
Ständiger Luftalarm und Raketenangriffe, zerstörte Städte und zerrissene Familien. Mehr als drei Jahre Krieg in der Ukraine haben die Menschen im Land gezeichnet – körperlich wie seelisch. Die Nachfrage nach psychosozialer Hilfe ist groß, sagt Psychiater Orest Suvalo. Doch selbst wer vor der Gewalt im Heimatland flieht, trägt die Erinnerung daran mit sich, viele Betroffene sind traumatisiert. In Deutschland leiden schätzungsweise 30 bis 40 Prozent der Geflüchteten an sogenannten Traumafolgestörungen. Doch nur ein kleiner Teil der Schutzsuchenden aus Kriegs- und Krisengebieten erhält hierzulande psychotherapeutische Hilfe.
Krieg, Flucht und die Folgen für die Psyche
Krieg und Gewalt hinterlassen oft tiefe Narben. In der Ukraine etwa, die sich seit mehr als drei Jahren gegen eine russische Invasion wehrt, sind die Folgen verheerend – auch für die psychische Gesundheit der Menschen. Depressionen und Angstzustände haben massiv zugenommen, sagt der Psychiater Orest Suvalo vom Institut für psychische Gesundheit der Ukrainischen Katholischen Universität in Lwiw. Darauf sei das Gesundheitswesen nicht vorbereitet gewesen. Mittlerweile wird nachgerüstet: Hausärzte würden trainiert, Zentren für psychische Gesundheit gebildet.
Der Bedarf an therapeutischer Hilfe ist groß im angegriffenen Land. Gleichzeitig steht das Gesundheitssystem wegen des Krieges selbst unter Druck, Kliniken und Pharma-Fabriken wurden zerstört, es fehlte an Medikamenten. Laut dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) ist ein Drittel der derzeitigen Bevölkerung in der Ukraine auf humanitäre Hilfe angewiesen. Der Krieg hat Tausende Menschenleben gefordert, weite Teile der Infrastruktur zerstört und Familien auseinandergerissen. Luftalarm und Drohnenangriffe gehören für viele auch jenseits der Front zum Alltag.
Die anhaltende Kriegsbelastung zehrt an der Psyche, besonders Kinder sind laut UNHCR gefährdet. Anderthalb Millionen von ihnen seien von langfristigen psychischen Folgen bedroht, warnt das Flüchtlingshilfswerk. Dazu komme eine wachsende Zahl ehemaliger Kombattanten mit posttraumatischen Belastungsstörungen. Doch selbst jene, die vor der Gewalt im Land fliehen konnten, lässt der lange Arm des Krieges nicht so schnell los. Auch fern der Heimat tragen Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten die Erinnerung an Gewalt und Bedrohung mit sich, viele sind traumatisiert.
Verlust von Alltag und Stabilität
„Häufig waren die Menschen im Herkunftsland schlimmen Erlebnissen ausgesetzt, die mit starken Belastungen verbunden waren“, sagt Psychologe Ingo Schäfer, der in Hamburg das Koordinierungszentrum für traumatisierte Geflüchtete, Centra, leitet. Zu den Kriegserfahrungen kommen laut Barbara Wolff von der bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer, Baff, oft traumatische Erlebnisse auf der Flucht. Und selbst nach der Ankunft im sicheren Zielland bleibt die Belastung Experten zufolge oft hoch.
Nach Einschätzung von Ingo Schäfer ist Flucht „zunächst einmal ein massiver Verlust“. Ein Verlust des Alltagslebens und dessen, was das Leben zuvor ausgemacht und stabilisiert habe: von den eigenen vier Wänden über den Beruf bis zum sozialen Netzwerk und dem Status. Im Zielland müssten sich Geflüchtete auf eine neue Kultur einstellen, meist ohne die Sprache zu sprechen. Dazu kämen weitere belastende Faktoren, etwa die Unterbringung in Sammelunterkünften mit vielen Menschen auf engem Raum.
