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Publizist warnt vor westlicher Einmischung in Libyen

Der Herausgeber der algerischen Tageszeitung "El Watan" gibt Muammar al-Gaddafi in Libyen nicht mehr allzu viel Zeit - doch eine Intervention des Westens könne "in den Augen der Araber das Gegenteil bewirken".

04.03.2011
    Christoph Heinemann: Wie schätzen Sie die Lage in Libyen ein, wird Gaddafi bis zum bitteren Ende kämpfen oder steht das Ende des Gaddafi-Regimes bald bevor?

    Omar Belhouchet: "Die Reaktionen von Oberst Gaddafi und seiner Kinder war absehbar: Sie sind bewaffnet und sehen nicht ein, dass sie die Macht abgeben müssen. Es wird sehr hart und noch einige Wochen dauern. Aber ich bin sicher, dass die Libyer Gaddafi vertreiben werden und dann eine Diskussion über den Aufbau der Demokratie in Libyen beginnen wird."

    Heinemann: Sie gehen von mehreren Wochen aus: Wenn das gegenwärtige Gemetzel weitergeht, befürworteten Sie dann eine internationale Intervention oder zumindest eine Flugverbotszone?

    Belhouchet: "Vielleicht eine Flugverbotszone. Aber eine Intervention des Auslands könnte in den Augen der Araber das Gegenteil bewirken. Die Libyer selbst sagen, dass sie nicht um ihre Revolution gebracht werden wollen. Sie wissen, dass noch Blut vergossen werden muss, um die Diktatur loszuwerden".

    Heinemann: Rechnen Sie in der Zeit nach Gaddafi mit Auseinandersetzungen zwischen den Stämmen?

    Belhouchet: ""Das glaube ich nicht. Es hieß zwischenzeitlich, in Tunesien und Ägypten würden sich die Islamisten durchsetzen. Die Islamisten sind die größten Verlierer. Auch das stammesgebundene Denken nimmt ab. Die libysche Gesellschaft trägt moderne Züge, und sie wird die Demokratie aufbauen. Das wird eine sehr schwierige und vielschichtige Debatte, aber Demonkratie ist nun einmal kein leichter Weg".

    Heinemann: Journalisten Ihre Zeitung "El Watan" halten sich gegenwärtig in Libyen auf, was berichten die über die gegenwärtige Lage im Land?

    Belhouchet: ""Ja. Unser Kollege in Bengasi berichtet über die großartige Mobilisierung und darüber, dass alle Beschuldigungen Gaddafis, Al Kaida stecke dahinter, nichts als Lügen sind".
    Heinemann: Zur Lage in Algerien: die Regierung versucht mit einigen Maßnahmen, die Lage zu entschärfen. Hat zum Beispiel die Aufhebung des Ausnahmezustandes die die Protestbewegung beruhigt?

    Belhouchet: ""Die Aufhebung des Ausnahmezustandes hat das Problem mangelnder Freiheit in diesem Land nicht behoben. Demonstrationen sind weiterhin verboten, wir verstehen nicht warum. Bestimmte Oppositionelle dürfen keine politischen Parteien gründen. Das einzige Fernsehprogramm ist staatlich und dient als Sprachrohr der Regierung. Dort kommt die Opposition nicht zur Wort. Zwischen Gesellschaft und Macht besteht in Algerien ein tiefer Graben".

    Heinemann: Ist der Rücktritt des Präsidenten Bouteflicka eine Voraussetzung für Reformen und befürwortet eine Mehrheit der Algerier einen solchen Rücktritt?

    Belhouchet: ""Nicht unbedingt, jedenfalls nicht so wie im Fall Ben Ali in Tunesien oder Mubarak in Ägypten. Die Bürger warten ab und erwarten mehr Freiheit".

    Heinemann: Ist die gegenwärtige Regierung in der Lage, diesen Forderungen zu entsprechen?

    Belhouchet: ""Im Augenblick sehen wir leider keine positiven Zeichen. Deshalb versuchen die Bürger durch viele Initiativen, die Regierung zu einer Reform des politischen Systems zu drängen."

    Heinemann: Welche Rolle spielen in der algerischen Protestbewegung die sozialen Netzwerke wie Facebook und Twitter?

    Belhouchet: ""Nicht die gleiche wie die Netzwerke in Tunesien und Ägypten. Es gibt sie, aber sie operieren etwas zaghaft. Das Internet ist bei uns nicht sehr entwickelt".

    Heinemann: Wieso besteht dieser Unterschied zwischen Tunesien, Ägypten einerseits und Algerien andererseits?

    Belhouchet: ""Die Regierung hat die Entwicklung des Internets nicht konsequent vorangetrieben. Wir haben einen beträchtlichen Rückstand. Deshalb sind die sozialen Netzwerke bei uns nicht so verbreitet".

    Heinemann: Verwirklicht sich gegenwärtig die Vision einer modernen fortschrittlichen arabischen Welt?

    Belhouchet: ""Ja. Die tunesische Revolution bleibt in der Geschichte der arabischen Welt als großartige und außergewöhnliche Revolution. Es mag Ihnen übertrieben vorkommen, aber ich möchte dies mit dem Fall der Mauer in Berlin vergleichen. Man hat gesehen, wie dadurch die Bedingungen für ein demokratisches und liberales Osteuropa geschaffen wurden. Vor zwei, drei Monaten hätte sich doch niemand vorstellen können, dass Ben Ali und Mubarak aus dem Amt gejagt sein würden, dass sich Gaddafi auf dem selben Weg befindet. Auch der Präsident des Jemen befindet sich in großen Schwierigkeiten. Das ist eine außergewöhnliche geopolitische Lage. Die arabischen Eliten erleben gegenwärtig eine politisch sehr dichte und bedeutsame Zeit".

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