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Querfeldein denken mit Lucius Burckhardt (2/3)
Wer war Lucius Burckhardt?

Lucius Burckhardt, geboren 1925 in Davos, eröffnete vielen Studenten - nicht nur aus den entwerfenden Fächern - neue Perspektiven: "Wer plant die Planung?", "Warum ist Landschaft schön?", "Design ist unsichtbar", "Durch Pflege zerstört" oder "Der kleinstmögliche Eingriff", diese Burckhardtschen Fragen und Formeln sind aktueller denn je.

Von Markus Ritter und Martin Schmitz | 21.06.2015
    Lucius Burckhardt 1977
    Lucius Burckhardt 1977 (Annemarie Burckhardt)
    Wer war Lucius Burkhardt, der seine Rolle zwischen den klassischen Disziplinen suchte: der Querfeldeindenker, Erfinder der Spaziergangswissenschaft, schweizer Nationalökonom und Soziologe? Aufgewachsen ist er in bürgerlichen Verhältnissen in Davos als fünftes Kind einer Ärztefamilie, Studium in Basel. Nach akademischen Stationen in Dortmund und Ulm war er Gastdozent für Soziologie in der Architekturabteilung der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. Gleichzeitig arbeitete er als Chefredakteur der schweizer Zeitschrift Werk, war Erster Vorsitzender des Deutschen Werkbundes, lehrte als Professor für Sozioökonomie urbaner Systeme an der Gesamthochschule/Universität in Kassel.
    Als Gründungsdekan der Fakultät Gestaltung der Bauhaus-Universität Weimar war 1992 -1994 tätig. Kreativität, Glaube an Utopie und politische Meinungsäußerung im Kontext städtebaulicher Fragen prägen sein Werk, das 1994 mit dem Hessischen Kulturpreis für herausragende Leistungen in den Bereichen der Wissenschaft, Ökologie und Ästhetik gewürdigt wurde. 2003 starb Lucius Burckhardt in Basel. Markus Ritter unternimmt eine Spurensuche in der Burkhardtschen Biografie.
    Markus Ritter, geboren 1954, ist Biologe und Co-Autor vom Basler Natur-Atlas. Er gründete 1986 gemeinsam mit Lucius Burckhardt die "Grüne Alternative Basel" und gab mit ihm gemeinsam Seminare zu den Themen Landschaft, Natur und Umweltfragen.

    Querfeldein denken mit Lucius Burckhardt (2/3)
    Wer war Lucius Burckhardt?
    Von Markus Ritter und Martin Schmitz
    In einer Vorlesung, die Lucius Burckhardt 1959 in Ulm hielt, sprach er über die Entwicklung der bürgerlichen Wohnkultur von der Renaissance bis zur Moderne, eine Klassenerzählung des Bürgertums mit der Kulmination um 1830, als "die Zeit auseinanderbricht". Für die patrizischen Vorfahren der Burckhardts stellte das Ende der Goethezeit tatsächlich einen Bruch dar. Über drei Generationen hinweg wandten sie sich von Geschäft und Handel ab, lebten als Privatiers und widmeten sich der bildenden Kunst und karitativen Aufgaben. Der Vater von Lucius Burckhardt war wie dessen Schwiegervater Arzt und gründete 1919 einen Hausstand im Schweizer Kurort Davos.
    Den Abschluss der Ulmer Vorlesung bildete ein Abschnitt über Le Corbusier, in dessen Pariser Atelier Jeannette Hesse-Burckhardt, die ältere Schwester von Lucius, im Jahr 1931 als Innenarchitektin gearbeitet hatte.
    In Davos wohnte die Familie seit 1926 ausgesprochen modern. Die "Villa Burckhardt" war im Bauhaus-Stil errichtet worden, ein Entwurf von Rudolf Gaberel, der das Bild von Davos entscheidend prägte.
