationen, es hat zivilen Ungehorsam gegeben, es auch gewalttätige Ausschreitungen gegeben. Gemessen daran haben wir es im Moment mit sehr kleinen und friedlichen Demonstrationen zu tun. Ein einzelner Eierwurf und dergleichen, das beschädigt nicht die Demokratie. Das ist unschön, aber es ist keine Gefahr für die Demokratie.

    Probst: Und die Anleihen, die da historisch an 1989 und die Folgejahre gemacht werden, Montagsdemo, oder jetzt auch der runde Tisch, wie man das bewertet, ob das zulässig ist, oder nicht, lässt das auch Rückschlüsse auf die Mentalitäten oder Zielsetzungen dieser Proteste zu? Werden da irgendwie der Regimesturz und Hartz IV gleichgesetzt?

    Rucht: Wenn das die Intention wäre, diese Gleichsetzung, dann muss man das expliziter sagen, aber zunächst mal ist es ja nur eine historische Erinnerung. Man lässt erst mal offen, wo Parallelen gezogen oder gesucht werden. Zunächst mal bedeutet es nur, damals ging das Volk auf die Straße und hat sich durchgesetzt und das ist natürlich das, was man heute wieder in Erinnerung rufen will. Wir gehen wieder auf die Straße, wollen uns wieder durchsetzen. Der Inhalt, das ist natürlich völlig klar, war im Kern was anderes, damals der Sturz eines Regimes, heute bestenfalls der Sturz einer Regierung, oder vielleicht noch kleiner gekocht, der Fall eines Gesetzes oder die Modifikation eines Gesetzes. Das sind die Unterschiede. Es gibt natürlich Parallelen, nämlich das Leute den Mund aufreißen und sagen, was ihnen nicht gefällt. In dieser formalen Hinsicht gibt es eine Parallele und dass sich das im Osten konzentriert ist eine auffällige Parallele.

    Probst: Und wenn Sie sagen, man geht wieder auf die Straße - Wer geht denn auf die Straße?

    Rucht: Das sind zunächst mal sehr heterogene Gruppen. Im Kern sind es vielleicht am wenigsten die Sozialhilfeempfänger. Die sind stark vereinzelt und haben im Grunde eine stabile Situation. Für die wird sich wenig ändern, in Einzelfällen sogar einiges verbessern. Es sind im Kern also vorwiegend diejenigen, die jetzt eine drastische Verschlechterung ihrer Lage zu erwarten haben, dass sind diejenigen, die jetzt bislang Arbeitslosenhilfe bezogen haben und nun abrutschen auf Sozialhilfe. Das sind aber zweitens auch diejenigen, die zwar Beschäftigung haben, aber in prekären Beschäftigungsverhältnissen stecken, die also nicht wissen, ob morgen oder in einem Jahr ihr Arbeitsplatz verloren ist. Und die kleinste Gruppe sind wohl diejenigen, die aus politischer Solidarität, vielleicht auch aus einer allgemeinen Regierungskritik - oder Systemkritik heraus - mit auf die Straße gehen. Wiederrum ein Teil von denen sind durchaus ehrbare Leute, ein anderer Teil sind solche, die vor allen Dingen ihren eigenen politischen Club, ihre Sekte, ihren Verein in den Vordergrund rücken wollen.

    Probst: Wenn die Protestgruppen so heterogen sind wie sie gerade geschildert haben - auf der anderen Seite gibt es ja eine zentrale Forderung, die ja auch auf Plakaten deutlich gemacht wird: Hartz muss weg, Arbeitsplätze her, heißt es. Da könnte man dann ja auch wieder schlussfolgern, man glaubt im Osten immer noch an so etwas wie die Allmacht des Staates, die da Oben könnten es schon richten?

    Rucht: Das ist ja auffällig, dass sich die Proteste vielleicht zu 90 Prozent, nicht was die Zahl der Orte angeht, aber was die Zahlen der Demonstranten angeht, in den neuen Bundesländern konzentrieren. Das liegt an mehreren Faktoren, aber ein wichtiger Faktor ist sicher der, dass man nach 40 Jahren Sozialismus diesen Appell, diese Hoffnung, dass der Staat zuständig sei und dass man es richten müsse, nicht aufgegeben hat. Da ist also noch sehr viel Optimismus am Werke. Ich würde sagen, im Westen ist der Durchschnitt derjenigen, der jetzt davon betroffen sein wird, resignierter, das heißt, es ist gar nicht mehr die Erwartung da, dass der Staat, oder wer immer, es richten kann.

    Probst: Defizite im Demokratieverständnis würden Sie da also nicht als Schlussfolgerung ziehen?

    Rucht: Das scheint mir nicht das Zentrale zu sein. Es gibt jetzt einzelne Meinungsumfragen, die etwas bedrohliche Zustimmungswerte, also niedrige Zustimmungswerte für Demokratie ausmachen. Das scheinen mir aber vorübergehende Ausschläge zu sein. Es gibt viele Meinungsumfragen über die letzten zehn Jahre hinweg und da ist in etwa grob gesprochen, das hängt sehr von der Fragestellung ab, das Niveau der Unterstützung für die Demokratie als Staatsform im Osten etwa gleich, wie im Westen. Davon muss man unterscheiden von dieser Identifikation mit Demokratie, die in beiden Teilen sehr stark ist, die Kritik an der Regierung und die Kritik an der Klasse der Politiker, der politischen Eliten. Da sieht es fatal aus und da geht es in beiden Teilen Deutschlands bergab.