Laut Bericht der Krankenkassen ist diejenige Leidensform, die seit Jahren die höchste Zuwachsrate verzeichnet, die psychische Erkrankung. Bei den Krankmeldungen am Arbeitsplatz liegen Depression, Angstneurosen und auch sogenannte Anpassungsstörungen mittlerweile an zweiter oder dritter Stelle, nach Schädigungen der Wirbelsäule, sprich: Bandscheibenproblemen und Herz-Kreislauferkrankungen. All diese Phänomene kann man unter Zivilisationskosten verbuchen; beim Rücken ist das, genau so wie bei den Herz-Kreislauf-Problemen, relativ klar, denn beide Phänomene hängen mit der überwiegend sitzenden Tätigkeit in unserer Berufswelt zusammen, mit Bewegungsarmut und dem allgemeinen Stress, der unsere Arbeits- und Freizeitorganisation prägt. Die Ursache für die seelischen Störungen, die voraussichtlich bald den ersten Platz in der Krankheitsstatistik einnehmen werden, ist nicht so einfach herzuleiten. Sucht man allerdings die rapide Zunahme psychischer Erkrankungen, die psychische Verelendung zu verstehen, so ist eine Annäherung über die anderen Zivilisationskrankheiten möglich. Diese entstehen durch einen Anachronismus unserer Organe: die Wirbelsäule ist anscheinend für unsere bewegungsarme Lebensform ebenso wenig geschaffen, wie unser Herz-Kreislauf-System für den schnellen Rhythmus unserer technisierten Gesellschaft. Die Organe konnten sich nicht schnell genug anpassen, sind also gewissermaßen antiquiert. Dabei können sich Körperteile durchaus entwickeln: der Magen und die Wirbelsäule eines homo australopithecus sah anders aus als zeitgenössische Mägen und Wirbelsäulen. Nur hatten diese Organe hunderttausend Jahre Zeit, um sich den veränderten Umweltbedingungen anzupassen. Durch den Zivilisationsschub der Neuzeit beginnen aber unsere Körperteile beziehungsweise deren Verfassung den Umständen gewissermaßen hinterher zu hinken. Die Zähne können sich nicht schnell genug den veränderten Eßgewohnheiten anpassen und degenerieren, wovon die Zahnärzte profitieren. Die Lunge kann sich ebenfalls nicht schnell genug der veränderten, sprich: vergifteten Atemluft anpassen und zeigt pathologische Reaktionen. Im extremen Fall hört das entsprechend überforderte Organ auf, zu funktionieren: der Magen verdaut eben nicht mehr, die Lunge hört auf, Sauerstoff aufzunehmen.
Wie aber kann eine Psyche antiquiert oder nicht angepasst sein? Unsere Psyche ist wesentlich für Stimmungen und Gefühle verantwortlich, vielleicht auch für unsere Träume und manchmal mischt sie sich sogar in unser Denken ein. Warum aber Gefühle und Stimmungen? Mit Gefühlen und Stimmungen passt sich die Psyche an die Umwelt jenseits bloßer Instinktreaktionen an. Sie ist das Instrument, mit dem der Mensch sich von unmittelbaren Reaktionen auf seine Umwelt befreit. Wenn uns ein Löwe begegnet, so werden wir, wie etwa eine Antilope auch, die Flucht ergreifen; wir entwickeln Angst, was die Antilope vielleicht auch tut. Löwen jedoch gehören nicht mehr zu unserer üblichen Umwelt. Heute haben wir etwa vor einem Polizisten Angst, der uns beim Überschreiten der Höchstgeschwindigkeit erwischt hat. Nun dürfen wir aber nicht mit Flucht reagieren: die spezifisch menschliche Angst muss es uns erlauben, den Fluchtreflex zu unterdrücken und sich wie ein anständiger Staatsbürger reumütig der drohenden Gefahr, der Punkte in Flensburg zu stellen.
