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Prozess-Marathon in Braunschweig
Das juristische Jahr des VW-Konzerns

Auch wenn VW bei der Elektromobilität voranprescht: Neben allen Zukunftsplänen lastet die Vergangenheit schwer auf dem Autobauer. Zahlreiche Zivilprozesse laufen noch, darunter zwei Mammut-Verfahren vor dem Oberlandesgericht Braunschweig. Und auch Strafprozesse gegen Manager könnten bald kommen.

Von Hans Stallmach | 20.12.2019
18.09.2019, Niedersachsen, Braunschweig: Ein VW steht vor der Stadthalle. Am 30. September startet am Oberlandesgericht Braunschweig ein Verfahren zur Musterfeststellungsklage gegen Volkswagen. Rund 430 000 Autokäufer schlossen sich der Klage an. Foto: Sina Schuldt/dpa | Verwendung weltweit
Wegen des hohen Interesses wurde der Prozess um die Musterfeststellungsklage mit mehr als 400.000 Klägern in die Stadthalle verlegt (picture alliance / dpa / Sina Schuldt)
An deutschen Zivilgerichten laufen derzeit rund 60.000 Einzelklagen von Dieselkunden gegen den VW-Konzern oder gegen VW-Händler, so eine Schätzung des Deutschen Richterbundes. Die bisher ergangenen Urteile sind sehr unterschiedlich. Mit großem Interesse schauen alle Beteiligten deshalb auf die Musterfeststellungsklage gegen VW, die Ende September vor dem Oberlandesgericht Braunschweig begonnen hat.
Dabei will der Bundesverband der Verbraucherzentralen stellvertretend für mehr als 400.000 Autokäufer Schadensersatz erstreiten. Erst Ende 2018 hatte die Bundesregierung dieses neue Rechtsinstrument geschaffen - und bei dem Braunschweiger Verfahren wird es nun zum ersten Mal angewandt. Nach zwei Verhandlungstagen steht so viel fest: das Gericht drängt beide Parteien mit Nachdruck zu einem Vergleich. Rechtsanwalt Marco Rogert von der Klägerseite:
"Es ist durchaus möglich, dass die Gegenseite jetzt mal zum Hörer greift und auslotet, in welche Richtung das jetzt gehen könnte. Wichtig ist, dass wirklich mal Gespräche stattfinden, dass man sich an einen Tisch setzt, und wir werden dann sehen, was für Angebote tatsächlich auf den Tisch kommen."
Ein Vergleich? VW zögert
Für die Kläger ist ein Vergleich ohne Frage attraktiv: statt auf den Ausgang eines langwierigen Verfahrens zu warten, hätten die Kunden auf diese Weise doch sehr bald einen konkreten Betrag in der Hand. VW ist in dieser Frage zurückhaltend: So lange man keine genauen Informationen über die Zahl der Kunden habe, für die ein Vergleich in Frage kommt, seien die Kosten für VW nicht kalkulierbar, so Rechtsanwältin Martina de Lind van Wijngaarden.
"Der Senat hat die Parteien aufgefordert, bis zum 31. Dezember mitzuteilen, ob sie überhaupt dem Grunde nach geneigt wären, in Vergleichsverhandlungen einzutreten. Das wollen wir prüfen, und dann melden wir uns."
Auch Anleger wollen Geld sehen
Während also in die Musterfeststellungsklage möglicherweise bald Bewegung kommt, tritt ein zweites Groß-Verfahren gegen VW, ebenfalls vor dem Oberlandesgericht Braunschweig, derzeit auf der Stelle. Im Kapitalanleger-Musterverfahren wollen fast 1.800 Anleger - Banken, Pensions-Fonds, Versicherungen und Privatinvestoren - von VW knapp fünf Milliarden Euro erstreiten. Die Begründung: der Konzern habe viel zu spät über die Diesel-Manipulationen informiert; durch die Verletzung der ad-hoc-Pflicht sei den Anlegern ein Milliarden-Schaden entstanden. In sieben Verhandlungstagen haben bislang Dutzende von Anwälten beider Seiten vor allem über zahlreiche Detailfragen gestritten. Gerichtssprecherin Andrea Tietze:
"Es gibt ja wirklich eine Vielzahl von Feststellungszielen, und die werden dann noch nachgebessert und können erweitert werden. Insofern ist es immer sehr schwer zu sagen: Wo steht man genau? Weil ja einfach viel noch von dem weiteren Verhalten der Parteien abhängt: Wie viel werfen sie selber noch in den Ring? Wie viele Feststellungsziele gibt es noch, und wie läuft das dann weiter alles ab?"
Als Musterklägerin tritt in dem Verfahren die Deka Investment GmbH auf. Ihr Anwalt Andreas Tilp zieht nach einem guten Jahren Verfahrensdauer eine verhaltene Bilanz:
"Na ja, VW sagt nicht: Wer hat was gewusst? VW versucht, durch verfahrenstechnische Tricks hier die Dinge in die Länge zu ziehen."
Vorwürfe gegen Diess überraschten Konzern
Wer hat was gewusst? Eine Antwort werden möglicherweise die Strafprozesse bringen, die die Staatsanwaltschaft Braunschweig derzeit vorbereitet. Zwei Anklagen hat die Behörde bislang auf den Weg gebracht: einmal wegen Betruges, und dann wegen möglicher Marktmanipulationen.
Dass in Letzterem - neben dem ehemaligen Konzern-Chef Martin Winterkorn - auch der derzeitige Vorstandsvorsitzende Herbert Diess auf die Anklagebank soll, hat bei VW überrascht und irritiert. Schließlich war Diess erst zwei Monate vor Bekanntwerden des Skandals von BMW zu VW gekommen. Heute steht Diess wie kein anderer mit seinem Namen und seiner Person für den Umbau des Konzerns in Richtung E-Mobilität. Kann er als Angeklagter in einem Strafprozess seinen Chefposten behalten? Und wenn nicht: was heißt das für die Neuausrichtung des Konzerns?
Staatsanwaltschaft beruft sich auf gesetzlichen Auftrag
Auch der Staatsanwaltschaft Braunschweig sind diese Zusammenhänge bewusst, erklärt Sprecher Klaus Ziehe, aber:
"Natürlich haben unsere Entscheidungen Einfluss auch auf die zivilrechtlichen Verfahren, die laufen. Auch auf die wirtschaftlichen Verhältnisse bei VW - die hat man natürlich im Kopf. Also: man ist sich dessen bewusst, aber auf die Nebenaspekte wird man nicht gucken, guckt man auch nicht, weil es letztlich nur entscheidend ist, unserem gesetzlichen Auftrag der Ermittlung und Verfolgung etwaiger Straftaten gerecht zu werden. Punkt - aus."
Noch hat das Landgericht die Anklagen nicht zugelassen. Zwar wird damit allgemein gerechnet, aber das Gericht muss nicht allen Vorgaben der Staatsanwaltschaft folgen und kann zum Beispiel VW-Chef Diess auch noch aus der Klage herausnehmen. Genau das ist es, worauf derzeit viele in Wolfsburg hoffen.