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Prozessauftakt
Keine Normalität in Lügde

Wegen schweren sexuellen Kindesmissbrauchs auf einem Campingplatz in Lügde stehen ab heute drei Angeklagte vor Gericht. Sie sollen über Jahre hinweg mindestens 41 Jungen und Mädchen missbraucht haben. Den Einwohnern der ostwestfälischen Gemeinde fällt es schwer, zur Normalität zurückzukehren.

Von Kolja Unger | 27.06.2019
Sexueller Missbrauch in Lüdge: Das Ortsausgangsschild vom Stadtteil Elbrinxen der Stadt Lügde, in dem sich der Campingplatz Eichwald des mutmaßlichen Täters befindet.
Lügde - der Ortsname ist auf unabsehbare Zeit mit dem Missbrauchsfall verbunden (picture alliance / Guide Kirchner)
Es ist sehr still auf dem Campingplatz Eichwald im Lügdener Ortsteil Elbrinxen. Journalisten sind hier gerade nicht gern gesehen. Der Besitzer teilt am Telefon mit, er möchte nicht mehr darüber sprechen, was hier passiert ist - über das Unbehagen. Hier sollen über Jahrzehnte hinweg mehr als 40 Kinder in einem Wohnwagen sexuell missbraucht worden sein. Wieso haben er und auch sonst niemand in diesem kleinen Ort etwas davon mitbekommen?
Niemand möchte reden
Auch im acht Kilometer entfernten Zentrum von Lügde möchte niemand darüber reden. Es sei ja schließlich im Ortsteil Elbrinxen geschehen. Dort, im Gasthaus Lippischer Hof, kommen die Elbrinxer zusammen. Die grenzen sich wiederum von den Campern ab: "Weil der Campingplatz an sich auch immer ein Völkchen an sich war, genauso wie wir Elbrinxer. Es wurden halt keine sozialen Bindungen geschlossen."
Dennoch ist der Hauptangeklagte Andreas V., der viele Jahre auf dem Platz in seinem Wohnwagen lebte, hier bekannt: "Ich sehe ihn auch noch mit vielen Kindern rumlaufen. Er hatte sich sehr um die Kinder gekümmert, sich ein Pony angeschafft, hat mit denen Ponyreiten gemacht. Das sind Sachen, die ich gesehen habe und wo ich sagen kann: keinerlei Verdachtsmomente."
Die Pflegetochter als "Lockvogel"
Die Camper: Größtenteils Urlauber nicht aus der Region; viele von ihnen froh, dass da ein den Kindern zugewandter Mann sich immer neue Aktivitäten für sie ausdenkt. Vielleicht hat auch der Umstand, dass das Jugendamt Andreas V. ein Pflegekind zugesprochen hat, das Vertrauen der Eltern auf dem Platz geweckt.
Laut Anklageschrift wird diese Pflegetochter allerdings von ihrem Stiefvater und den anderen Angeklagten missbraucht - regelmäßig, jahrelang. Und: Andreas V. nutzt sie offenbar als "Lockvogel" für weitere Opfer - die Kinder der Urlauber spielen mit seiner Pflegetochter, bevor er sie zu sich einlädt.
Ermittlungspannen und offene Fragen
Wieso das Jugendamt von alldem nichts gewusst haben will, ist bislang unklar. Den Hinweisen, dass V. Kinder missbrauchte, ging es jedenfalls nicht nach. Das Pflegekind wird ihm erst entzogen, nachdem die Anzeige einer Mutter bei der Polizei eingeht – im vergangenen Oktober.
Auf dem Campingplatz Eichwald, in der inzwischen eingezäunten Parzelle des mutmaßlichen Täters, hängt vor dem versiegelten Campingwagen, aus dem die Beweismittel stammen, die mittlerweile verschwunden sind, eine Banderole mit der Aufschrift: "Polizeiabsperrung". 
Polizeiabsperrung auf dem Campingplatz in Lügde (dpa / Guido Kirchner)
Die unbeantworteten Fragen im Fall Lügde häufen sich auch bei den anschließenden Ermittlungen. Die Täter haben ihre Taten gut dokumentiert und die Kinderpornographieauf Datenträgern und im Internet vertrieben. Erst werden bei den Durchsuchungen des Wohnwagens immer wieder welche übersehen. Dann verschwindet ein Koffer mit 155 CDs aus der Kreispolizeibehörde Lippe.
In einer ruhigen Ecke seines Lieblingscafés nimmt sich Michael Kling, der stellvertretende Vorsitzende der Polizeigewerkschaft Ostwestfalen-Lippe, drei Stunden Zeit, spricht über den Fall und die begangenen Fehler. Er muss eingestehen: "Diese Aservate sind unwiederbringlich verschwunden." Zur Frage, ob ein Polizist – oder sogar mehrere – , sich mit den Tätern eingelassen haben können, sagt er: "Ich sehe da keinen konkreten Verdacht gegen irgendwelche Kollegen."