Die Funktion der Psyche, so kann man sagen, liegt darin, unsere spontanen Affekte einer differenzierten Umwelt anzupassen, in unserem Fall der sozialen Umwelt. Nun lässt sich jede psychische Störung, jede seelischer Erkrankung mit dem Begriff einer gestörten Anpassung beschreiben; der Depressive kann nicht mehr seiner Arbeit nachgehen, er verhält sich unangepasst. Der Zwangsneurotiker führt Rituale auf, die in seiner sozialen Umwelt vielleicht Aufsehen erregen, und die Mitmenschen wenden sich von ihm ab, da auch er sich unangepasst verhält. Diese Anpassungsstörung, die durch psychisches Leiden hervorgerufen wird, führt also zu fehlgeleiteten Kompensationsmechanismen. Ein einfaches Beispiel: entzieht man einem Menschen absichtlich den Schlaf, eine beliebte Foltermethode, so beginnt dieser nach einer gewissen Zeit zu halluzinieren. Die Halluzination ist eine Form der psychischen Kompensation der zu großen Belastung durch Schlafentzug, aber eine Kompensation, die eine pathologische Form annimmt.
Wie aber kann eine Psyche antiquiert oder nicht angepasst sein? Unsere Psyche ist wesentlich für Stimmungen und Gefühle verantwortlich, vielleicht auch für unsere Träume und manchmal mischt sie sich sogar in unser Denken ein. Warum aber Gefühle und Stimmungen? Mit Gefühlen und Stimmungen passt sich die Psyche an die Umwelt jenseits bloßer Instinktreaktionen an. Sie ist das Instrument, mit dem der Mensch sich von unmittelbaren Reaktionen auf seine Umwelt befreit. Wenn uns ein Löwe begegnet, so werden wir, wie etwa eine Antilope auch, die Flucht ergreifen; wir entwickeln Angst, was die Antilope vielleicht auch tut. Löwen jedoch gehören nicht mehr zu unserer üblichen Umwelt. Heute haben wir etwa vor einem Polizisten Angst, der uns beim Überschreiten der Höchstgeschwindigkeit erwischt hat. Nun dürfen wir aber nicht mit Flucht reagieren: die spezifisch menschliche Angst muss es uns erlauben, den Fluchtreflex zu unterdrücken und sich wie ein anständiger Staatsbürger reumütig der drohenden Gefahr, der Punkte in Flensburg zu stellen.
Die Funktion der Psyche, so kann man sagen, liegt darin, unsere spontanen Affekte einer differenzierten Umwelt anzupassen, in unserem Fall der sozialen Umwelt. Nun lässt sich jede psychische Störung, jede seelischer Erkrankung mit dem Begriff einer gestörten Anpassung beschreiben; der Depressive kann nicht mehr seiner Arbeit nachgehen, er verhält sich unangepasst. Der Zwangsneurotiker führt Rituale auf, die in seiner sozialen Umwelt vielleicht Aufsehen erregen, und die Mitmenschen wenden sich von ihm ab, da auch er sich unangepasst verhält. Diese Anpassungsstörung, die durch psychisches Leiden hervorgerufen wird, führt also zu fehlgeleiteten Kompensationsmechanismen. Ein einfaches Beispiel: entzieht man einem Menschen absichtlich den Schlaf, eine beliebte Foltermethode, so beginnt dieser nach einer gewissen Zeit zu halluzinieren. Die Halluzination ist eine Form der psychischen Kompensation der zu großen Belastung durch Schlafentzug, aber eine Kompensation, die eine pathologische Form annimmt.
