
Durch einen schmalen Gang, vorbei an angestaubten Bücherregalen, folgt Arzt Kromp dem Mitbewohner. Sein Patient – er soll hier nur Herr Z. heißen – kommt aus seinem Zimmer. Er ist 33 Jahre alt, hat dunkle, halblange Haare, trägt Jogginghose und Pulli. Wenn er nicht als Garten- und Landschaftsbauer arbeitet, malt er dreidimensional anmutende Bilder. Herr Z. wirkt aufmerksam, zurückhaltend, schüchtern, antwortet hastig auf die Fragen seines Arztes. Seit etwas mehr als zehn Jahren ist er in psychiatrischer Behandlung.
"In psychiatrischer Behandlung bin ich seit Ende 2008, Anfang 2009, seitdem bin ich in psychischer Behandlung. Ich hab eine hebephrene Schizophrenie und eine drogeninduzierte Psychose."
Den letzten Kontrollverlust erlebte Herr Z. vor einigen Wochen. Bislang wurde er fast immer stationär behandelt. Seit Neuestem finden seine Patientengespräche aber nicht mehr in der Klinik statt, sondern an seinem Wohnzimmertisch. Herr Z. erzählt, dass er wieder mit dem Joggen beginnen möchte. Kromp fragt nach den Medikamenten, wie es mit dem Mitbewohner laufe und wann er sich wieder zutraue, arbeiten zu gehen.
Assistenzarzt Franz Kromp ist dabei, seit die Kreuzberger Klinik die Zuhause-Behandlung im Sommer vergangenen Jahres eingeführt hat. Zwar versuche man auch auf Station, die Lebensrealität der Patienten außerhalb der Klinik mit einzubeziehen, sagt Kromp. Die Stationsäquivalente Behandlung biete aber die Möglichkeit,
"dass wir viel näher dran sind am privaten Umfeld, an den Angehörigen und so, und das ist tatsächlich ein großer Vorteil, dass wir diese ganzen Dynamiken, die zuhause stattfinden, oder auch einfach das Umfeld, in dem die Störungen entsteht oder die die Störung auch aufrechterhält, das wird halt viel schneller deutlich als auf Station."
Idealerweise arbeiten bei der Stationsäquivalenten Behandlung alle zusammen: Pflegerinnen und Pfleger, Ärztinnen und Ärzte, aber auch Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die während einer Krise zum Beispiel den Kontakt zum Jobcenter halten. Auch die Angehörigen sollen miteinbezogen werden. Oder wie im Fall von Herrn Z. der Mitbewohner. Der ruft schon mal in der Klinik an, wenn er sich Sorgen um Herrn Z. macht.

"Dass jeder Patient das Recht hat und die Möglichkeit haben sollte, auch in schweren psychischen Krisen auch zuhause behandelt werden zu können durch ein multiprofessionelles Team. Dass also die Leistung, die im Krankenhaus im Moment nur möglich ist, auch zuhause in gleicher Intensität angeboten wird."
Studien zufolge sinkt durch die Zuhause-Behandlung die Belastung für Angehörige. Die Patientinnen und Patienten sind häufig zufriedener mit der Behandlung und brechen die Therapie seltener ab. Auch auf die Krankenhäuser könnte das Auswirkungen haben. Langfristig sind, so die Studien, Menschen mit akuten psychischen Erkrankungen dank der Zuhause-Behandlung seltener und weniger lang auf Station. Die Zuhause-Behandlung könnte so langfristig in den Krankenhäusern Betten sparen. Patientinnen und Patienten könnten obendrein das Stigma umgehen, das heute immer noch für viele mit einem Psychiatrieaufenthalt verbunden ist. Stefan Weinmann:
"Aber die Umsetzung in Deutschland ist suboptimal. Man hat jetzt irgendwann die Entscheidung getroffen, wir müssen das ins Gesetz machen. Und hat ein relativ rigides Modell aufgestellt, nachdem der Patient jeden Tag besucht werden muss."
Deutschland solle sich ein Beispiel etwa an England und den Niederlanden nehmen, sagt Weinmann. Das sogenannte Home Treatment sei dort bereits gang und gäbe.
"Die internationale Evidenz ist unstrittig, aber dieses spezielle deutsche Modell mit seiner Starre ist eigentlich noch nicht evidenzbasiert."
Darüber, wie Menschen mit psychischen Erkrankungen in Deutschland behandelt werden, entscheiden viele Akteure mit ganz unterschiedlichen Interessen. Das Bundesgesundheitsministerium gibt in der Regel die Rahmenbedingungen vor. Über die konkrete Ausgestaltung entscheidet dann die sogenannte Selbstverwaltung im Gesundheitswesen in oft zähen Verhandlungen hinter verschlossenen Türen. Je nach Thema sitzen die Leistungserbringer – also niedergelassene Ärzte, Psychotherapeuten und Krankenhäuser – und die Krankenkassen am Tisch. Gerade in der Psychiatrie haben die Krankenhäuser unter den Leistungserbringern großen Einfluss auf die Entscheidungen über die Versorgung. Denn der Großteil der psychiatrischen Behandlungen findet auf Krankenhausstationen statt.
"Dass jetzt die Krankenkassen und die Deutsche Krankenhausgesellschaft eine Vereinbarung getroffen haben, die an manchen Stellen relativ strikt bestimmte Bedingungen formuliert, wie zum Beispiel, dass auf jeden Fall jeden Tag ein Kontakt stattfinden muss, resultiert ein Stück weit leider auch aus dem Misstrauen im deutschen Gesundheitswesen. Das heißt, die Krankenkassen haben vielfach den Verdacht, wenn sie jetzt eine solche Behandlung zulassen, dass die Krankenhäuser möglicherweise nicht intensiv genug sich um die Behandlung kümmern und dann Geld verdienen, was ihnen vielleicht gar nicht zusteht."
Mechtild Schmedders arbeitet als Referatsleiterin für Qualitätssicherung im Krankenhaus beim Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung. Sie hat die Vereinbarung mit der DKG im Auftrag der Krankenkassen federführend ausgehandelt. Den Vorwurf, dass die Krankenkassen für die rigide Ausgestaltung der Zuhause-Behandlung verantwortlich seien, weist sie von sich.
"Es sind nicht wir, die Selbstverwaltungspartner, die das so eng gestaltet haben, sondern der Gesetzgeber. Der Gesetzgeber hat ganz klar verankert, es handelt sich um die Krankenhausbehandlung zuhause. Krankenhausbehandlung heißt: Sie haben jeden Tag Arzt- oder andere Berufsgruppen-Patienten-Kontakte. Jeden Tag."

"Krankenhausbehandlung zuhause - also das ist ja quasi denklogisch schon kaum nachzuvollziehen. Man hätte aber diese Patienten auch genauso durch einen Ausbau der Institutsambulanzen versorgen können."
Psychiatrische Institutsambulanzen gibt es mittlerweile in ganz Deutschland. Sie versorgen Menschen ambulant im Krankenhaus, teilweise machen Klinikärzte auch Hausbesuche. Diese Einrichtungen sollen bereits heute Schnittstelle zwischen dem Krankenhaus und einem niedergelassenen Psychiater oder Psychotherapeuten sein.
Einen aktuellen Überblick zur Umsetzung der Stationsäquivalenten Behandlung in Deutschland habe das Ministerium nicht, schreibt eine Mitarbeiterin des Bundesgesundheitsministeriums per E-Mail. Auf Nachfrage verteidigt sie allerdings deren zügige Einführung.
Zur Frage, warum nicht bestehende Angebote wie zum Beispiel die Institutsambulanzen ausgebaut wurden, heißt es:
"Aufsuchende Behandlung wird zwar auch von Psychiatrischen Institutsambulanzen erbracht, sie entspricht aber hinsichtlich der Behandlungsintensität nicht einer vollstationären Behandlung."
"Ich glaube, es gab einige Leistungserbringer, die einen zu guten Zugang zu den Politikern in der letzten Legislaturperiode hatten, die auf diesem Wege versucht haben, möglichst schnell weitere Angebote zu schaffen und dann auch in dieser Weise als Krankenhausbehandlung. Anders als bei den Institutsambulanzen, wo die Kassenärztlichen Vereinigungen und damit die Vertretung der niedergelassenen Ärzte vor Ort noch ein Mitspracherecht haben, hat dieses Konstrukt dafür gesorgt, die draußenvorzuhalten."
Die stationsäquivalente Behandlung als zusätzliche Verhandlungsmasse für die Krankenhäuser? Im Klinikbetrieb scheint das Modell bislang keine große Nachfrage auszulösen. Nur eine niedrige zweistellige Zahl an Krankenhäusern hat das Angebot laut Deutscher Krankenhausgesellschaft bislang eingeführt.
"Insofern haben wir auch den Aspekt, dass die Höhe des Entgelts, das im Moment festgelegt ist, keinesfalls die tatsächlichen Aufwendungen der Krankenhäuser refinanzieren kann."
Das bedeutet konkret: Jedes Krankenhaus, das die StäB einführen will, verhandelt mit den regionalen Krankenkassen nach. Das dauert.
"Aufgrund der vergleichsweise kleinen Zahl von Krankenhäusern, die bisher in die Lage versetzt worden sind und dann auch sich bereit sahen, diese Stationsäquivalente Behandlung durchzuführen, muss man sagen, wenn man das bundesweit betrachtet, hat sich für die psychisch kranken Menschen in Deutschland noch nichts Grundlegendes verändert."
Im Bundesgesundheitsministerium sieht man die Lage nicht so dramatisch. Es käme ohnehin nur eine begrenzte Zahl an Krankenhäusern infrage. Und für die Umsetzung brauche es eine Anlaufphase, so eine Ministeriums-Mitarbeiterin.
"Daher ist davon auszugehen, dass die Zahl der Krankenhäuser, die Stationsäquivalente Leistungen erbringen, noch weiter zunehmen wird."
"Das ist eher so ein hilfloser Versuch gewesen, mal so einen kleinen, kleinen Ansatzpunkt zu finden, sektorübergreifend tätig werden zu können, und wir müssen das viel größer und grundsätzlicher denken."
"Da sollte es einfach ein von der Person und vom persönlichen Bedarf aus gesehene Kriterien geben und nicht strikte, die mehr damit zu tun haben: Wie kann jetzt wieder eine Krankenkasse klar abrechnen? Ist das jetzt wie ein stationäres Entgelt zu behandeln oder ist es jetzt mehr wie ein ambulantes Entgelt zu behandeln?"
Dieses Problem habe man auch bei den Krankenhäusern erkannt, sagt DKG-Präsident Gerald Gaß.
"Also, das Denken vom Patienten aus betrachtet und für die Patientinnen und Patienten, das ist leider noch nicht so ausgeprägt, sondern man denkt da eher noch in den Schranken seines Versorgungssektors und in den Grenzen der finanziellen Budgets, die existieren."
Für Grünen-Politikerin Klein-Schmeink leitet sich aus dem Umgang mit der Stationsäquivalenten Behandlung allerdings eine Forderung ab, die die Mitglieder der Selbstverwaltung wohl nicht ohne Weiteres unterschreiben würden. Sie will die Budgets von niedergelassenen und stationären Leistungsanbietern in einen Topf werfen.
"Dass wir wegkommen von diesen zentralistisch beschlossenen Richtlinien und so weiter, sondern dass wir da mehr Rahmensetzung machen und ermöglichen, von guter Versorgung vor Ort, die dann vor Ort gestaltet wird, koordiniert wird zwischen den Trägern der verschiedenen Leistungsanbieter und aber auch den Kommunen."
Der Anspruch der Stationsäquivalenten psychiatrischen Behandlung sollte genau das sein: Über die Grenzen des stationären Sektors hinaus in die Lebensrealität der Patientinnen und Patienten zu wirken. Ist die Zuhause-Behandlung dann letztlich ein Rückschritt, weil sie die Grenzen zwischen stationärem und ambulanten Sektor zementiert? Gesundheitspolitikerin Maria Klein-Schmeink:
"Ich glaube nicht, weil es eröffnet die Möglichkeit, dass in den Stationen gelernt wird, mit solchen Methoden umzugehen, solche Verfahren überhaupt anzuwenden."