    Lucius Burckhardt wurde als spätes Nesthäkchen der siebenköpfigen Familie am 12. März 1925 geboren. Die 1920er-Jahre waren für die Ärztefamilie Jean-Louis Burckhardt-Hoffmann durch die Folgen des Weltkrieges und der Weltwirtschaftskrise von 1929 eine tief greifende Wendezeit. Davos, der Schweizer Kurort von Thomas Manns "Zauberberg", stand für Lucius im Zeichen der Hygiene-Bewegung. 1925 fand in Davos eine große klimatologische Tagung statt. Die Wissenschaft verhandelte die medizinische Überzeugung, dass die Sonne im Hochgebirgsklima eine Heilwirkung habe.
    Das Berghotel Schatzalp oberhalb von Davos war bis zum Jahr 1954 ein Lugensanatorium und wird in Thomas Manns "Zauberberg" beschrieben
    Das Berghotel Schatzalp oberhalb von Davos war bis zum Jahr 1954 ein Lugensanatorium und wird in Thomas Manns "Zauberberg" beschrieben (picture alliance / dpa / Thomas Muncke)
    Die Familie Burckhardt investierte ihr ererbtes Geld in das Tuberkulose-Sanatorium für Kinder aus bedürftigen Familien. Der Vater Jean-Louis war Chefarzt unter der Trägerschaft des Kinderhilfswerks Pro Juventute. Moderne Anschauungen zur Hygiene und Bakteriologie sowie das Studium der Gebirgsklimatologie prägten sein ärztliches Verständnis. Seine Praxis im 1926 erbauten Ärztehaus von Rudolf Gaberel bildete den Auftakt der Moderne in den Alpen-Kurorten: ornamentlose, kubische Form, Flachdach und integrierte, stützenlos durchlaufende Liegeterrassen. Die Sonnenterrassen-Front wurde zum Architektursymbol der Tuberkuloseheilung.
    Eine internationale und urbane Gesellschaft prägte damals das Leben in Davos. Im Sommer kamen die Patienten zur Kur, im Winter waren Skisport und Eissportarten der Grund für den Gästeaufenthalt. Lucius Burckhardt sprach fließend italienisch, französisch und englisch. Der "Höhenkurort" verwandelte sich schon in den 30er-Jahren in einen "Höhen-Sport-Vergnügungsort" mit Skipisten und Loipen. Die drei älteren Schwestern und der Bruder von Lucius partizipierten kräftig am neuen Chic, aber an seiner Jugend ging das alles vorbei. Er trat ohne Umschweife in die Fußstapfen des Vaters, begleitete ihn auf die Jagd, auf Exkursionen zum Fang von Schmetterlingen und auf die botanischen Spaziergänge. Im Ärztehaushalt Burckhardt wurde die Natur geliebt und studiert.
    In diesem Milieu entwickelte auch Lucius ein leidenschaftliches Interesse an der Natur. Blumen faszinierten ihn und eine eigene Meisterschaft entwickelte er als Schneckensammler. Bald kannte er die gesamte Schneckenfauna der Davoser Alpen und sammelte in wissenschaftlicher Manier die Belege. So lernte er den wissenschaftlichen Habitus in der Kinderstube kennen. Aber auch die Jagdleidenschaft teilte der junge Lucius mit seinem Vater. Das Jagdrevier lag in den Bergen von Liechtenstein - dort hatte der Vater eine Pacht, verbrachte jährlich ein paar Wochen in der abgeschiedenen Blockhütte und erlegte Hirsche, Rehe und Gämsen.
    Dem Naturbild, das Lucius vom Vater und dem Naturkundelehrer vermittelt bekam, stellte er später ein modernes Verständnis gegenüber, in dem die Menschen "von Ausbeutern der Natur zu Teilnehmern am natürlichen System" geworden sind. Die Vorfahren und Lehrer riefen noch das beglückende Zauberwort "Selten!" auf naturkundlichen Exkursionen und Jagdzügen. Seltenheiten wurden weggesammelt, sie krönten die Sammlungen - so war es auch in seinem Elternhaus. Die Vorfahren lebten "eine Mentalität, die auf Ausbeuten und Sammeln, nicht aber auf Beobachten und Bewahren gerichtet war".