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Woran nun muss sich die Psyche in unserer Form der technischen Zivilisation anpassen? Vorläufig seien vier Faktoren genannt: Geschwindigkeitszunahme in allen sozialen Lebensbereichen, das Phantasma der Optimierung, Informationsüberflutung und Bedeutungs- beziehungsweise Orientierungsverlust. Die Geschwindigkeitszunahme, die allgemeine Beschleunigung von gesellschaftlichen Vorgängen, ist das zentrale Thema das französischen Philosophen Paul Virilio: "Mit der Beschleunigung," schreibt er, "gibt es kein Hier und Da mehr, sondern nur noch die geistige Vermischung des Nahen mit dem Fernen, der Gegenwart mit der Zukunft, des Realen mit dem Irrealen, die Vermischung der Geschichte und der Geschichten mit der Furcht einflößenden Utopie der Kommunikationstechniken, die sich auf ihrem Vormarsch mit dem Lumpen einer Fortschrittsideologie verkleidete. "In der von Virilio beschriebenen Vermischung verliert der Mensch die Orientierung und die Kontrolle. Wie die Beschleunigung auf die Psyche wirkt, ist in Charlie Chaplins Film: >Moderne Zeiten < schön dargestellt; ein Arbeiter wird vom Rhythmus der Maschine, mit der er arbeiten muss, gnadenlos überfordert und rennt dann nur noch wie ein aufgescheuchtes Karnickel hin und her. Er liefert sich den Prozessen aus, kann nur noch notdürftig reagieren und nichts mehr steuern. Prinzipiell kann man sagen: je schneller ein Prozess abläuft, desto weniger ist das einzelne Individuum in der Lage, diesen Prozess zu steuern, es verliert die Kontrolle. Ein anderes Beispiel ist das moderne Kampfflugzeug: konnte sich der Aeronaut einer Propellermaschine noch als Steuermann seines Gerätes fühlen, so ist der Pilot eines modernen Kampfbombers seiner Maschine mehr oder minder ausgeliefert, er ist sogar fast überflüssig. Der Geschwindigkeitszunahme bei technischen Abläufen entspricht eine zunehmende Beschleunigung des Wechsels der Lebensumstände. Das betrifft die Arbeitswelt im gleichen Maße wie die sogenannten privaten Verhältnisse. So hat die Verbleibdauer an einem Wohnort oder zumindest in einer Region in den letzten fünfzig Jahren rapide abgenommen; die Menschen in den westlichen Gesellschaften werden nomadisiert. Von echten Nomaden unterscheidet sie aber, dass sie nicht zyklisch auf festgelegten Routen wandern, sondern vielmehr von äußeren Umständen umhergetrieben werden.
In der Arbeitswelt wiederum spiegelt sich dieses Phänomen in der durchschnittlichen Dauer eines Arbeitsplatzes wieder; ging man etwa in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts noch davon aus, dass man seinen Arbeitsplatz in der Regel ein Leben lang behalten kann, so muss man heute im Verlauf einer Erwerbsbiographie mit drei bis sieben Arbeitsstellen rechnen. Eine stärkere Wirkung noch dürfte der beschleunigte Wechsel der familiären Verhältnisse haben: die durchschnittliche Haltbarkeit von partnerschaftlichen Beziehungen hat sich im genannten Zeitraum der letzten fünfzig Jahren quasi halbiert. Im Laufe seines Lebens verbraucht ein Mensch heutzutage die dreifache Anzahl an Partnern als etwa noch vor hundert Jahren.
Der Grund für diese Beschleunigung ist rasch benannt: unsere Gesellschaft ist auf ökonomischen Gewinn und damit auf Wachstum aufgebaut, auf einen beschleunigten Konsum und eine beschleunigte Produktion. Je schneller produziert und verbraucht wird, desto höher der Gewinn. Dieser Mechanismus hat alle Lebensbereiche erfasst.
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Ein weiterer Effekt, den unsere Art des Wirtschaftens hervorbringt und der sich fatal auf die Psyche auswirkt, ist das Phantasma der Optimierung. Unsere ökonomische Ordnung lebt definitiv davon, dass ein ständiges Konsumbedürfnis aufrechterhalten wird. Der zeitgenössische Konsument muss immer mit dem Gefühl herumlaufen, noch etwas zu brauchen, noch eine Hose, noch ein TV-Gerät und so weiter, sonst würde der Binnenmarkt zusammenbrechen. Die Botschaft der Marktwirtschaft, meist via Werbung, lautet: Du kannst Besseres erhalten. Das erzeugt eine Spannung, die sich vorübergehend im Konsum entladen kann und sich danach sofort wieder aufbaut. Das hat zwar in der Warenwelt seinen Ursprung, greift aber ebenfalls auf private Verhältnisse über. Hier lautet die