
So beschreibt der 26-jährige Berliner, ein schmaler junger Mann, der kaum den Blick hebt, seine Erfahrungen mit Jobcentern. Er lebt bei seinem Vater. Seinen richtigen Namen möchte er nicht im Radio hören, nennen wir ihn also Robert M. Er ist arbeitslos und hat keine Berufsausbildung. M. ist nicht nur einer der mehr als fünf Millionen Menschen, die von Arbeitslosengeld II leben. Bei ihm kommt hinzu, dass er psychisch krank ist: Ärzte haben schon in seiner Kindheit festgestellt, dass er an einer Depression leidet. Für M. heißt das, dass sich Phasen, in denen er sein Leben teilweise in den Griff bekommt, abwechseln mit Phasen, in denen ihm die Kraft für alles fehlt. Er sieht keine Perspektive.
"Seitdem sind halt zwei Entwicklungen eingetreten: Das eine ist, dass die Zahl der Leistungsberechtigten insgesamt zurückgegangen ist, aber auf der anderen Seite sind eben auch diejenigen dringeblieben, die besondere Problemlagen haben. Insofern wissen wir jetzt nicht genau, wie groß der Personenkreis derjenigen ist, die jetzt noch mit psychischen Problemen im SGB II sind. Wir gehen davon aus, dass der Anteil mindestens so hoch ist wie er 2011/2012 gewesen ist. Da könnten wir so knapp im Millionenbereich sein."
Tatsächlich dürften es eher mehr sein: Denn die Forscher erfassen nur diejenigen Arbeitslosen, die eine ärztliche Diagnose bekommen haben.
"Die meisten Menschen glauben, der Zusammenhang ist in erster Linie in der Richtung, dass die Menschen wegen der Frustration und der ganzen Probleme, die mit der Arbeitslosigkeit einhergehen, häufiger psychisch erkranken, häufiger Depressionen kriegen. Meine Erfahrung ist, dass es eher umgekehrt ist, dass Menschen mit Depressionen eben die Arbeit verlieren, oft auch schon in der Ausbildung Schwierigkeiten kriegen, und natürlich in der Depression große Schwierigkeiten haben, sich erfolgreich irgendwo zu bewerben."

Tatsächlich formuliert das Sozialgesetzbuch II die Integration in Arbeit als oberstes Ziel der Jobcenter. Von den Arbeitslosen wird erwartet, dass sie mit hoher Eigeninitiative daran mitarbeiten, die Arbeitslosigkeit möglichst schnell zu beenden. Aber Eigeninitiative fällt gerade psychisch Kranken schwer. Und die Personalausbildung und -ausstattung in den Jobcentern orientiert sich am Ziel der Arbeitsmarktintegration. Nur sogenannte "Fallmanager" erhalten eine besondere Ausbildung für Menschen mit vielen und schwierigen Problemen. IAB-Forscher Peter Kupka:
"Die Struktur der Qualifikation und auch die Anzahl der Fachkräfte ist im Wesentlichen darauf ausgerichtet, einen Personenkreis, der doch weitgehend in den Arbeitsmarkt integriert werden kann, zu betreuen. Also wenn man den Anspruch hat, auch gerade die schwierigen Fälle in den Arbeitsmarkt zu integrieren oder ihnen zumindest bei der Verbesserung ihrer Beschäftigungsfähigkeit oder bei der Verbesserung von Teilhabe und Wohlbefinden ihnen da zu helfen, dann bräuchte man tatsächlich, meiner Einschätzung nach, noch mehr Fachkräfte, die besser im psychosozialen Bereich und im Betreuungsbereich ausgebildet sind."
"Schwierig ist, glaube ich, in erster Linie, das überhaupt zu erkennen. Klar hat man manchmal die Vermutung, und klar gibt es dafür wahrscheinlich auch in Einzelfällen Anzeichen. Das dann zu kommunizieren, ist die zweite Schwierigkeit. Also das ist schon die Frage, die man sich vordergründig stellt: Ist es jetzt klug, ist es jetzt zielführend, das zu thematisieren? Darf ich das überhaupt? Weil, diagnostizieren kann ich das sowie nicht und ich kann auch nicht die richtige Behandlung empfehlen, dafür sind wir ja gar nicht qualifiziert."
Denn die Schwelle für Erwerbsfähigkeit liegt in Deutschland vergleichsweise niedrig: Als erwerbsfähig gilt, wer sofort oder absehbar – das heißt innerhalb der nächsten sechs Monate – auf dem normalen Arbeitsmarkt drei Stunden am Tag arbeiten kann. Wer also in sechs Monaten einen Depressionsschub überstanden hat, ist damit per definitionem erwerbsfähig. Eine Definition, die bis heute ein Streitpunkt zwischen Wissenschaft und Politik ist, beschreibt Forscher Kupka:
"Das war damals eine politische Entscheidung, die sehr weitreichend war, auch im internationalen Maßstab eine sehr geringe Schwelle. Und durch diese geringe Schwelle, mit der man vermeiden wollte, dass man Menschen, die eigentlich noch arbeiten können, in anderen Sozialsystemen parkt, hat man sich eben auch viele gesundheitliche Probleme, soziale Probleme in dieses SGB-II-System hineingeholt".