    In Davos lebte man gefühlsmäßig nahe an Italien. Die Sommerferien verbrachte die Familie alljährlich in Oberitalien, wo die alten Städte, Kirchen und Museen besucht wurden. Das Aufkommen des Faschismus verfolgte man kritisch.
    Lucius Burckhardt galt in der Familie als frühreifes und auffallend "geniales" Kind. Sein Lernwille und seine rasche Auffassungsgabe waren herausragend. Viele Alltagsbeziehungen wurden in Davos zunehmend durch die Spannungen mit den Nazis vergiftet. Die Situation kulminierte 1936 mit der Ermordung von Wilhelm Gustloff, dem Gauleiter der deutschen Kolonie und Chef der NSDAP in Davos. Er wurde vom Medizinstudenten David Frankfurter am 6. Februar 1936 erschossen. Der zehnjährige Lucius rannte nach Hause und rief der Mutter auf dem Balkon zu: "Si haenn dr Gustloff gschosse!" Vaters Jägersprache hatte durchgedrückt, und die Mutter antwortete peinlich berührt und resolut: "Komm sofort rauf!"
    Nach der Grundschule besuchte er in Davos von 1938 bis 1941 das Alpine Pädagogium Fridericianum, eine deutsche Schule. An Hitlers Geburtstag war schulfrei. Als Deutschland am 10. Mai 1940 die Niederlande angriff, stand ein holländischer Schüler tief bewegt auf und sagte: "Gestern wurde Holland angegriffen, wir aber müssen hier zusammenhalten und keine nationalistischen Ressentiments hegen, sondern ein Hort der Völkerverständigung bleiben." Im Klassenzimmer saßen neben Nazi-Sprösslingen auch jüdische Kinder, die in der Schweiz in Sicherheit gebracht worden waren.
    Nach 1941 erkannte die Schweiz den Abschluss am Gymnasium Fridericianum nicht mehr an, und Lucius musste seine Abiturprüfungen in der Evangelischen Schule in Schiers im Prättigau ablegen. 1943 aber hatte er die Matura in der Tasche, was damals ungewöhnlich früh war.
    Traditionsbewusst hatte man in Davos im Familienkreis die stadtbaslerische Lebensart und Sitten gepflegt und den Ahnen stets ein hohes Andenken bewahrt. Im Nachlass finden sich mehrere Sammlungen von Familienandenken, die schon von den Eltern und Großeltern angelegt worden sind. Sicher kehrte der junge Lucius mit einer hohen Meinung über seine weitverzweigte Basler Verwandtschaft zum Studium in die Stadt der Vorfahren zurück.
    Zunächst wohnte er in geräumigen Häusern bei Verwandten. Dann verließ auch die Mutter nach dem Tod des Vaters Davos und wohnte am Alemannenweg in Basel. Hier verbrachte Lucius die Studentenzeit bis zu seiner Hochzeit 1955 mit Annemarie Wackernagel.
    Das Studium begann 1943. Lucius war an der Universität zunächst schwer enttäuscht, denn er erwartete eine andere naturwissenschaftliche Lehre. Er bestand das Propädeutikum nicht, brach das Medizinstudium ab und widmete sich der Nationalökonomie und Soziologie bei Edgar Salin. Er besuchte Kurse bei Karl Jaspers, der Philosophie, Psychologie und Soziologie lehrte, dem Historiker Wolfram von den Steinen und dem Kunstgeschichtler Joseph Gantner. In zwölf Jahren belegte er Kurse von zwanzig Professoren aus unterschiedlichen Disziplinen.
