Archiv


Putin ist "traumatisiert von Massenprotesten"

Der grüne Europaabgeordnete Werner Schulz glaubt, dass der Fall Nawalny für den russischen Präsidenten Putin vor dem anstehenden G20-Gipfel in Russland "außerordentlich peinlich sei". Daher habe man zurückgezogen und den Kreml-Kritiker einen Tag nach seiner Verurteilung vorläufig freigelassen.

Werner Schulz im Gespräch mit Dirk Müller |
    Dirk Müller: Russland überrascht immer wieder, nicht nur im Fall Edward Snowden, auch im Fall Alexei Nawalny. Ein prominenter Oppositionspolitiker, ein prominenter Kreml-Kritiker, der gestern zu fünf Jahren Haft verurteilt worden ist. Fünf Jahre Haft in Russland meint, fünf Jahre Lagerhaft. Soweit das Urteil. -Dann kommt eine kleine Wende. Die Staatsanwaltschaft interveniert und der Verurteilte ist plötzlich auf freiem Fuß, vorläufig zumindest. Viele Beobachter machen sich jetzt ihre Gedanken, wie das zu erklären ist.
    Vorläufig auf freiem Fuß, der Fall Nawalny – unser Thema jetzt mit dem Grünen-Europaabgeordneten Werner Schulz, Mitglied dort im Auswärtigen Ausschuss. Guten Tag.

    Werner Schulz: Ja schönen guten Tag!

    Müller: Herr Schulz, hat Wladimir Putin geschlafen?

    Schulz: Nein. Er versucht schon, seinen härtesten Konkurrenten auszuschalten. Aber das, was jetzt passiert, da, glaube ich, hat Ljudmila Alexejewa Recht, indem sie sagt, die Massenproteste haben Putin überrascht und er hat, glaube ich, Angst davor, daß diese Massenproteste sich wieder aufschaukeln können oder entflammen können, so wie das nach der gefälschten Duma-Wahl der Fall war, und natürlich ist das jetzt vor dieser G20-Konferenz außerordentlich peinlich für Putin. Deswegen hat man zurückgezogen und hat Nawalny jetzt erst mal auf freien Fuß gelassen. Das Urteil steht trotzdem und bisher sind in Russland kaum bei den Berufungsverfahren irgendwelche Veränderungen dann eingetreten.

    Müller: Aber ist das nicht doch eine etwas neue Wende, oder vielleicht auch eine neue Dimension, daß Wladimir Putin offenbar doch zu beeindrucken ist?

    Schulz: Ja, die Massenproteste beeindrucken ihn schon. Das war von Anfang an ja ersichtlich. Er versucht ja, die Opposition an und in Ketten zu legen, wenn man das genau sieht. Seit den Massenprotesten gibt es ja auch ein verschärftes Vorgehen gegen die Opposition, wenn Sie so wollen, eine neue Art von politischer Säuberung, die es da in Russland gibt, und zwar die Ausschaltung jeglicher Opposition mit allen Möglichkeiten: rechtsförmiger Terror gegen die Opposition, fingierte Beschuldigungen, Anklagen, Verhaftungen, die es bei den Demonstrationen am Bolotnaja-Platz gegeben hat vor einem Jahr. All diese Instrumente gegen die Opposition werden eingesetzt, um solche Massenproteste zu verhindern. Putin ist, glaube ich, traumatisiert von solchen Massenprotesten. Er hat das in Dresden erlebt, als er dort als KGB-Agent gearbeitet hat, daß Massenproteste in Dresden, Leipzig eine Regierung gestürzt haben. Er hat das dann noch mal in der Ukraine mit der orangenen Revolution oder in Georgien mit der Rosenrevolution erlebt und er möchte das unter allen Umständen verhindern, so wie Lukaschenko in Weißrussland.

    Müller: Jetzt ist es ja umgekehrt, Herr Schulz, nicht so, daß Putin im Land unbeliebt ist. Ganz im Gegenteil! Viele fragen sich, die die inneren Verhältnisse vielleicht nicht so gut kennen, warum Wladimir Putin restriktiv und manipulativ vorgeht, obwohl er vermutlich bei einer freien, fairen Wahl dennoch immer als Wahlsieger hervorgehen würde.