Botschaft: du kannst einen besseren Beziehungspartner haben, du kannst schöner sein, du kannst dich wohler fühlen und so weiter. Der homo consumens ist wesentlich durch das Phantasma der Optimierung, durch diese Spannung geprägt, die eine ständige Suche verursacht, vielleicht auch eine Form von Sucht. An diesem Punkt lässt sich schon feststellen: der rasche Wechsel aller Lebensverhältnisse und das Phantasma der Optimierung versetzen den Menschen in Unruhe und Unsicherheit, da das Vertraute ständig vernichtet und überschritten wird. Das wiederum bewirkt etwas, was man eine Krise, eine große Krise der Geborgenheit nennen kann. Diese Krise der Geborgenheit wird auch vom dritten erwähnten Faktor verursacht, von der Überflutung durch Information. Information wird theoretisch als Abnahme von Unsicherheit definiert. Das ist so zu verstehen: wenn ich nicht weiß, wie ich einen Computer bedienen soll, und erhalte dann die Information von einem anderen Menschen, so hat meine Unsicherheit bezüglich des Computers abgenommen. Wenn aber tausend Leute auf mich einreden, dann wird diese Informationsüberflutung sogar das Gegenteil bewirken; ich werde völlig verwirrt sein und irgendwann vielleicht schreiend davonlaufen. Unsere geschwätzige Mediengesellschaft speist sich aus zwei Quellen: zum einen gibt es einen real erhöhten Kommunikationsbedarf, weil allgemein die gesellschaftlichen Verhältnisse komplexer geworden sind. Auf der anderen Seite existiert ein enormes und überwucherndes Informationsangebot: einige duzend TV-Sender und die schier unendlichen Möglichkeiten des Internets warten auf Benutzer, reizen die Neugier. Die mediale Gesellschaft nutzt nun dieses genuin menschliche Informationsbedürfnis in extremer Weise und überfüttert die einzelnen Individuen. Auch hier spielt Beschleunigung eine Rolle, denn Information lebt von ihrem Neuigkeitswert. Also müssen ständig und immer schneller Neuigkeiten produziert werden. Noch einmal Paul Virilio: "Da die Geschwindigkeit das Geheimnis und damit den Wert der Information gewährleistet, bedeutet die Freisetzung des Leistungspotentials der Medien nicht nur die Vernichtung der Dauer der Informationen, sondern die Vernichtung all dessen, was von Dauer und Bestand ist."
Wenn ein Mensch zu viel Nahrung aufnimmt, so fühlt er sich satt; leider scheint es kein spezifisches Sättigungsgefühl für Informationsaufnahme zu geben, und so entwickeln sich andere Regulationsmechanismen. Immerhin ist der Mensch in der Lage, abzustumpfen. Auf eine Überreizung reagiert die Psyche mit Neutralisierung: alles wird dann zur unterschiedslosen Masse, ein Gemurmel ohne Bedeutung. Die Medien müssen aber gegen diese Tendenz arbeiten, und so entsteht eine merkwürdige Dialektik von Neugier und Abstumpfung, die unsere Mediengesellschaft auszeichnet.
Die Medien müssen, um der Abstumpfung entgegen zu wirken, immer aufregendere Neuigkeiten bringen; aufregend ist aber in erster Linie das, was ein unspezifisches Bedrohungsgefühl hinterlässt und so nehmen wir tagtäglich Nachrichten über all das auf, was uns gefährdet. Durch Botschaften aus aller Welt wird uns nahe gebracht, wie komplex, undurchschaubar und labil unsere Lebensbedingungen sind. Leider funktioniert der Mechanismus der Abstumpfung nur unvollständig, und so bleibt vom den alltäglichen Katastrophenmeldungen über Klimakatastrophe, über Arbeitslosigkeit, über Ölpreise, über die amerikanische Außenpolitik oder über verdorbenes Fleisch nur ein diffuses Bedrohungsgefühl. Der Pionier der Medientheorie, Marshall McLuhan, hat von der Ohnmacht oder einer Betäubung gesprochen, die den Menschen angesichts der Medien befällt. Diese Ohnmacht oder das diffuse Bedrohungsgefühl verstärken die erwähnte Krise der Geborgenheit.
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Die Informationsgesellschaft, in der Medien nach Marktbedingungen funktionieren, erzeugt aber nicht nur ein diffuses Bedrohungsgefühl, sondern führt auch zur Auflösung von Orientierungen. Paul Virilio zeigt den Zusammenhang, wenn er schreibt:
"Die Massenmedien greifen den Selbsterhaltungstrieb der Institutionen wie Demokratie, Justiz, Wissenschaft, Kunst, Religion, Moral, Kultur und so weiter an; im Grunde also das, was gegen das Verschwinden und den Tod gerichtet ist.".