    Die Altstadt von Basel in der Schweiz mit dem Restaurant Stöckli am Barfi (2004)
    Die Altstadt von Basel in der Schweiz mit dem Restaurant Stöckli am Barfi (2004) (picture alliance / dpa / Horst Galuschka)
    Wie aus dem Nichts begann 1949 ein öffentliches und politisches Engagement. Lucius Burckhardt initiierte eine Abstimmung aller wahlberechtigten Bürger gegen ein Autostraßenprojekt mitten durch die gotische Altstadt von Basel. Es ging alles wahnsinnig schnell. Auslöser für das Referendum war ein Artikel von ihm im Heft der Basler Studentenschaft mit der Überschrift "Altstadt in Gefahr". In nur fünf Tagen wurden rund 2.000 Unterschriften gesammelt, knapp fünf Wochen später war die Abstimmung - der Regierungsrat wollte einer öffentlichen Auseinandersetzung keine Zeit geben. Das Resultat: 20.000 Ja- und 15.000 Nein-Stimmen. Aber: Die Talentlastungsstraße ist nie gebaut worden.
    Für Lucius musste dieses verlorene Referendum eine Offenbarung sein. Er kam von Davos und dachte positiv über die Basler Stadtbürgerschaft. Er musste wohl geglaubt haben, dass dieses Referendum gewonnen werden konnte. Verwandte und Bekannte hielten sich bedeckt. Keine Partei wollte sich engagieren. Es existierte keine Gegenmacht zur Ämterplanung. Das Basel von 1949 war nicht mehr das Basel, das er von seinen Eltern und Großeltern kennengelernt hatte. Die altbaslerische Elite hatte sich mit dem Staat, der seit 1934 sozialistisch regiert wurde, eingelassen. Auch seine Verwandten waren nun mehrheitlich für die sozialdemokratischen Pläne einer autogerechten Altstadterneuerung.
    Die Bürgerlichen lebten von den Bauaufträgen und die innere Distanzierung zur eigenen Herkunft, der Klassenzugehörigkeit nahm ihren Anfang. Die Aufregung unter den Verwandten über den Nonkonformismus kulminierte nach etlichen weiteren Initiativ- und Referendumsaktionen im Januar 1955, als die Streitschrift "achtung: die Schweiz" erschien, ein Pamphlet für eine moderne und urbane Schweiz, die Utopie, statt einer Landesausstellung eine neue moderne Stadt auf grüner Wiese zu bauen. Die Aufregung war noch nicht verflogen, als er am 17. Februar 1955 seine Promotion mit insigni cum laude absolviert hatte und kurz darauf zum Hochzeitsfest eingeladen wurde.
    Bereits im Juni 1954 hatten sich Annemarie Wackernagel und Lucius Burckhardt ohne großes Aufsehen verlobt. Das Paar feierte im elterlichen Sommersitz im Jura bei Langenbruck südlich von Basel in einer vollkommen ländlichen Atmosphäre. Die Hochzeitsfeier fand am 23. März 1955 statt und wurde standesgemäß zelebriert. Die Flitterwochen wurden in Norditalien verbracht.
    Aus allen überlieferten Dokumenten jener Tage und Wochen weht eine tief empfundene Freude und Liebe, aber schon sehr bald zogen dunkle Wolken auf. Annemarie hatte einen Tuberkulose-Rückfall, ihre Schwangerschaft war gefährdet und sie ging zur Kur nach Davos. Lucius aber musste einem Ruf nach Dortmund folgen, den er vor diesen Komplikationen zugesagt hatte. Über die Sommermonate lebte das jungvermählte Paar nun geografisch getrennt. Kaum ein Tag verging, in dem nicht Briefe hin- und hergesandt wurden. Es waren bange Zeiten, ging es doch um das Leben von Annemarie und ihrem Kind. Der Briefwechsel ist das Dokument einer Liebe, die noch manche Stürme und Widrigkeiten überdauern wird. Immer wieder berichtet er Annemarie auch über die Situation im Deutschland der Nachkriegszeit, über Kunstausstellungen, Theateraufführungen und Alltagsszenen im Ruhrgebiet.