Betroffene von Krieg und Flucht seien erheblichem Stress ausgesetzt, sagt der Traumaforscher. Das könne zu akuten psychischen Belastungen und psychischen Störungen führen. Das Spektrum reiche von Depressionen und Angststörungen, über Anpassungsstörungen bis hin zu posttraumatischen Belastungsstörungen.
Psychosoziale Hilfe für Geflüchtete in Deutschland
In Deutschland leiden schätzungsweise 30 bis 40 Prozent der Geflüchteten an sogenannten Traumafolgestörungen. Doch nur ein kleiner Teil von ihnen erhält psychotherapeutische Unterstützung. Patrick Meurs vom Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt, der in Erstaufnahmeeinrichtungen mit Geflüchteten arbeitet, schätzt, dass nur ungefähr jeder achte mit psychosozialen Hilfen in Berührung kommt.
Weil Geflüchtete, bevor sie in Deutschland Asyl erhalten oder geduldet werden, in der Regel keine Krankenkassenkarte haben, gibt es ein System außerhalb des regulären Gesundheitssystems. Dieses basiert auf drei Säulen: Die erste besteht aus rund 50 psychosozialen Beratungsstellen, die von Vereinen und Institutionen wie der Caritas getragen werden. Die zweite umfasst Psychologinnen und Psychologen, die ehrenamtliche Hilfe anbieten. Zur dritten zählen Universitäten und Unikliniken mit ihren Forschungen und Angeboten in sogenannten Geflüchteten-Ambulanzen.
Allerdings, warnen Experten wie Info Schäfer, reichen die Kapazitäten hierzulande bei weitem nicht aus. Schäfer kritisiert eine „erhebliche Unterversorgung“. Traumatisierte Schutzsuchende würden oft nicht als solche erkannt und suchten, im Vergleich zur deutschen Allgemeinbevölkerung, auch seltener selbst Hilfe. Auch Barbara Wolff kritisiert die unzureichende psychosoziale Unterstützung für Geflüchtete. Nicht alle bräuchten eine Therapie, sagt sie. „Aber viele bräuchten zumindest eine Anlaufstelle.“
Doch an eben jener Abklärung, ob Hilfe nötig sei oder nicht, fehle es oft, kritisieren Fachleute. In Erstaufnahmeeinrichtungen würden Geflüchtete zwar auf Krankheiten untersucht, nicht aber auf ihren psychosozialen Zustand, sagt etwa der Traumaforscher Thomas Elbert. Und wer sich trotzdem für eine Psychotherapie entscheidet, muss in den Beratungsstellen oft monatelang auf einen Platz warten. Zudem erschweren Sprachbarrieren notwendige Hilfen. Etwa 70 Prozent der Patientinnen und Patienten in den Psychosozialen Zentren sind laut Wolff auf Dolmetscher angewiesen.
Kritik und Forderungen von Fachleuten
Aus Sicht von Psychologen wie Ingo Schäfer und Thomas Elbert gibt es bei der psychosozialen Unterstützung von Geflüchteten in Deutschland großen Handlungsbedarf. „Wir müssen in jedem Fall nachbessern und immer wieder schauen, wie wir die Kapazitäten erweitern können“, sagt Schäfer. Etwa, indem niedergelassene Therapeuten für die Arbeit mit traumatisierten Geflüchteten gewonnen würden.
Nach Meinung des Traumaforschers geht es zunächst vor allem darum, traumatisierten Geflüchteten Sicherheit zu signalisieren und sie zu stabilisieren. Neben therapeutischer Unterstützung könnten, als „weiterer Mosaikstein“, auch andere Angebote helfen, etwa die Arbeit mit Peers. Also Menschen aus dem Herkunftsland mit ähnlichen Erfahrungen, die geschult werden, um belastete Geflüchtete zu begleiten.