    Schulz: Na gut, er stellt sich ja nicht dieser freien, fairen Wahl. Insofern ist das eine hypothetische These und das ist vor allen Dingen eine Behauptung von Putin, daß er dann gewinnen würde.

    Müller: Sie hätten Zweifel daran, er würde keine Mehrheit bekommen?

    Schulz: Ja natürlich habe ich Zweifel, weil eine faire Wahl bedeutet auch, daß er mit Konkurrenten, gleichwertigen Konkurrenten ins Rennen geht, sich einer offenen Diskussion im Fernsehen stellt, so wie wir das in demokratischen Ländern gewohnt sind, oder wie das in den USA im Präsidentschaftswahlkampf stattfindet. Es wird ja schon im Vorfeld verhindert, daß es überhaupt einen entsprechenden Herausforderer gibt. Leute wie Chodorkowski sitzen im Gefängnis, oder sie werden auf andere Art und Weise behindert. Also da geht es schon los! Und dann muß man sehen: Wen hat Putin hinter sich? Es sind überwiegend die doch mehr oder weniger zurückgebliebenen Schichten auf dem Land oder in Industriestädten. Die große nachwachsende Mittelschicht, die jungen Leute, die sind schon überhaupt nicht mehr auf Putins Trip, sondern die protestieren gegen ihn. Das heißt, er hat die Mehrheit in den großen russischen Städten schon längst verloren und im Grunde genommen nur mit seinen Sozialversprechungen schafft er es gerade noch so daß er vielleicht auf 50 Prozent dieser mehr oder weniger zurückgebliebenen Bevölkerung auf dem Land und in den Industrie- und Ballungsgebieten kommt.

    Müller: Herr Schulz, Sie haben ja eben auch einige Beispiele genannt. Ist das für Sie ganz klare Sache, jedes Urteil ist ein Putin-Urteil?

    Schulz: Nein. Vor allen Dingen dann ist Putin der oberste Richter, wenn laufende und ihm wichtige Verfahren stattfinden. Dann klärt er vorab schon mal die Schuldfrage und sagt, also wie bei Chodorkowski, der Mann ist schuldig, ein Dieb gehört ins Gefängnis, an seinen Händen klebt Blut, das ist bereits ein Hinweis auf einen dritten Prozeß, daß man ihn noch wegen Mordes anklagt, oder bei Nawalny, der Putins Partei Edinaja Rossija als Partei der Gauner und Diebe bezeichnet hat, da ist ja das besonders Zynische und Perverse, daß man jetzt Nawalny wegen Unterschlagung vor Gericht bringt, also ihm selbst etwas anhängt. In solchen Fällen greift Putin ein. Da sagt er schon mal vorab, wer da schuldig ist, beantwortet die Schuldfrage, und er gibt auch die Vorstellung vom entsprechenden Strafrahmen vor, indem er bei Pussy Riot sagt, die Frauen hätten ihre Lektion gelernt und man solle sie nicht allzu hart bestrafen. Er greift direkt in die Justiz ein und man sieht das, auch wenn man diese armseligen Richter sieht, die dann im Grunde genommen nur noch ein Urteil verlesen, was ihnen vorgegeben wurde.

    Müller: Herr Schulz, wir haben nur noch eine knappe halbe Minute, ich möchte Sie das dennoch fragen. Ist es dennoch politisch klug, daß die Kanzlerin Wladimir Putin die Hand gibt?

    Schulz: Ja Gott, die Hand geben ist etwas anderes, als sich umarmen lassen. Das habe ich immer gesagt. Sie sollte sich nicht umarmen lassen, das tut sie nicht mehr. Die Hand geben und kräftig drücken und ihm ins Gesicht klar zu sagen, was man von seiner Politik hält, das halte ich für angemessen, das kann man tun.

    Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk der grünen-Europaabgeordnete Werner Schulz, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss. Danke für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Schulz: Auf Wiederhören!


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.