    Die ersten Jahre in Deutschland, in Dortmund, dauerten von 1955 bis 1958. Lucius Burckhardt arbeitete in der Forschungsgruppe um den Bevölkerungswissenschaftler Gunther Ipsen an der Sozialforschungsstelle der Uni Münster. Die Themen waren Entwicklung der Großstädte, Industriestandortuntersuchungen und soziologische Feldforschungen.
    "Wie beeinflusst das Design die Gesellschaft?". In einem Brief vom 21. Oktober 1958 fragte Horst Rittel, der ebenfalls in Dortmund gearbeitet hatte, ob er nicht an die Hochschule für Gestaltung in Ulm kommen wolle. Rittel war Designtheoretiker und Mathematiker und arbeitete später bis zu seinem Tod 1990 an amerikanischen Hochschulen. Lucius Burckhardt sagte zu und gab in Ulm vom Herbst 1958 bis zum Sommer 1959 mehrere Kurse zu Themen wie Wirtschaftlicher Städtebau, Geschichte der Perspektive, Fachgeschichte Produktform oder Geschichte der Kunstgeschichte und Kunstbeurteilung.
    Die Gebäude der Hochschule für Gestaltung in Ulm. Aufnahme vom 02.10.1955.
    Die Gebäude der Hochschule für Gestaltung in Ulm. Aufnahme vom 02.10.1955. (picture alliance / dpa)
    Es war die Zusammenarbeit mit Horst Rittel, die Ulm für Lucius so wichtig machte. In Ulm sprach man von sogenannten "bösartigen Problemen", Problemen, die nicht lösbar sind, sondern nur ein bisschen verbessert werden können. Lucius erkannte sofort, dass Stadtplanungsfragen üblicherweise aus solchen bösartigen Problemen bestehen und keinesfalls perfekt gelöst werden können wie es die Fachleute vorgeben. Später verdichtete er diesen Zusammenhang in der Formel: Die Fachleute brauchen immer mehr Fachleute, um die Folgen ihrer Eingriffe zu beheben.
    Nach dem Rückzug aus Ulm und der Heimkehr nach Basel übernahm Lucius Burckhardt die Zeitschrift "Werk" des Schweizerischen Werkbundes als Chefredakteur. Die Jahrgänge 1962 bis 1972 wurden zu einem internationalen Forum für Fragen der Gestaltung und Planung ausgebaut. Diese Themen wurden zunehmend kontrovers. Dass im Januar 1962 ein Wissenschaftler der damals noch wenig bekannten Soziologie in die Redaktion der Architekturzeitschrift "Werk" verpflichtet wurde, stieß bei manchen Lesern auf wenig Verständnis. Diese Entscheidung war tatsächlich ebenso einschneidend wie wegweisend. Unter Lucius Burckhardt wandelte sich "Werk" von einer Architekturzeitschrift zu einer Diskussionsplattform. Viele Gesichtspunkte fanden Aufnahme: die Architekturtheorie, die Soziologie, die Semiotik, die Denkmalpflege und die Probleme der Planung.
    In den 1960er-Jahren sehen wir Lucius aber auch mit zahlreichen Nebenjobs befasst. Für die Landesausstellung 1964 wirkte er als Berater. Für die neu gegründete Regionalplanungsstelle "Regio Basiliensis" arbeitete er als Ideengeber und regte für die Basler Universität 1965 auch eine neue Lehr- und Forschungseinrichtung zum Thema Regionalentwicklung an. In Hochschulgremien von Bund und Kantonen befasste er sich mit Unterrichts- und Berufsbildungsfragen. In Zürich war er Berater für ein neues Institut und Forum für Gestaltung. Für Stadtplanungsfragen saß er in staatlichen Fachgremien und Kommissionen. Daneben arbeitete er in privaten Architektur- und Planungsbüros mit und unterrichtete von 1962 bis 1973 auch an der renommierten Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich "Soziologie für Architekten" im Nebenfach. Dieses neue Lehrfach wurde zunehmend populär, als die Architektur in der Hochkonjunktur weit über die Objektplanung hinaus mit immer umfassenderen Bauaufgaben beauftragt worden war. Stadtplanung ohne soziologisches Wissen war ein Unding. Die Krise der Architekturausbildung brach aus, als 1968 die Studierenden die Zerstörung der schroffen Hierarchien im Ausbildungswesen verlangten. Lucius Burckhardt führte den Projektunterricht ein, in dem die Ausbildung entlang konkreter und komplexer Bauvorhaben erfolgte. Das Buch "Bauen ein Prozess" von 1968, das er zusammen mit dem Architekten Walter Förderer schrieb, war damals Pflichtlektüre in der Opposition. Die Schulleitung der ETH musste schließlich einsehen, dass neue Unterrichtsformen unwiderruflich verlangt wurden, und rief eine Periode des experimentellen Unterrichts aus.