Virilio meint hier den Bedeutungsverlust, der durch die Informationsflut ausgelöst wird. Der Glanz, der von Ideen, Idealen und vielleicht auch Werken ausgeht, verliert in dem Maße, als diese in Konkurrenz zu anderen Ideen, Idealen und Werken treten müssen. Der Monotheismus hat seine Faszination daran, dass neben dem einen Gott alles andere unbedeutend wird; es gibt den absoluten Bezug, der eine Ordnung schafft. Religionen mit mehreren Göttern dagegen waren vor Unsicherheiten und Verwerfungen nicht gefeit; die Götter selber stritten und kämpften ja auch miteinander, und selbst die Tatsache, dass es einen Obergott wie Zeus gab, konnte nicht garantieren, dass dem immer so bleiben würde. Was Zeus seinen Vorfahren, den alten Göttern angetan hat, die er entmachtete, konnte ihm selber auch widerfahren.
Die Säkularisierung unserer Gesellschaft ist Quell einer Bereicherung und einer Verunsicherung zugleich. Es gibt viele Götter, viele Werte, viele Bedeutungen, nichts hat den Status der Verbindlichkeit. Rührend nehmen sich da die Versuche einiger konservativer Politiker hierzulande aus, per Verordnung, etwa durch Kruzifixe im Klassenzimmer, diese Ordnung wieder herstellen zu wollen. Das Individuum in unserer Gesellschaft steht vor der Last der Wahl: es muss sich für Werte und Bedeutungen entscheiden in einer Welt, in der kaum noch Verbindlichkeiten existieren. So gibt es etwa keine zwingenden Gründe dafür, warum Christus besser als Buddha sein soll, oder warum die Toleranz einer rigorosen Strenge vorzuziehen sei. Immerhin existiert ein "common sense", aber der ist eben immer nur "common sense" und damit hinterfragbar. Ein schönes Beispiel war die "political correctness": da wurde versucht, einen verbindlichen Kanon demokratischer Verhaltensweisen einzuführen, aber über kaum etwas ließ sich besser spotten als eben über diese Korrektheit. Das zeitgenössische Individuum ist bei der Wahl seiner Orientierung auf sich selbst zurückgeworfen, muss sich, um das in der Sprache der Existenzialisten auszudrücken, entwerfen, und zwar ohne Grund. Schon der Philosoph Jean-Paul Sartre stellte vor sechzig Jahren fest, dass es im Grunde egal ist, ob man sich im Stillen besäuft oder ob man die Weltrevolution anstrebt: ein Lebensentwurf ist so gut wie der andere.
Auf die Spitze wird dieser Prozess durch das Internet getrieben: jeder kann da alles von sich geben, und die ganze Welt ist sozusagen mit sich selber konfrontiert. Am Ende bleibt ein Einheitsbrei, da es keine privilegierte Information mehr gibt. Es ist fast tragisch festzustellen, dass der Demokratisierungseffekt, den das Internet zweifellos hat auch eine Ausbreitung der Beliebigkeit mit sich bringt, und das verstärkt wiederum den Bedeutungs- und Orientierungsverlust. Der einzige Wert, der in einer Demokratie unhinterfragbar zählt, ist der Konsens, diese Übereinstimmung von Ansichten und Meinungen hat jedoch meistens nur eine sehr kurze Haltbarkeit. Man darf sich aber nicht täuschen: jeder Versuch, hinter diesen Stand der Demokratisierung zurückzukehren, richtet ein noch stärkeres psychischen Elend an. Der Faschismus versuchte ja, genau diese Belastung von den Menschen zu nehmen, freilich mit katastrophalen Folgen. Die Entmündigung ist kein Fluchtweg, auf dem sich der Vielfalt und Beliebigkeit der Werte und Bedeutungen entkommen ließe. In sämtlichen Formen des Fundamentalismus liegt ja ein großes Regressionsangebot, also die Verführung, auf eine kindliche Stufe der Entwicklung und der Weltsicht zurückzukehren. Macht euch keine Gedanken, der Sinn und die Richtung eures Tuns und Wirkens ist vorgegeben: das ist die Botschaft jener fatalen Ideologien, die auf die demokratische Beliebigkeit antworten.
