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Psychoanalytikerin
"Es gibt keine richtigen Entscheidungen"

Richtige Entscheidungen bei großen Lebensfragen gebe es nicht, sondern Entscheidungsprozesse, die klug getroffen würden, sagte die Psychoanalytikerin Maja Storch im Dlf. Entscheidungen zu treffen, könne man lernen - wenn man wisse, worauf man zu achten habe.

Maja Storch im Gespräch Maja Ellmenreich | 06.08.2017
    Ein blaues rundes Verkehrsschild mit einem weißen Pfeil, der nach links zeigt, und einem Pfeil, der nach rechts zeigt.
    Kopf oder Bauch? Entscheidungen zu treffen, lässt sich lernen (imago/STPP)
    Maja Ellmenreich: Pizza oder Pasta? Ostsee oder Nordsee? Trennung oder ein allerletzter Versuch bei der Paarberatung? Endlos ist die Reihe der Entscheidungen, die wir im Laufe eines hoffentlich langen Lebens treffen: Ganz belanglose sind darunter, aber auch folgenschwere. Pro Tag sollen es rund 20.000 Entscheidungen sein, die wir treffen. Viele davon sicher, ohne groß darüber nachzudenken. Aber so manch eine Entscheidung bereitet doch großes Kopfzerbrechen. "Die Qual der Wahl" – so lautet denn auch der Titel unserer Sommerreihe hier in "Information und Musik". Und über besagte Qual, über die weitverbreitete Entscheidungsschwäche jetzt ein Gespräch mit Maja Storch. Sie ist Diplom-Psychologin, Psychoanalytikerin, und sie hat mehrere psychologische Ratgeber geschrieben. Einer etwa trägt den Titel "Das Geheimnis kluger Entscheidungen". Frau Storch, bei dem Titel habe ich gestutzt: "Die kluge Entscheidung". In unserem Sprachgebrauch heißt es doch eher, "die richtige Entscheidung" zu treffen. Gibt es da einen Unterschied für Sie zwischen klug und der richtigen Entscheidung?
    Maja Storch: Ja, da gibt es einen großen Unterschied, und dieser Titel ist mit Bedacht gewählt. Denn wenn man davon ausgeht, dass es eine richtige Entscheidung gibt, dann hat man so eine Vorstellung, als würden die richtigen Entscheidungen irgendwo rumliegen wie Ostereier, die man irgendwie findet. Wenn es um den Bereich von menschlichen Weichenstellungen geht, also das, was Sie jetzt gerade angesprochen haben, soll ich in der Ehe bleiben oder soll ich mich trennen oder es nochmal versuchen, dann kann man von der richtigen Entscheidung eigentlich gar nicht sprechen, weil man dazu eine Kristallkugel bräuchte und in die Zukunft sehen müsste, um zu wissen, was war richtig. Richtige Entscheidungen gibt es, wenn es heißt, zwei plus zwei ist vier, und wenn dann jemand sagt, es ist fünf, dann sagt man, nein, das ist falsch. Aber in diesem großen Bereich der Lebensfragen gibt es keine richtigen Entscheidungen, sondern nur Entscheidungsprozesse, die klug getroffen wurden.
    Ellmenreich: Also das eine, wenn ich Sie richtig verstehe, ist eher vom Ergebnis her gedacht, was man ja meistens noch nicht kennt, wenn man gerade vor der Qual der Wahl steht, und das andere eher vom Findungsprozess. Was empfehlen Sie für diesen Findungsprozess denn?
    Storch: Für diesen Findungsprozess ist es ganz wichtig, dass man die beiden Bewertungssysteme, die jeder Mensch in seiner Psyche hat, den Verstand und das unbewusste emotionale Erfahrungsgedächtnis, dass man diese beiden Bewertungssysteme miteinander abgleicht, sodass die beiden zur selben Bewertung kommen.
    Wenn Verstand und Bauch nicht einer Meinung sind
    Ellmenreich: Also Hirn und Bauch.
    Storch: Man kann das Bauch nennen, ja. Wobei auch die Vorgänge, die man im Volksmund "im Bauch" nennt, die sind natürlich auch im Gehirn zu beobachten, im sogenannten limbischen System. Aber man könnte es jetzt Kopf und Bauch nennen alltagssprachlich. Diese beiden Systeme müssen zur Deckung gebracht werden. Und Menschen sind dann unglücklich und innerlich zerrissen, wenn der Verstand etwas anderes empfiehlt als dieser Bauch, als das Gefühl.
    Ellmenreich: Wie kommt es dazu, dass es da so häufig – ist meine Beobachtung zumindest – so häufig zum Widerspruch beziehungsweise zu einem Konflikt dieser beiden Systeme kommt?