    Lucius Burckhardt wurde nun Ordinarius in der Architekturabteilung unter der Bedingung, dass ein Architekt an seiner Seite den neuen Lehrstuhl bekleidete: Das war die Geburtsstunde des Lehrcanapés, denn zwei Lehrer haben auf einem einzigen Lehrstuhl keinen Platz. Nachdem mehrere kritische Gastdozenten im Sommer 1972 die ETH verlassen mussten, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis das Experiment "Lehrcanapé" abgesetzt wurde. Im Frühling 1973 sollte Lucius Burckhardt wieder zum früheren Status eines Dozenten für Soziologie zurückkehren. Darauf ließ er sich nicht ein und ging an die neugegründete Gesamthochschule in Kassel.
    Im Verlauf der Proteste der 68er-Generation wurde Lucius Burckhardt immer mehr zum Berater der Neuen Linken. Er stand den Exponenten der POCH, der Progressiven Organisationen der Schweiz, und später der Grünen Partei nahe. Es bildeten sich neue politische Eliten. Als nun 1973 feststand, dass er in Kassel eine Berufung annehmen würde, erkundigte er sich beim Kollegen Klaus Pfromm über die dortigen Gepflogenheiten einer Antrittsvorlesung; ob er eher wissenschaftlich, feierlich oder eben doch auch politisch argumentieren solle. Der erwiderte: "Ach, Luzi, leg nur richtig los, du kannst hier in Kassel gar nicht genug links sein!"
    Die Gesamthochschule Kassel, heute Universität Kassel, wurde 1971 als Deutschlands erste Reformuniversität und Gegenentwurf zu den klassischen Universitäten und technischen Hochschulen gegründet. Die Studentenbewegung von 1968 rückte die Gesellschafts- und Planungskritik in das allgemeine Bewusstsein. Folge dieses gesteigerten gesellschaftlichen Legitimationsdrucks war die Stärkung der Geistes- und vor allem der Sozialwissenschaften in den Planungsdisziplinen. Idee und Struktur der Gesamthochschule waren gekennzeichnet von dem Gedanken der sozialen Chancengleichheit, vom projektorientierten Arbeiten in kleinen Gruppen, dem direkten Austausch zwischen Lehrenden und Studierenden, von Praxisbezug und kritischem Denken. Einzigartig war, dass die Fächer Architektur, Stadtplanung und Landschaftsplanung in einem Fachbereich zusammengefasst wurden. Das war wie geschaffen für Lucius Burckhardt. Argwöhnisch wurde die "Rote Uni" wahrgenommen, aber die sogenannte "Kasseler Schule" hat viele neue Planungs- und Denkansätze hervorgebracht.
    Politische Praxis blieb für Lucius ein Ziel seiner Studien und seines Unterrichts. Als er 1986 eine Grüne Partei in Basel gründete, war unübersehbar geworden, dass die Natur ein System ist, und nicht mehr das Bild der Eltern und Vorfahren Gültigkeit besaß. Diese Einsicht wurde in Basel auch durch den nächtlichen Großbrand im Chemiewerk Sandoz verstärkt. Der Begriff "Risikogesellschaft" von Ulrich Beck beschrieb exakt das Lebensgefühl, das Basel damals erfasste: Die modernen todbringenden Risiken betreffen alle und sind nicht mehr sozial ausgrenzbar. 1987 kandidierte Lucius für den Nationalrat, zwar vergebens, aber den Aufbau der Grünen Partei begleiteten er und Annemarie intensiv.