"Ja, das ist tatsächlich so: Also die Rentenversicherung ist der 'höchstrichterliche Gutachter'. Der Ärztliche Dienst macht dann eine Begutachtung und stellt fest: Ja, er oder sie ist tatsächlich vorübergehend oder auf Dauer nicht erwerbsfähig. Das ist für das Jobcenter ganz entscheidend, weil damit wäre er nicht mehr leistungsberechtigt. Also haben wir dieses Gutachten und informieren das Sozialamt, weil dann wäre die Grundsicherung zuständig. Das Sozialamt nimmt unser Gutachten und schickt es weiter an den Rententräger beziehungsweise schaltet selber den Rententräger ein und sagt, wir hätten jetzt auch gerne ein Gutachten, ob denn der Mensch wirklich erwerbsunfähig ist. Und wenn dann die Rentenversicherung sagt, na, so schlimm ist es dann auch wieder nicht, dann ist er erwerbsfähig. Und dann können wir unser Gutachten nehmen und in die Schublade tun oder in den Reißwolf, und dann ist das Menschlein wieder erwerbsfähig. Also, egal was wir vorher sagen, wenn der Rententräger sagt, da geht noch was, dann ist das die letzte Entscheidung."

"Wir wissen, dass es für viele psychisch Kranke, auch mit schweren Verläufen, ein ganz, ganz wichtiger Punkt ist, dass sie erwerbstätig sein möchten und dass sie eine Erwerbstätigkeit auch als Teil eines normalen Lebens betrachten, was sie unbedingt erreichen wollen, was unter Umständen dazu führen kann, dass sie sich auch überfordern, und dann auch wieder Rückfälle erleiden. Aber grundsätzlich kann man sagen, dass die meisten psychisch kranken Menschen, auch die im SGB II, dass die in der Lage sind, zu arbeiten, dass sie auch arbeiten wollen und dass sie dafür die entsprechende Unterstützung benötigen."
Und es gibt Unterstützung für die Jobcenter, um festzustellen, was der Betroffene kann und was nicht. Zu dem Angebot zählen der Ärztliche Dienst der Bundesagentur, der berufspsychologische Dienst, die Gesundheitsämter, die sozialpsychologische Beratung der Kommunen oder auch Haus- und Fachärzte. Doch diese vielen Anlaufstellen sind oft mehr Problem als Lösung, sagt Fallmanagerin Katja Seidel:
"Grundsätzlich eine breite Angebotspalette zu haben, ist ja erstmal gut. Aber diese rein formellen Strukturen sind unglaublich schwierig, also schon alleine für diejenigen, die in dem Kontext arbeiten, aber erst recht für Menschen, die Hilfe brauchen. Als Mitarbeiter kriegt man das irgendwann getrennt, dass der Ärztliche Dienst der Bundesagentur für Arbeit ein Gutachten über die Erwerbsfähigkeit erstellt, und der berufspsychologische Service ist eigentlich für die Prüfung der intellektuellen Leistungsfähigkeit zuständig. Der prüft nicht, ob jemand eine psychische Erkrankung hat. Das lernt man zum Glück irgendwann."
Schon der Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen konstatierte 2018, dass das Versorgungssystem für psychisch Kranke "selbst für Fachleute nicht in allen Aspekten übersichtlich ist". Das IAB nennt die Angebotspalette eine "schiere Überforderung psychisch Kranker mit dem Dschungel der Zuständigkeiten und Einrichtungen".
"Also diese psychosoziale Beratung ist ja eine neue Leistung, vor 2005 gab es das so in dieser Formulierung nicht und ich glaube, ein Problem besteht darin, dass der Gesetzgeber auch ein Stück weit versäumt hat, diese Leistung zu definieren. Also die kann jetzt auf örtlicher Ebene ganz, ganz unterschiedlich gehandelt werden."
"Der Begriff führt vielleicht ein bisschen in die Irre, weil es eher um Beratung geht und nicht direkt darum, eine Diagnose zu stellen, sondern zu schauen, ist derjenige durch eine psychische Erkrankung möglicherweise daran gehindert oder wird er behindert, einem Job nachzugehen, einer Arbeit nachzugehen. In diesem Zusammenhang guck ich einfach: Braucht der Hilfe, hat der Hilfebedarf, hat der eine Motivation und kann ich ihn dabei unterstützen. Ich sammle die Symptomatik und guck dann, was ist eigentlich möglich, welches Behandlungsangebot würde es möglicherweise geben."