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Noch einmal zusammengefasst: Geschwindigkeitszunahme, Informationsüberflutung, das Phantasma der Optimierung und Bedeutungsverlust sind wesentliche Komponenten einer sich globalisierenden Marktwirtschaft innerhalb einer technischen Zivilisation. Diese Komponenten lösen eine Krise der Geborgenheit aus, denn Geborgenheit wird erzeugt durch Stabilität im Gegensatz zum raschen Wechsel, durch kontrollierbare Reizzufuhr im Gegensatz zur Informationsflut und durch Befriedung der Bedürfnisse im Gegensatz zur ständigen Bedürfnisreizung sowie durch feste Handlungsorientierungen im Gegensatz zur Beliebigkeit von Zielvorgaben.
Unsere Psyche in ihrer archaischen Struktur ist auf Geborgenheit angewiesen: da wir sozial strukturierte Geschöpfe sind und eine Kindheit haben, also eine, nach biologischen Maßstäben gemessen, lange Dauer der Reifung, sind wir auf Schutzräume angewiesen. Natürlich werden wir erwachsen und dazu gehört auch, sich auf neue Verhältnisse einstellen zu können; diese Kompetenz wird aber nur erreicht, wenn sie zuvor erlernt wurde. Auf einen Mangel an Geborgenheit reagiert unsere Psyche mit einer ganzen Palette von möglichen Verhaltens- und Erlebensweisen. Grundlegend ist die Anspannung: wer in unvertraute Gegenden kommt ist immer angespannt als in den eigenen vertrauten vier Wänden. Neben einer generellen Anspannungszunahme differenzieren sich dann emotionale Zustände wie Angst, Depression oder auch Aggression heraus.
Zunächst die Anspannung, die eine Stressreaktion hervorruft. Stress wiederum bewirkt erhöhte Muskelanspannung, erhöhte Kreislaufaktivität, Einschränkung der Verdauungsfunktion und noch einiges mehr. Kann dieser Zustand nicht motorisch, also durch Bewegung umgesetzt werden, was in unserer Zivilisation meist der Fall ist, so drohen chronifizierte Fehlfunktionen: Rückenschmerzen, die sich bis zu einem Bandscheiben-vorfall steigern können, Magengeschwüre oder auch Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems. Das sind übliche Zivilisationskrankheiten, wichtig ist aber zu sehen, dass diese psychosomatischen Erkrankungen ein Resultat der Anspannung sind, die als Primärreaktion auf fehlende Geborgenheit folgt. Falls diese Kompensationsfunktion, die psychosomatische Erkrankung, noch nicht ausreicht und die Spannung bestehen bleibt, so kann die Psyche mit dem Verlust des Handlungsimpulses reagieren. Auch das lässt sich als archaische Struktur im Tierreich beobachten: zunächst reagiert das ausgesetzte Jungtier mit hektischer Aktivität; kann es aber nichts erreichen, so erstarrt es förmlich und wird passiv. Eine überforderte menschliche Psyche reagiert ähnlich. Den Verlust des Handlungsimpulses bezeichnet man als Depression, alle in psychiatrischen Lehrbüchern geschilderten depressiven Symptome können darauf bezogen werden. In schweren Fällen der Depression steigert sich dieser Verlust des Handlungsimpulses bis zum sogenannten katatonen Stupor, bis zur völligen Erstarrung. Diesen Zustand kann man auch als extremen Schutzmechanismus begreifen; ähnlich wie der Organismus bei Überforderung der vegetativen Funktionen mit einer Ohnmacht reagiert, so reagiert die überforderte Psyche mit einer Abschottung und Erstarrung. Um hier nicht die leidige Debatte nach genetischen und körperlichen Ursachen der Depression aufkommen zu lassen, sei vermerkt: natürlich haben Depressionen eine physiologische Entsprechung, aber jede psychische Aktion ist von einer entsprechenden Aktivität im Gehirn begleitet. Sicher mag es auch sogenannte Dispositionen geben, aber seitdem man weiß, dass sich die neuronalen Strukturen des Verhaltens erst nach und nach bilden, ist die Frage nach der Erstursache überflüssig geworden.
