Quecksilber
Wenn es wahr ist, was Stendhal gesagt hat, dass ein Roman wie ein Spiegel sei, den man auf einer großen Straße spazieren trägt, so wäre Amelie Nothombs Roman Quecksilber eine Art Handspiegel für Damentaschen. "Quecksilber" ist das vierte Buch der Belgierin Amelie Nothomb. Es ist die Geschichte von Narcissos und Echo, Amor und Psyche, und ein bisschen auch "Die Schöne und das Biest", das kommt ganz auf die Lesart an, und deren sind viele denkbar in einem kurzen Roman über die Trugbilder des Schönen, der so vielschichtig ist wie ein kostbarer alter Spiegel und so blendend geschrieben wie alle Bücher der Nothomb. Meist geht es darin zu wie in der alten Comedie Fran9ais. Lautlose Morde, tödliche Rededuelle, sparsam möblierte Folterkammern, in denen eine scharfe Intelligenz virtuos ihr unblutiges Handwerk verrichtet. Drei Personen treffen unter seltsamen Umständen auf einer Insel zusammen, auf der es keine Spiegel gibt, aber eine Bibliothek mit den Büchern von d 'Urfe, Stendhal, Taine, Villon, Madame de Stael, Flaubert, Swift, Baudelaire, eben so das Nötigste, was zur Bildung junger Frauen zu Beginn des vorigen Jahrhunderts gebraucht wurde. Die Handlungszeit ist 1923. Eine wunderschöne junge Frau wird von einem alten Kerl namens Loncours in dem Glauben gefangen gehalten, nach einer entstellenden Verletzung unerträglich hässlich zu sein. Demütig dient die dreiundzwanzigjährige Hazel dem Siebenundsiebzigjährigen als Pflegetochter und Geliebte, bis Francoise, eine kluge und furchtlose Krankenschwester die Insel Mortes-Frontieres betritt, den Betrug an der Schönen durchschaut und durchaus emanzipierte Überlegungen an die Entdeckung knüpft, dass der Alte auf diese Weise bereits vor Hazel ein anderes junges Mädchen zuerst des Bewusstseins ihrer Schönheit und dann der Freiheit beraubte und sie so seiner sexuellen Begierde unterwarf. Wer ihr erstes Buch gelesen hat, "Die Reinheit des Mörders", erkennt in "Quecksilber" eine weitere Variation auf Nothombs Lieblingsthema, die lustvolle Hinrichtung männlicher Herrschaftsallüren. Die Siebenunddreißigjährige gehört einer berühmten belgischen Diplomaten-und Schriftstellerfamilie an und ist das, was man eine poetessa docta nennen könnte, eine in alten Sprachen und Literaturen, in Mythologie und Geschichte gebildete Schriftstellerin, die jedoch, wie ihre Landsmännin Marguerite Yourcenar, nie eine öffentliche Schule besucht hat und ihre Jugend außerhalb von Europa verbrachte. Für das letzte, das Japanbuch Mit Staunen und Zittern, wurde ihr der Große Preis der Academie Francais verliehen, eine seltene Ehre noch immer für Autorinnen. Damit, dass die sogenannte Frauenliteratur und ihre Theoretikerinnen sich an den Maßstäben einer von Männern geschaffenen, zweitausendjährigen Kulturtradition messen lassen müssen, ist so unbestritten wie die Tatsache, dass die Philosophie des Schönen seit Platon gleichsam die Geschlechterrollen bis heute präfiguriert hat. Denn was hätte gründlicher zur Unterdrückung weiblicher Individualität beigetragen als der ehrwürdige Topos von der Schönheit der Frauen, die dem Kunstschönen zu ewigem Vorbild und zur Inspirationsquelle dient und die Enteignung ihrer Trägerinnen, ihre Stilisierung zu Musen, Nymphen, Vestalinnen in der abendländischen Kulturtradition zum ästhetischen Programm erhob? Eine ganze Industrie der Unterhaltungsliteratur bedient sich noch heute aus dem Müll des weiblichen Schönheitsideals, und sogar die narzisstischen Peinlichkeiten der Frauenliteratur lassen sich in der Grundfrage zusammenfassen: Bin ich begehrenswert, bin ich schön genug? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum nicht?