Opferanwalt kritisiert Behörden
In seiner Kanzlei in Hameln hat Opferanwalt Roman von Alvensleben weniger Vertrauen in die Ermittler: "Die verschwundenen CDs in der Polizeiwache sind ja nicht aus Versehen verschwunden. Da kann man nicht von Aufklärungsinteresse reden."
Von Alvensleben vertritt das Mädchen, deren Mutter den Hauptangeklagten Andreas V. anzeigte. Sie sei stark traumatisiert, verletze sich selbst. Ihre Hoffnung sei, bald mit den schlimmen Erlebnissen abschließen zu können, eine Therapie zu beginnen.
Nur ist das bisher noch nicht möglich gewesen, denn bei den Ermittlungen wurden die Kinder "in den Polizeirevieren vier-fünf Stunden vernommen. Wir haben teilweise Situationen, in denen dann Kinder häufiger aussagen mussten, in Gegenwart der Eltern. Mit Opferschutz hat das schlussendlich wenig zu tun."
Opfer müssen unter Ermittlungsfehlern leiden
Stattdessen hätte man die Opfer auch in einem geschützten Raum kindgerecht aussagen lassen können. Mit einem richterlichen Videomitschnitt. Dann müssten sie jetzt - vor Gericht - nicht noch einmal aussagen. Opfer - manche noch Kinder, andere inzwischen Erwachsen - werden also ihr Leid noch einmal durchleben müssen, solange die Angeklagten nicht gestehen.
Die verschwundenen Aservate und andere Mängel in den Ermittlungen kriegen nun also die Opfer zu spüren, denn: "Je mehr Fehler in den Ermittlungen laufen, umso mehr richtet sich die Verteidigung darauf ein, vielleicht gar nichts zu sagen und sich zurückzulehnen und zu sagen: 'Beweist doch mal und wir torpedieren die Beweise.'"
Beratungsangebot wird wenig genutzt
Ein Sommerregen bricht über das fünf Kilometer vom Campingplatz entfernte SOS-Kinderdorf Lippe herein. Holger Nickel ist hier Leiter der Lebens- und Familien-Beratungsstelle: "Das allererste was wir gemacht haben, ist dass wir eine Sprechstunde in Lügde eingerichtet haben."
Das Ziel: Kontakt zu den Eltern herzustellen: "Dass die anfangen, wieder Ruhe in ein System zu bringen, indem die sich Beratung holen und anfangen zu sortieren ihre Gefühle, ihre Gedanken, ihre Sorgen, Schuldgefühle und dann überlegen: Was braucht mein Kind?"
Doch das Angebot wird wenig genutzt. Klar, viele der betroffenen Familien leben ja gar nicht in Lügde. Aber für diejenigen, die es tun, ist vermutlich die Gefahr zu groß, für alle als Opfer sichtbar zu sein. Das ist die Kehrseite, dass nun alles ans Licht kommt: Die Stigmatisierung - die der Opfer, aber auch die einer ganzen Gemeinde.
Lügdener Oberbürgermeister im Dauereinsatz
"Man kann hingehen, wo man will. Wenn man an der Kasse steht und aus statistischen Gründen nach der Postleitzahl gefragt wird, dann kommt ‚Lügde? Ach Sie geben auch noch zu, dass Sie aus Lügde kommen?‘", erzählt Heinz Reker. Der Lügder Oberbürgermeister ist seit Bekanntwerden rund um die Uhr im Einsatz und nur telefonisch zu erreichen.
Er steht vor der schwierigen Situation, mit dem Missbrauchskandal offen umzugehen und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass die Stadt nicht nur allein über ihn definiert wird: "Wir Lügder und wir Elbrinxer haben auch ein Recht auf Zukunft und daran müssen wir arbeiten."
Ausweg aus der Opferrolle
Wie könnte eine solche Zukunft aussehen? Holger Nickel von der SOS-Beratungsstelle hat da eine Idee: "Lügde entwickelt das Lügder-Modell. Das modernste Kinderschutzmodell in Deutschland und geht damit auf Tour und sagt, wir haben was verstanden, wir haben was gelernt. Und stellt es auch anderen zu Verfügung. Dann käme man aus der Opferrolle raus und aus den Reaktionsgeschichten und kann zeigen, dass man selbst aus den schlimmsten Krisen was lernen kann. Das wäre für viele vorbildhaft."
Soll heißen, dass auch in einer stark individualisierten Gesellschaft die Menschen wieder mehr Verantwortung für einander übernehmen, sich einmischen. Dass Kinder ermutigt werden, Nein zu sagen. Die Sicherheit bekommen, dass ihnen geglaubt wird. - Vermutlich die einzige Chance, die die Lügder haben, ihr Stigma zu überwinden.