Die Depression kann als pervertierte Fluchtreaktion auf eine Bedrohungssituation verstanden werden; gelingt diese depressive Fluchtreaktion aus irgendwelchen Gründen nicht, so kann sich Panik des Betroffenen bemächtigen, eine Panik, die primär immer Todesangst ist. Die Panik-Reaktion setzt dann ein, wenn Anspannung und Fluchtreflex, beziehungsweise Erstarrung sozusagen ausgereizt sind. Menschen, die unter einer sogenannten Angststörung leiden, berichten von einem heftigen Gefühl, dass irgend etwas mit ihnen geschieht. Meist wird dazu ein vegetativer Zusammenbruch assoziiert, der aber in der Regel nicht eintritt.
In der psychotherapeutischen Praxis dominiert mittlerweile eine Diagnose: Angst und Depression gemischt. In der Tat treten psychische Störungen meist gemischt auf, wobei je nach Individuum und Auslöser und vielen anderen Faktoren die Anteile von Depression, Angst und Somatisierungen unterschiedlich gewichtet sind. Es gibt auch reine Formen: Depression ohne jede Angstkomponente oder Angstneurosen, die mit keinerlei depressiver Verstimmung einhergehen, aber die Mischformen sind das, was die psychische Verelendung unserer Gesellschaft am stärksten prägt. Hier stellen sich weitere Fragen. Noch einmal Paul Virilio: "Infolgedessen steht die Frage nach der Freiheit im Zentrum der Problematik sowohl der technischen als auch der Neuro-Wissenschaften. In welchem Maße ist es dem Individuum möglich, der Verwirrung der Sinne zu entkommen? In welchem Maße wird es noch in der Lage sein, sich vor der plötzlich hereinbrechenden Überreizung seiner Sinne zu schützen? Mit welcher Form der Abhängigkeit oder Gewöhnung werden wir es in Zukunft zu tun haben. Handelt es sich um eine Phänomen der Besitzergreifung oder der Enteignung?"
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Bisher hört sich das fatal an: die Funktionsweise unserer Form der technischen Zivilisation in einer sich globalisierenden marktwirtschaftlichen Unordnung führt zu einer spezifischen Überforderung der Psyche und somit zu einer Epidemie psychischer Störungen. Nun zeichnet sich gerade die technische Zivilisation auch dadurch aus, dass sie für organische Defizite, allgemein für die naturgegebenen Mängel des Menschen, technischen Ersatz schaffen kann. Die Rede ist von Prothesen: Wie die Prothese, etwa ein Herzschrittmacher, auf das überlastete Herz-Kreislauf-System reagiert, so hält unsere Gesellschaft zahlreiche Psychoprothesen bereit, deren geläufigste Form das Psychopharmakon ist. Psychopharmaka haben primär eine Regulierungsfunktion für eine außer Fassung geratenen Psyche. Es gibt prinzipiell zwei Richtungen der Regulierung: aktivierend und sedierend. Bei Verlust des Handlungsimpulses führt die Tablette gewissermaßen Aktivität von außen zu; bei Panik andererseits wird die Beruhigung in Form einer künstlicher Reizhemmung bewirkt. Die nicht-medizinische Form dieser Psychoprothese ist die Droge, wobei es keinen wesentlichen Unterschied zwischen Drogen und Psychopharmaka gibt, denn letztlich handelt es sich um Mittel, das Wohlbefinden zu steigern. Der Nebeneffekt: Drogen und Psychopharmaka führen prinzipiell zu einer Abhängigkeit, auch wenn die pharmazeutische Industrie immer bemüht ist, das Gegenteil zu beweisen. Wenn wir auf einen Stoff angewiesen sind, damit es uns einigermaßen erträglich geht, so sind wir auch von diesem Stoff abhängig. Die Unterscheidung von psychischer und körperlicher Abhängigkeit verkennt die eigentliche Suchtproblematik.
Eine weitere Form der Psychoprothese, die unsere technische Zivilisation für ihre Opfer bereitstellt, unterstützt die Betäubungs- oder Fluchtreaktion und hilft so, Angst und Depression zu verhindern. Die Medien unserer Gesellschaft, wesentlich TV und Computer, sind solche Psychoprothesen. Menschen ziehen sich mit Hilfe von Medien aus der bedrohlichen Umwelt zurück, und da die Umwelt des Menschen nun mal wesentlich der Mensch selbst ist, wie es so schön heißt, betrifft dieser Rückzug auch die sozialen Kontakte. Medien haben, wie bereits erwähnt, etwas Betäubendes, und in der Tat: wer vier Stunden am PC spielt oder im Fernsehen sich eine Talkshow nach der anderen zu Gemüte führt, der ist mit seinen Sinnen in diesen Medien gefangen und nach außen hin betäubt. Die Subtilität der Verführung durch Medien liegt darin, dass Fernsehen und Computer gleichzeitig mit der Betäubung auch das Reizbedürfnis der Menschen stillen. Die Betäubung, die Abschottung alleine genügt nicht, denn sie agiert gegen die Neugier des Menschen, gegen seine prinzipielle Umweltorientierung. Also füttern die Medien die Menschen mit ständig neuen Reizen und betäuben sie damit in einem Atemzug. Neben den Medien gibt es viele Veranstaltungen in unserer Zivilisation, die einen solchen Effekt von Erregung und Betäubung haben und die die Freizeitindustrie bereitstellt, aber all dies funktioniert nach einem ähnlichen Muster. Die Krise der Geborgenheit, die den Einsatz von Psychoprothesen nach sich zieht, führt zu einer Lebensform, die einen speziellen Prototypen hervorbringt: einen mit Psychopharmaka sedierten Menschen, der neben seiner Arbeit, sofern er überhaupt eine hat, die meiste Zeit vor dem Computer oder dem Fernseher sitzt, seine sozialen Kontakte ebenfalls über den PC laufen lässt und vielleicht gar nicht mal mehr in den Supermarkt einkaufen geht, da er ja seinen Lebensmittelbedarf auch online bestellen kann.
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Es soll hier nicht der Teufel an die Wand gemalt werden, und noch macht der eben geschilderte Prototyp vielleicht ein Fünftel der Gesellschaft aus; wichtig aber ist zu sehen, dass die Psychoprothesen, die unsere Gesellschaft bereithält, die psychische Verelendung eindämmen und damit psychosomatische Störungen, Angstneurosen oder aber auch soziale Eruptionen im größeren Ausmaß verhindern. Dafür droht eine Gesellschaft, deren Vision jeden Humanisten die Haare zu Berge stehen lässt. Der Mensch begibt sich zurück in jene Unmündigkeit, der zu entkommen die Aufklärung angetreten ist. Immerhin aber wäre es auch eine friedliche Gesellschaft: wenn alle Menschen sediert vor Bildschirmen sitzen, wird kaum ein größerer Konflikt entstehen. Allein, das scheint ein schwacher Trost.
Gibt es Alternativen zu diesem Prozess? Zwei Auswege sind denkbar: der eine läge in einer gesellschaftlich organisierten Psycho-Hygiene, der andere wäre ein politischer.
Psychohygiene hieße, dass der Mensch sich darin übt und lernt, mit den Überforderungen umzugehen. Also Gesprächskreise statt TV, Meditation statt Massentourismus, Psychotherapie statt Psychopharmaka, also all das, was Allgemeingut des Humanismus ist. Solche Menschen hätten aber den Nachteil, dass sie aus dem Konsumrhythmus aussteigen müssten. Die bisherige Erfahrung hat gezeigt, dass sich Psychohygiene eher privilegierte Schichten leisten können; ein großer Teil der Bevölkerung steht jedoch derart unter Druck, dass der Raum für solche Exerzitien einfach nicht gegeben ist. So bleibt die politische Lösung, auch wenn nicht absehbar ist, wie das funktionieren soll. Die psychische Verelendung unserer Gesellschaft und deren Kompensation durch Psychoprothesen hat eine fatale Eigendynamik entwickelt: es bleibt die Aufforderung an jeden Einzelnen, freilich unter der Voraussetzung, dass er humanistische Wertvorstellungen teilt, sich in seinem eigenen Umkreis gegen diese Eigendynamik zu stemmen. Kaum etwas schwerer, als dieser Aufforderung nachzukommen.