    Fast vergessen ist, dass Lucius Burckhardt 1972 auf der documenta 5 von Harald Szeemann mit einem Beitrag in der Abteilung "Utopie und Planung" vertreten war. Die Ausstellungen boten für Lucius und Annemarie in ihrer Kasseler Zeit immer wieder Stoff für intensive Auseinandersetzungen. Insbesondere regten die künstlerischen Eingriffe im Auepark während der 6. documenta 1977 die Diskussionen über Landschaft und Gestaltung an.
    Der Oberbürgermeister von Kassel, Hans Eichel (l), bei der Grundsteinlegung der "documenta urbana 1982" am 25.09.1980 in Kassel.
    Der Oberbürgermeister von Kassel, Hans Eichel (l), bei der Grundsteinlegung der "documenta urbana 1982" am 25.09.1980 in Kassel. (picture alliance / dpa)
    Seit Beginn der internationalen Ausstellung 1955 hatte ihr Gründer Arnold Bode immer wieder von einer Ausdehnung der Veranstaltung auf die Bereiche Architektur, Design oder Theater gesprochen und in diesem Zusammenhang den Begriff "documenta urbana" geprägt. Im Sommer 1982, parallel zur 7. documenta und parallel zu einer gebauten documenta urbana im Genre einer Bauausstellung am Kasseler Stadtrand, initiierte Lucius Burckhardt mit Studierenden die documenta urbana - sichtbarmachen. Für fünfzehn Orte in der Kasseler Innenstadt wurden von internationalen Teilnehmern - auch von sogenannten Laien - Ideen, Entwürfe und Gedanken eingesammelt, wie sich der jeweilige Ort entwickeln könnte, beziehungsweise an was es dort fehlt. Damit wurde ein einzigartiger Denkraum vor den gebauten Tatsachen entworfen, der den Architektur- und Planungsbegriff erweiterte und an partizipative Gestaltungsprozesse anknüpfte.
    An zwei Hochschulgründungen war Lucius maßgeblich beteiligt: an der Hochschule der bildenden Künste in Saarbrücken im Jahr 1988 und als Gründungsdekan der Fakultät Gestaltung an der Bauhaus Universität in Weimar. Vom alten Bauhausunterricht mit den Vorkursen und den "Großen Meistern" distanzierte er sich grundlegend und führte Theorie und Praxis in den gestaltenden Disziplinen - also zum Beispiel Kunst neben Kunstgeschichte - unter einem Dach zusammen. Sein Hauptanliegen formulierte er so:
    "So groß die Veränderungen gewesen sein mögen, welche die Pioniere der Moderne der Architektur aufgezwungen haben, und so sehr sich die Errungenschaften der zwanziger und dreißiger Jahre heute auf das gesamte Bauwesen ausgedehnt haben, so hat sich doch die Pädagogik dieses Berufes nicht gewandelt. Das Verhältnis von Professor zu Student ist das traditionelle von Meister zu Schüler geblieben, und die Aufgaben der Studenten abstrahieren wie eh und je von der Verwirklichung; es sind Entwürfe für das Dossier, wie man im vergangenen Jahrhundert sagte. Nach wie vor stellt der konventionelle Entwurfsunterricht die Aufgabe, auf einem gegebenen oder supponierten Terrain ein bestimmtes Gebäude zu erstellen; wir nannten am 'Lehrcanapé' solche Aufgaben: 'Jugendhaus am Paradeplatz'. Bei solchen Entwürfen ist supponiert, das Terrain sei verfügbar, der Gebäudezweck richtig und sowohl die Auftraggeber wie die künftigen Besitzer begrüßten übereinstimmend das vorliegende Bauprogramm. Bodenpreis, Verkehrsbelastung, Dringlichkeit, Rendite sind alles Problemkreise, die von solchen Entwürfen ausgeklammert bleiben. Der Student wird in einer Atmosphäre der Abstraktion von der wirklichen Welt erzogen, die bewirkt, dass er später einmal unsanft auf den Boden der Realität fällt. So lernen wir nirgendwo den Umgang mit Aufgaben, die einen Rest ergeben, den Umgang also mit der Realität. Und weil wir dieses nicht gelernt haben, gibt es in der Wirklichkeit lauter Restflächen."
    Als Nachfolger des Architekturhistorikers Julius Posener führte Lucius Burckhardt als Erster Vorsitzender des Deutschen Werkbundes von 1976 bis 1983 das Engagement für eine bessere Umwelt fort. Auf den zweimal jährlich in Darmstadt stattfindenden Werkbundgesprächen wurden aktuelle Fragen zu Architektur und Produktgestaltung kritisch diskutiert, neue Orientierungen im Bauen und Wohnen unter Stichworten wie Regionalismus, Ökoarchitektur und Partizipation erörtert. Wohl zum ersten Mal in der Geschichte des Werkbundes erneuerte Lucius Burckhardt die Vereinigung von Architekten, Künstlern und Gestaltern nicht in der Form einer Rückwendung zum traditionellen Handwerk, sondern in der Emanzipation des Nutzers vom Hersteller und vom Architekten. Emanzipation durch Zweckentfremdung, Umbau und Selbsthilfe mochte zwar für viele Werkbündler noch so fremd klingen wie das Wort Funktionalismus in den 30er-Jahren oder das Wort Prototyp vor dem Ersten Weltkrieg. Aber er sah in einer bedrohten Welt und Umwelt denjenigen die Zukunft vertreten, der Eigenarbeit wieder neben oder sogar vor die Warenproduktion setzt.
    Eine acht mal acht Meter große Landkarte des Thüringer Waldes wird in Gotha von einer jungen Frau mit dem Staubsauger gereinigt. Der Karten-Teppich ist Teil der Ausstellung "Thüringer Wald - Natur in Szene gesetzt"
    "Der Schmutz ist Anlass von Tätigkeiten, Anschaffungen und von Verschleiß." (picture alliance / dpa / Martin Schutt)
    Mit den Darmstädter Tagungen zu "Der Schmutz", "Die Nacht" oder "Die Verpackung" wurden die Themenfelder noch einmal erweitert. Im Exposé zur Schmutz-Tagung von 1980 schrieb Lucius Burckhardt:
    "Das kommende Darmstädter Werkbundgespräch befasst sich mit einem der wichtigsten Elemente unseres Alltags: mit dem Schmutz. Der Schmutz ist Anlass von Tätigkeiten, Anschaffungen und von Verschleiß, deren designerische Komponente von der Form des Staubsaugers bis zur tiefenpsychologisch verbrauchsfördernden Spülmitteldose reicht. Im größeren Rahmen schafft Schmutz Umweltverschmutzung, oder, um es gleich deutlich zu sagen, ist Umweltverschmutzung die Folge der Reinlichkeit. Abluft, Abwasser, Kehricht, alles muss irgendwohin, und nichts davon bringt man aus der Welt; vieles davon nicht einmal aus der Wohnung. [...] Will der Werkbund wieder weitere Kreise, und will er auch die jüngere Generation, die sich inzwischen ihre Möbel auf dem Sperrmüll geholt hat, wieder an der Form interessieren, so muss das in einem neuen Kontext geschehen. Das Produkt kann nicht mehr isoliert und nach einem ästhetischen Kategorienkatalog beurteilt werden, als sei es zu nichts nütze als dazu, Verblüffung auszulösen, - Verblüffung darüber, dass es bei so hoher Abstraktheit der Form überhaupt noch einigermaßen zu dem Zweck zu gebrauchen ist. