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Prozessauftakt in der Türkei
Meşale Tolu fordert Freilassung

Die Journalistin Meşale Tolu steht heute in Istanbul vor Gericht. Der 33-jährigen Ulmerin drohen bis zu 20 Jahre Haft. Die Vorwürfe: Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation. Diese hat sie nun offiziell bestritten.

Von Frank Wiesner | 11.10.2017
    Zwei Demonstranten mit Mesale Tolu - Plakaten
    Mesale Tolu hat viele Unterstützer, hier bei einer Demonstration im September in Berlin. (imago Stock)
    Der Journalistin Meşale Tolu wird die Verbreitung von Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation vorgeworfen. Sie soll an insgesamt vier Veranstaltungen teilgenommen haben, bei denen Propaganda für die linksextreme Marxistisch-Leninistische-Kommunistische-Partei, kurz: MLKP, betrieben worden sei. Diese Partei ist vom türkischen Staat als terroristische Organisation eingestuft, in Deutschland hat sie der Verfassungsschutz unter Beobachtung, sie ist aber nicht verboten.
    Die Veranstaltungen waren in den Jahren 2014 und 2015, liegen also schon längere Zeit zurück. Heute vormitttag konnte Meșale Tolu selbst erstmals dazu Stellung nehmen. Wie eine Prozessbeobachterin mitgeteilt hat, weist sie die Vorwürfe zurück. Sie fordert für sich einen Freispruch und die sofortige Freilassung. Sie sagte, sie habe keine Verbindung zu illegalen Organisationen. Die Familie von Meșale Tolu in Ulm ist ohnehin von der Unschuld der Journalistin überzeugt.
    "Als wir gehört haben, dass sie wegen Terrorpropaganda und Terrorismus verhaftet worden ist, da habe ich mir Gedanken gemacht. Meine jüngere Schwester eine Terroristin? Hm - nicht glaubwürdig" , sagte ihr Bruder Hüseyin Tolu am Dienstag im Vorfeld des Prozesses. Auch Meşale Tolus Vater Ali Riza Tolu glaubt an die Unschuld seiner Tochter und hofft auf einen Freispruch: "Ich denke, dass meine Tochter frei kommt. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist rund 60 bis 70 Prozent. Falls die Haft weitergeht, dann ist klar: Sie ist eine Geisel von Erdogan."
    Dringende Apelle an die Bundesregierung
    Vor Gericht wurden die Vorwürfe gegen Meşale Tolu konkretisiert. Eine der Veranstaltungen sei eine Beerdigung gewesen, bei der eine kurdische Kämpferin, die in Syrien gefallen ist, beerdigt wurde. Meşale Tolu sagte dazu vor Gericht, dass sie nicht verstehen kann, dass die Teilnahme an einer Beerdigung für eine Frau, die gegen den Islamischen Staat gekämpft hat ein Verbrechen sei, wo doch der türkische Staat selbst die Nato im Kampf gegen den IS unterstütze. Eine andere Veranstaltung sei eine Beerdigung für MLKP-Mitglieder gewesen, die von der türkischen Polizei erschossen worden sind.
    Bei einer weiteren Veranstaltung soll Meşale Tolu ein Banner der MLKP getragen haben. Teilweise soll es auch Aufnahmen geben, die die Vorwürfe belegen. Die einzige Bundestagsabgeordnete, die vor Ort beim Prozess ist, ist die Linken-Abgeordnete Heike Hänsel. Sie sagte zu den Vorwürfen am ersten Prozesstag in Istanbul:
    "Die Vorwürfe sind eigentlich lächerlich. Sie sind konstruiert. Es ist ein politischer Prozess und genau deswegen geht mein Apell auch an die Bundesregierung, dass hier dringender Handlungsbedarf ist. Ich wünsche mir eine Präsenz. Ich hätte mir auch gewünscht, dass der deutsche Botschafter heute hier ist. Und wir brauchen meines Erachtens nach auch einen Sonderbeauftragten des Kanzleramts, der hier aktiv wird und diese deutschen Geiseln befreit. Es sind konstruierte Vorwürfe".
    Wenn man rechtsstaatliche Maßstäbe ansetzt, hätte das Gericht die Frage zu klären: War Meşale Tolu dienstlich oder privat auf diesen Veranstaltungen? Wenn sie dienstlich, also als Journalistin, dort war, dann geht es sogar um die Frage, wie es derzeit um die Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei bestellt ist. War sie "nur" privat dort, müsste das Gericht klären, ob sie tatsächlich eine Aktivistin ist oder nur Mitläuferin. Und dann müsste man ja, so Beobachter, auch nach der Verhältnismäßigkeit der Strafe schauen.
    Meşale Tolu drohen bis zu 20 Jahre Haft. Allerdings, so Christian Mihr von Reporter ohne Grenzen, könne man keine rechtsstaatlichen Maßstäbe an das Verfahren stellen. "Das Problem ist ja, dass wir hier eigentlich eine Willkürjustiz haben. Insofern ist die Hoffnung natürlich, dass sie frei kommt", erklärte der Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen. "Aber am Ende weiß man es nicht, weil es eben kein Rechtsstaat ist. Das ist ein politisches Verfahren", so Mihr weiter, "und das Urteil wird vermutlich nicht im Gerichtssaal gefällt sondern von politischen Entscheidungsträgern."
    Reporter ohne Grenzen glaubt weiterhin an die Pressefreiheit in der Türkei
    Meșale Tolu hat als Übersetzerin und Reporterin für die linksgerichtete Nachrichtenagentur Etha gearbeitet. Eine Kollegin von Mesale Tolu, die noch auf freiem Fuß ist, war am Wochenende zu Gast in Ulm. Bei einer Solidaritätsveranstaltung für Meşale Tolu sagte sie, sie glaube nicht an eine Positionslosigkeit im Journalismus, sondern die Etha sei die Nachrichtenagentur der Unterdrückten, zum Beispiel der unterdrückten Aleviten oder Kurden. Sie finanziert sich durch Abonnenten, das sind linksgerichtete türkische Zeitungen, Fernsehsender und Radiostationen. Die meisten davon sind mittlerweile von Erdogan geschlossen worden.
    Doch Christian Mihr von Reporter ohne Grenzen glaubt weiterhin an die Pressefreiheit in der Türkei: "Ich glaube, wir sollten auch diesen Gefallen Herrn Präsident Erdogan nicht tun, die Pressefreiheit für tot zu erklären. Es gibt dort Journalistinnen und Journalisten, die versuchen, die Pressefreiheit zu leben in unabhängigen Medien wie der Agentur Etha, die Zeitung Cumhuriyet, die Zeitung Birgün. Das macht, glaube ich, auch Mut, dass ich noch eine ganze Liste aufzählen kann von vielen unabhängigen Medien. Gleichzeitig sind natürlich in fast jeder Redaktion in der Türkei freie Schreibtische, die Journalistinnen und Journalisten gehören, die in Haft sitzen. Und fast jeder Journalist in der Türkei ist eigentlich überzogen mit Beleidigungsklagen und anderen absurden Vorwürfen", erklärte Christian Mihr.
    Aktuell sitzen nach Angaben der Vereinigung Reporter ohne Grenzen rund 170 Journalisten im Gefängnis – soviel wie in keinem anderen Land der Welt.