    Storch: Dieser Widerspruch entsteht dadurch, dass diese beiden Systeme nach unterschiedlichen Kriterien bewerten. Der Verstand bewertet nach dem Kriterium, was ist sachlich richtig, was ist moralisch, was ist vernünftig. Und dieses unbewusste System bewertet nach dem Bewertungskriterium: Ist es angenehm oder unangenehm? Habe ich Lust darauf oder habe ich keine Lust drauf? Das sind zwei völlig verschiedene Perspektiven, die auf ein- und dieselbe Sache eingenommen werden. Deswegen kann es sein, dass Sie etwas Vernünftiges beabsichtigen, aber überhaupt keine Lust darauf haben.
    Ellmenreich: Kann man jetzt wahrscheinlich generell nicht sagen, wer eigentlich in der Regel mehr Recht hat beziehungsweise der bessere Ratgeber ist, oder?
    Storch: Da sind viele Bücher drüber geschrieben worden, zum Beispiel wenn wir Seminare in der Wirtschaft machen, da treffen wir immer auf Menschen, die haben die Idee von dem sogenannten Homo Oeconomicus, also so ein typischer Business-Mensch, der hat so ein Menschenbild, wo er sagt, man muss doch nach sachlichen, rationalen Kriterien entscheiden. Und diese Einseitigkeit ist falsch, genauso, wie wenn ich in so einen Esoterikzirkel gehe, wo Räucherstäbchen angezündet werden und wo man sagt, folge dem Weg des Herzens, das Herz hat immer recht. Das ist aus wissenschaftlicher Sicht genauso falsch. Es geht darum, dass man zwei Systeme hat, und die müssen zur Deckung gebracht werden.
    Ellmenreich: Und sich dieser beiden Systeme auch bewusster ist, verstehe ich Sie da richtig?
    Storch: Genau, das muss man wissen, dass es die beiden Systeme gibt. Man muss auch wissen, dass die nach verschiedenen Kriterien beurteilen, man muss auch wissen, dass man völlig im Bereich der Normalität sich bewegt, wenn man Unterschiede wahrnimmt zwischen diesen beiden Bewertungen. Und dann muss man auch über eine Vorstellung davon verfügen, was man dann macht, wenn man so eine innere Zerrissenheit spürt.
    Manche Menschen leiden unter ihrer Entscheidungsschwäche
    Ellmenreich: Ist so eine innere Zerrissenheit, ist so eine Entscheidungsschwäche weit verbreitet, so wie ich das vorhin gesagt habe, oder ist das eben nur meine subjektive Wahrnehmung, weil ich ja vielleicht persönlich auch ein bisschen darunter leide?
    Storch: Weit verbreitet – ich glaube, im menschlichen Leben kommen Sie ständig in Situationen. Jeder ganz normale Mensch kommt ständig in Situationen, wo er zum Beispiel was Vernünftiges möchte, aber keine Lust drauf hat. Typisches Beispiel sind diese ganzen Neujahrsvorsätze. Ich werde jetzt joggen, ich werde jetzt weniger Schokolade essen, ich werde mit dem Rauchen aufhören, all diese Sachen. Dann gibt es die andere Variante, dass Sie auf etwas große Lust haben, was völlig unvernünftig ist. Da kann man zum Beispiel das Thema Seitensprung erwähnen. Das passiert auch jedem Menschen mal im Lauf seines Lebens, oder den allermeisten, also das ist völlig normal. Und dann gibt es aber einen bestimmten Persönlichkeitstyp, der im Prinzip mit einer Entscheidungsschwäche sich chronisch herumschlagen muss. Das sind Menschen, die ihre Gefühle nicht wahrnehmen, ununterbrochen grübeln mit dem Verstand, und grübeln und grübeln und da kommt man auf keinen grünen Zweig.
    Ellmenreich: Würden Sie da vielleicht sogar von was Pathologischem sprechen, als von einer Krankheit, unter der da manche leiden?
    Storch: Ach, man muss ja nicht alles gleich so pathologisieren. Aber jeder kennt so Leute, die schon kaum in der Lage sind, auf einer Speisekarte in der Pizzeria sich zu überlegen, welche Pizza will ich jetzt.
    Ellmenreich: Aber was ist genau der Kern dieses Problems. Ist das vielleicht Angst, Angst vor der Konsequenz, dann doch die falsche Pizza gewählt zu haben und doch nicht die mit den Muscheln, sondern lieber die mit der Salami?
    Storch: Sie merken ja selbst, wenn Sie das so sagen. Denn wenn man sich das vorstellt, dass da jemand sitzt und empfindet ernsthaft Angst, ob er jetzt Pizza mit Salami oder Pizza Vongole nehmen soll – das ist ja absurd. Weil das ist ja jetzt wirklich keine Risikosituation. Man muss es aber nicht unbedingt als Angst bezeichnen, sondern es reicht, wenn man sagt, diese Menschen haben keinen Zugang zu ihren Gefühlen, und die fühlen nicht, wann das Unbewusste sagt, au ja, darauf habe ich Lust. Also eine Patientengruppe, die darunter leidet, sind Menschen mit Essstörungen. Das nennt man Alexithymie, die Unfähigkeit, Gefühle wahrzunehmen, Gefühlsblindheit. Und die gute Nachricht für diese Personengruppe ist, die haben diese Art von Signalen noch, also diese Bauchgefühle. Die nehmen sie nur nicht wahr. Und dieses Wahrnehmen kann man trainieren.
    Arbeiten mit dem Bauchgefühl
    Ellmenreich: Also es gibt Hoffnung, und wir sprechen jetzt die ganze Zeit eher übers Pathologische, vielleicht eher über das Negative. Gibt es denn auch was Positives? Kann man der Qual der Wahl beziehungsweise der Entscheidung auch was Lustvolles abgewinnen?
    Storch: Ja. Wenn man weiß, wie man mit diesen Gefühlen umgeht, kann man da sehr wohl etwas Lustvolles abgewinnen, indem man sich das zunächst mal klar macht, was sind denn die Verstandesgründe, die dafür sprechen, und was sagt denn mein Bauchgefühl. Und dann ist es als nächster Schritt wichtig, dass man anfängt, damit zu arbeiten, dieses Bauchgefühl zu übersetzen. Dieses Bauchgefühl hat nämlich die Eigenschaft, dass es keine Worte zur Verfügung hat. Es ist ein aus Sicht der Evolution gesehen sehr altes System, das vorsprachlich arbeitet. Das äußert sich über Körperempfindungen – also der Kloß im Hals oder der Druck im Nacken oder komisches Gefühl im Bauch, Enge in der Brust, solche Sachen – oder über ein Gefühl im Sinn einer Emotion: Da fühle ich mich irgendwie seltsam, oder da habe ich ein bisschen Angst davor oder da freue ich mich sehr drüber, solche Sachen. Und man hat manchmal noch gar keine Worte, woher das kommt genau.
    Ellmenreich: Nun sind diese Gefühle Jahrtausende, wenn nicht noch älter. Aber die Welt drumherum hat sich ja doch auch geändert. Der Neandertaler musste nicht im Supermarkt sich zwischen 25 Joghurtsorten entscheiden. Also welche Rolle spielt unsere Gesellschaft und vielleicht unser Leben im 21. Jahrhundert auch, wenn wir über Entscheidungsschwäche sprechen?
    Storch: Gerade in unserer Gesellschaft ist es so wichtig wie überhaupt noch nie im ganzen Leben, über diese Fähigkeit zu verfügen, diese Körpergefühle wahrzunehmen und sie gut mit Verstandesüberlegungen zum Abgleich bringen zu können, denn wir müssen viel mehr Entscheidungen treffen wie so ein Neandertaler. Wie Sie sagen, mit den 25 Joghurtsorten. Auch, was Lebensentscheidungen betrifft, soll ich jetzt Kinder kriegen oder später Kinder kriegen, soll ich hierhin ziehen, soll ich dort hinziehen? Soll ich erst ein Sabbatjahr machen, soll ich erst durch Amerika reisen? Diese ganzen Varianten, die hatte der Steinzeitmensch noch gar nicht. Und wir müssen uns permanent entscheiden und brauchen darum menschheitsgeschichtlich eine ganz besondere Entscheidungskompetenz.
    Entscheidungskompetenz kann man erlernen
    Ellmenreich: Droht womöglich auch dem Menschen im 21. Jahrhundert so etwas wie eine Entscheidungserschöpfung oder ein Entscheidungsburnout, weil es einfach zu viel ist?
    Storch: Wenn man nicht weiß, wie es geht, kann einen das wirklich kirre machen, ja. Aber wenn man weiß, worauf man zu achten hat, dann tangiert einen das gar nicht, weil dann kann man genauso schnell entscheiden, wie wenn man weniger Entscheidungen hätte. Wie gesagt, das ist eine Fähigkeit, die kann man lernen.
    Ellmenreich: Und wie das funktioniert, das hat uns Maja Storch erklärt, zumindest schon mal die Grundzüge. Wer mehr wissen möchte, dem sei ihr Buch "Das Geheimnis, kluge Entscheidungen" empfohlen. Haben Sie ganz herzlichen Dank für das Gespräch, Frau Storch!
    Storch: Ja, ich bedanke mich auch und wünsche noch eine schöne Zeit!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.