Aufnahme in Regelversorgung
Ulrike Kluge, Leiterin des Zentrums für interkulturelle Psychiatrie an der Charité Berlin, plädiert dafür, psychologische Hilfe und Unterstützung für Asylbewerbende in die Regelversorgung aufzunehmen. Die Krankenkassen müssten von Anfang an zuständig sein, fordert Kluge. Auch die Kosten für Dolmetscherinnen und Dolmetscher sollten aus Sicht der Charité-Forscherin über die Kasse bezahlt werden. Aktuell seien sie oft gar nicht finanziert, oder die Finanzierung sei sehr kompliziert.
An der Charité wird zudem an weiteren Möglichkeiten geforscht, psychosoziale Hilfe für geflüchtete Menschen finanzierbarer zu machen. Etwa mithilfe von Videotelefonie oder durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz und digitalen Hilfsmitteln, um Sprachbarrieren abzubauen.
Frühe Screenings und Hilfestellungen
Aus Sicht von Psychologe Thomas Elbert sind vor allem frühe Screenings und Hilfestellungen für traumatisierte Geflüchtete entscheidend. Menschen, die etwa aus Syrien, Afghanistan oder dem Kongo nach Deutschland kämen, sollten bei ihrer Ankunft während der medizinischen Untersuchung auch zu ihrer psychischen Gesundheit befragt werden, fordert der emeritierte Professor für klinische Psychologie an der Universität Konstanz. Schon mit wenigen Fragen, etwa, ob jemand unter Albträumen leide, könne eine Traumafolgestörung erkannt werden, sagt Elbert.
Auch könne in einem solchen Screening abgeklärt werden, wie groß die Gewaltbereitschaft sei, die in einer Person schlummere. Menschen, die mehrere lebensbedrohliche Erfahrungen gemacht hätten, verallgemeinerten im Gedächtnis die Erinnerung daran, erklärt der Traumaforscher, der selbst in Kriegs- und Krisengebieten tätig war. Sie könnten nicht mehr unterscheiden zwischen einer akut bedrohenden Gefahr und dem, was in der Vergangenheit passiert sei. Selbst in einem sicheren Land fühlten sie sich in der ständigen Bedrohungslage des Kriegsgebietes. „Dieses Steckenbleiben in der Vergangenheit kennzeichnet Personen, die psychisch nicht mehr funktionsfähig sind“, sagt Elbert. Das sei ein Merkmal von Traumafolgen.
Erfolgsaussichten und Prävention
Laut Rita Rosner, Leiterin der Psychotherapeutischen Hochschulambulanz der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, sind die Erfolgsaussichten bei Traumatherapien hoch. „Wir können davon ausgehen, dass 75 bis 80 Prozent eine deutliche Besserung haben“, betont die Psychologin.
Dabei sei die Behandlung nicht nur für die Betroffenen selbst wichtig – sondern auch für ihre Kinder und Enkel, sagt Rosner. Denn der Umgang mit Emotionen setze sich in den nachfolgenden Generationen fort: „Die Kinder erleben zum Beispiel Eltern, die wenig auf sie reagieren, weil sie viel mit sich selbst beschäftigt sind.“ Ungelöste Traumata prägen somit indirekt weiter. Im Umgang mit Kriegs- und Fluchterfahrungen fordert die Expertin deshalb Hilfestellung und Therapie, statt Verdrängen und Weitermachen, wie es zum Beispiel nach Ende des Zweiten Weltkriegs oft passiert ist. Die Behandlung der Nachkriegstraumata wäre „sehr, sehr hilfreich gewesen“, sagt die Psychologin. „Aber damals hatten wir nicht den Kenntnisstand.“
Charité-Forscherin Ulrike Kluge betont zudem die gesellschaftliche Bedeutung von psychosozialer Hilfe für Geflüchtete. Traumatisierung sei schließlich kein individuelles Problem. Sie hänge mit der Weltlage zusammen und dürfe nicht allein auf die Betroffenen abgeschoben werden. Letztlich, so Kluge, liege es im Interesse der Gesellschaft, einen Umgang mit den Herausforderungen zu finden.
irs