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Psychologisch bedeutsam

Wiese: Frau Akgün, versprechen kann der Bundeskanzler den Türken eine EU-Mitgliedschaft sicherlich nicht, aber er wird ihnen wohl große Hoffnungen machen. Wie berechtigt sind dieses Hoffnungen?

    Akgün: Der Kanzler spricht davon, dass die Türkei weder einen Bonus noch einen Malus bekommt, sondern dass sie ihre faire Chance haben soll. Ich finde das ganz richtig. In allen Forschungsberichten lesen wir, dass sehr viele Reformen wirklich auf den Weg gebracht worden sind, aber dass die Implementierung etwas besser voran getrieben werden muss. Es geht darum, ob die Reformen auch in der Praxis umgesetzt werden und wie schnell sie umgesetzt werden.

    Wiese: Die EU-Mitgliedschaft der Türkei hängt ja davon ab, ob das Land die sogenannten Kopenhagener Kriterien erfüllt, dass heißt, ob Demokratie und Rechtstaatlichkeit gewährleistet sind, ob die Menschenrechte eingehalten und Minderheiten angemessen geschützt werden, um nur einige Beispiele zu nennen. Sie sagen, die Gesetze sind da, aber die Umsetzung, die fehlt offenbar noch? Wie sieht es da aus?

    Akgün: Zum Beispiel im Bereich Folter, da hat ja Ministerpräsident Erdogan gesagt, es gibt Null Toleranz. Trotzdem erfährt man immer wieder, dass die Umsetzung nicht so schnell klappt, dass trotzdem immer noch gefoltert wird. Bei den Rechten für Minderheiten gibt es immer noch Probleme bei der Umsetzung des Kurdischunterrichts. Das klappt noch nicht so gut. Es gibt immer wieder bürokratische Hürden. Das sind die Dinge, um mal zwei zu nennen, die einfach verbessert werden müssen. Der gute Wille der Regierung ist da. Das kann man ihr wirklich nicht absprechen. Es ist aber nicht einfach, bürokratische Verfahren, die sich über Jahrzehnte eingeschliffen haben, jetzt ganz schnell zu verändern. Das ist nicht einfach.

    Wiese: Die Gesellschaft für bedrohte Völker hat sich gestern zu Wort gemeldet und zwar negativ, was die Aufnahme der Türkei in die EU angeht. Sie sind der Meinung, dass die Reformen, wie gesagt, nur auf dem Papier existieren, nicht umgesetzt werden, dass die Kurden und auch die christlichen Minderheiten weiter unterdrückt werden, dass die Zulassung der kurdischen Sprache in Medien und Schule, die Amnestie für 6000 politische Gefangene und so weiter und so fort, dass all dieses nicht umgesetzt wird. Da scheint es doch wirklich noch große Defizite zu geben. Wo sind denn die Kräfte, die dagegen vorgehen, die das tatsächlich umsetzen wollen und wo sind die Gegenkräfte?

    Akgün: Die Gegenkräfte sind sicherlich da, wo verknöcherte und verkrustete Strukturen in der Bürokratie herrschen, die nicht verstehen können oder wollen, dass jetzt die Uhren anders gehen, dass sich Dinge verändert haben, dass es eben Kurdischunterricht gibt, nachdem es ja Jahrzehnte lang ein Tabu war, überhaupt das Wort Kurdisch in den Mund zu nehmen. Die Kräfte, die all die Veränderungen hier befürworten und vorantreiben sind sicherlich die zivilen Organisationen, die schon seit Jahren dafür gekämpft haben und jetzt natürlich auf eine schnelle Umsetzung pochen.

    Wiese: Besondere Ängste löst bei vielen Beitrittsgegnern die Tatsache aus, dass die Türkei zur islamischen Welt gehört. Ministerpräsident Erdogan selbst galt früher als islamischer Fundamentalist. Er hat sich offenbar gewandelt. Wie groß ist aber dennoch die Gefahr, dass die Islamisten in der Türkei immer mehr Macht gewinnen?