Für Robert M. waren diese Gespräche eine neue und vor allem eine gute Erfahrung: "Man fühlt sich verstanden bei ihr. Das ist so. Man merkt, dass sie auf einen eingeht. Sie geht definitiv auf einen ein und will einem irgendwie auch helfen und unterstützen und ist irgendwie nicht überfordert, wenn man irgendwie mal keine Lust hat".
Mithilfe der Gespräche und einer Therapie hat Robert M. Zuversicht gewonnen: Er bringt sich gerade selber das Gitarrespielen bei, möchte seinen mittleren Schulabschluss machen und dann eine Ausbildung auf einem Flughafen beginnen.
Laut Stiftung Deutscher Depressionshilfe ist diese professionelle Begleitung in den Jobcentern oft erfolgreich. Auch im Jobcenter Lichtenberg soll das Projekt deswegen erneut verlängert werden. Man habe in Fällen helfen können, in denen keine Hoffnung mehr bestand, dass der Betroffene noch Boden unter den Füßen findet, sagt Fallmanagerin Katja Seidel:
"Und im Normalfall hätte dann, auch wenn der sich nicht mehr im Jobcenter meldet, der Vermittler irgendwann gesagt: Na gut, wenn der jetzt nicht mehr kommt, gibt es erst Sanktionen, Sanktionen, Sanktionen, dadurch verliert er eh schon Geld. Und wenn er den Weiterbewilligungsantrag nicht einreicht, dann kriegt er auch irgendwann kein Geld mehr, denn wer keines beantragt, kriegt auch nichts. Dann haben die gar nichts mehr."
In Lichtenberg hat das Jobcenter das Geld aus dem Verwaltungshaushalt abgezweigt. Letztlich sei ein solches Projekt eine politische Entscheidung der jeweiligen Geschäftsführung, sagt Fallmanagerin Seidel.
"Ja, das ist tatsächlich die Frage: Widme ich mich diesem Fokus, widme ich mich der Zielgruppe der gesundheitlich eingeschränkten Menschen oder versuche ich nach wie vor, erst einmal all diejenigen in Arbeit zu bringen, wo das einfacher gelingt. Das ist tatsächlich eine Ausrichtung, die man geschäftspolitisch hat - oder auch nicht."
Für die umtriebige Fallmanagerin, die das Coaching nach Lichtenberg geholt hat, wäre eine Lösung, das Sozialgesetzbuch zu öffnen:
"Also normalerweise gibt es ein Sozialgesetzbuch, ein großes, was aus verschiedenen Bänden besteht. Also das ist schon irre, dass man sich überhaupt zwischen den Sozialgesetzbüchern abgrenzt. Also würde man das SGB II aufschlagen und da steht drin, kooperieren Sie mit Kliniken, und zwar nicht rein für die Diagnostik, sondern für die Beratung und sonst wie, dann würden das vielleicht sogar mehr Häuser machen. Und das wird aber mit Sicherheit die Zukunft sein. Hoffe ich."
Solche Kooperationen fordern auch die Forscher des IAB in Nürnberg – und die OECD. In der 2015 erstellten Studie mit dem Titel "Fit Mind, Fit Job" fordert die Organisation mehr Zusammenarbeit aller zuständigen Institutionen und eine möglichst frühe Intervention und Behandlung dieser Krankheiten. Das Coaching-Modell aus Leipzig wird dabei im Bericht lobend erwähnt.
Doch selbst wenn mehr Jobcenter eine solche Beratung im Haus hätten, an einem Punkt sind sie hilflos: wenn es darum geht, dass die Betroffenen sich nach der Beratung einen Therapieplatz suchen sollen für die leitliniengerechte Behandlung ihrer Krankheit. Vor allem bei der häufig indizierten ambulanten Therapie sind die Wartezeiten sehr lang. Zudem sind psychisch Kranke häufig mit einer intensiven Suche überfordert, sagt Psychologin Petra Rentz:
"Wenn Sie davon ausgehen, dass ein Mensch in der Depression ja schwer antriebsgestört ist und sich überhaupt eigentlich zu allem, was er tut, überwinden muss, der kann nicht 200 Mal anrufen, um endlich mal einen Kontakt zu einem Therapeuten zu haben. Der spricht möglicherweise gar nicht auf den Anrufbeantworter, der hebt gar nicht den Telefonhörer hoch."
Doch auch nach einer erfolgreichen Therapie ist die Aussicht auf einen Arbeitsplatz schlecht. Lediglich zehn Prozent hätten einen regulären Arbeitsplatz, zitiert das IAB Studien. Die Ansprüche an Geschwindigkeit, Belastbarkeit und Flexibilität auf dem regulären Arbeitsmarkt lassen wenig Raum für psychisch erkrankte Menschen, die immer wieder durch Krisen gehen.