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Psychologische Selbstbetrachtung

Inmitten der Südtiroler Postkartenidylle gerät ein Hamburger Psychologe unvermutet in eine tiefe Sinnkrise. Das ist das Thema des dritten Romans von Mareike Krügel, der in Meran spielt.

Von Katrin Hillgruber | 11.05.2011
    Ein Hamburger Psychologe reist zu einem Kongress nach Meran. Was fällt ihm dort als Erstes auf? Speck, Unmengen von Speck. Im schreiend alpin dekorierten Tagungshotel biegen sich die Tische vor Südtiroler Speck. Über der Tür zum Frühstückssaal hängt ein Schild mit der Aufschrift "Große Laugenspitze". Das lässt sich in Mareike Krügels Roman "Bleib wo du bist" als Vorausdeutung lesen: Matthias Harms, der norddeutsche Psychologe, wird unter der strahlenden Sonne des Kurorts Meran auch eine Art Laugenspitze erleben, nämlich die rasante Zuspitzung all seiner Daseinsfragen. Die Autorin stammt aus Kiel und lebt heute in Schleswig nahe der dänischen Grenze. Meran hat der Südtiroler Schriftsteller Norbert C. Kaser einmal als das beliebteste bundesdeutsche Altersheim bezeichnet. Mareike Krügel scheint dieser Schauplatz als ein beinahe exotischer gereizt zu haben.

    "Es ist ein bisschen beides. Meran kenne ich sehr gut, da ich als Kind dort oft Urlaub gemacht habe. Das machte die Recherche leichter. Ich wollte mal was anderes machen, da die beiden vorherigen Romane am Meer spielen, aber es bot sich auch an. Der Protagonist wollte heraus aus seinem Alltag, irgendwohin, wo es anders ganz anders ist. Er wohnt in Hamburg und kommt aus Lübeck, da bot es sich an, ihn in die Berge zu schicken, und es hat sich auch als sehr praktisch erwiesen. Für die Geschichte ist es gut, dass er auf den Berg wandert und wieder geläutert herunter kommt. Die ganze Umgebung von Meran hat mich auch aus persönlichen Gründen sehr gereizt und auch, weil es für den Roman sehr gut war."

    Meran ist seit jeher ein literarisch hochbesetzter Ort, wie sich an den Inschriften der Bänke entlang der Passer-Promenade erkennen lässt. Berühmte Meran-Liebhaber wie Ezra Pound, Franz Kafka oder Gottfried Benn sind dort zitiert. War es der jungen Autorin bewusst, sich hier in literarischer Höhenluft zu bewegen?

    "Nein, da war ich mir eigentlich gar nicht so bewusst. Im Nachhinein bin ich ganz froh, dass mir dieses Bewusstsein gefehlt hat, sonst hätte ich sicherlich größere Hemmungen gehabt."

    Der Irrlauf des Matthias Harms beginnt ganz harmlos mit einem Spaziergang auf der Kurpromenade. Vor dem Beginn der Tagung will er sich noch einmal die Beine vertreten. Dabei begegnet er einem kleinen Jungen, der offenbar seinen Eltern weggelaufen ist. Harms wartet mit dem hartnäckig schweigenden Kind, bis die Mutter auftaucht, eine vitale junge Frau namens Katrin. Harms begleitet die beiden nach Hause, es entspinnt sich ein Flirt. Katrin ist aus Lübeck zugezogen und kennt einen Verehrer von Harms' Schwester Ulla. Sie ist vor Jahren bei einem Autounfall verunglückt, was ihren Bruder nach wie vor sehr beschäftigt. Offenbar ist es dieser familiäre Flashback in Verbindung mit der ungewohnt starken Alpensonne, die bei Mareike Krügels Helden einen Irrlauf auslöst. Plötzlich sieht er sich als Mann zwischen drei Frauen: seiner überaus nüchternen Hamburger Ehefrau Anke, der verstorbenen Schwester Ulla und der Zufallsbekanntschaft Katrin. Hinzu kommt, dass Harms ständig über seine Klienten und deren diversen Symptomen nachdenkt. Etwa über die Reedersgattin Bovensiepen, die er wegen ihres Ordnungszwangs therapiert. Diese Doppelung zwischen äußerer Beschleunigung und kuriosen, eher statischen Überlegungen macht den besonderen Charakter dieses Romans aus. Seine Autorin hat sich akribisch mit allen nur denkbaren psychologischen Deformationen und Defekten vertraut gemacht, auch wenn sie nicht vom Fach ist.

    "Nein, ich habe nicht Psychologie studiert. Aber wenn ich noch ein Leben hätte, würde ich es gerne machen. Das ist ein Privileg meines Berufes, dass ich mich ganz offiziell mit solchen Dingen beschäftigen darf, ohne dass mir ein Chef sagt, ich soll mich bitte auf die Sache konzentrieren. Ich habe viel Fachliteratur lesen dürfen, und das hat mir auch viel Spaß gemacht. Ich habe Fallstudien gelesen, mit Leuten gesprochen, die eine Therapie gemacht haben, auch mit Psychologen, was wie ein kleines Fachstudium für mich war. Das ist allerdings fast alles auch schon wieder vergessen, ich habe es mir für den Roman angeeignet und jetzt ist es fast wieder weg. Ich hoffe aber sehr, dass es jederzeit abrufbar ist, wenn es nötig wird."

    Mareike Krügel karikiert ihren Helden niemals, sondern entwickelt durchaus Sympathien für ihn. Harms verliert in der Bergwelt völlig sein Zeitgefühl, fast droht er, der überlegte Analytiker, seinen Verstand einzubüßen. Die Pflanzen scheinen zu ihm zu sprechen, die Natur erscheint beseelt. Das erinnert an den soignierten Herrn Michael Fischer aus Alfred Döblins wunderbarer Novelle "Die Ermordung einer Butterblume". Darin steigert sich Fischer in eine Raserei hinein, nachdem er einer Butterblume mit dem Spazierstock den Kopf abgeschlagen hat. Bei Matthias Harms ist es offenbar die ungewohnte Höhenluft, die ihn zu diesem im Endeffekt heilsamen Irrlauf verleitet.

    "Die Höhenluft, ja! Tatsächlich beschreibe ich das ja auch, dass die Luft sich verändert. Ich glaube, es ist die ganze Umgebung. Ob es nun die Berge sind mit der Höhenluft, das ist passend, aber ich wollte, dass der Protagonist wirklich in eine Gegend kommt, die mit seinem Alltag nichts zu tun hat. Dass auch die Natur ihn so ein bisschen zu fassen kriegt, er lebt ja normalerweise in der Stadt. Insofern ja, auch die Natur kann einem da einerseits helfen, andererseits manchmal, wie eine Droge wirken."

    Dieser so temporeiche wie witzige Roman führt ganz nebenbei den verbreiteten Glauben ad absurdum, nach der Lektüre psychologischer Ratgeber könne man seine Neurosen in den Griff bekommen. Der Text ist im Präsens gehalten, was die Spannung deutlich erhöht und den Leser unmittelbar in Matthias Harms' turbulentes Erleben hineinzieht. Doch Mareike Krügel, soviel sei verraten, gönnt ihrem strapazierten Protagonisten ein Happy End.

    Mareike Krügel: Bleib wo du bist. Roman. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2010. 232 Seiten, 18,95 Euro.