    Akgün: Diese Gefahr sehe ich eigentlich nicht. Sie wissen, dass alle immer ein bisschen skeptisch und vorsichtig geguckt haben, als Erdogan an die Macht kam. Das Misstrauen hat sich nicht bewahrheitet. Im Gegenteil, gerade die Regierung Erdogan hat ja sehr viele Veränderungen und Reformen auf den Weg gebracht. Sie sind jetzt zum Beispiel dabei, das Stiftungsrecht zu ändern, so dass auch christliche Minderheiten hier in der Türkei sich Eigentum erwerben können, dass sie mehr Möglichkeiten bekommen, zum Beispiel auch Kirchen zu bauen. Das betrifft zum Beispiel auch die protestantische Minderheit, die hier keine alt eingesessene Minderheit ist, sondern zum Teil aus konvertierten Türken und zum Teil aus Ausländer, die hier leben, besteht. Ich glaube, dass der Ehrgeiz von Erdogan inzwischen darin liegt, zu zeigen, dass Islam und Demokratie kompatibel sind und dass die Türkei in der Richtung ein vorbildliches Land werden könnte. Dass er damit auch auf Widerstand stößt, gerade bei kemalistischen Eliten, die eine ganz strikte Trennung von Kirche und Staat befürworten und alles sehr misstrauisch beäugen, was an Veränderung kommt, ist sicherlich eine Tatsache. Ich glaube, dass die Veränderungen in der Türkei große Auswirkungen auf den Nahen Osten und die dortige Entwicklung der Demokratisierung haben könnten. Israel zum Beispiel verfolgt mit großem Interesse die Veränderungen in der Türkei, weil sich dieses Land einen größeren Friedensprozess im Nahen Osten davon verspricht.

    Wiese: Wenn Sie von Auswirkungen über die Türkei hinaus sprechen, welche Bedeutung hätte denn ein EU-Beitritt beziehungsweise eine Ablehnung für die über 2 ½ Millionen türkischstämmigen Menschen in Deutschland?

    Akgün: Ich bin ja nicht nur Mitglied im EU-Ausschuss sondern auch im Innenausschuss und Integration zählt zu meiner autochthonen Aufgaben. Ich bin der Meinung, dass die psychologische Wirkung eine starke sein wird. Sollte die Türkei am Ende dieses Jahres kein Datum genannt bekommen, wäre das für die in Deutschland und Europa lebenden Türken wieder ein Zeichen von Ausgrenzung und Nichtgewolltsein, zu mal ja die Oppositionsparteien immer wieder davon sprechen, wortwörtlich oft sagen: "wir haben es ja nicht ein mal geschafft die 2 ½ Millionen Türken in Deutschland zu integrieren. Wie sollen wir also die Türkei integrieren?" Die Türken hier werden immer als Beispiel dafür angeführt, dass die Integration nicht klappt, dass sie nicht dazu gehören. Das wird noch einmal dadurch bestätigt werden, dass die Türkei kein Datum genannt bekommt. Ich befürchte immer, dass die Türken in Deutschland sich dann noch mehr zurückziehen werden und diese Enttäuschung sich niederschlägt in einer gewissen Segregation. Sollte dagegen der Türkei ein Datum für den Beginn der Gespräche genannt werden, welches Auswirkungen erst in 15 Jahren hätte, wäre das ein unglaublicher positiver Push in Richtung Integration. Für die Menschen würde das bedeuten: "Jetzt gehören wir dazu, wir erleben eine Akzeptanz, die Türkei gehört dazu, die Türkei ist in der Familie der EU angekommen, dass heißt, wir sind auch gewollt." Für mich als Innenpolitikerin ist das natürlich ein ganz vitales Interesse, dass die Menschen das Gefühl haben: "Ich bin in Deutschland zu Hause, ich bin angekommen, ich bin akzeptiert."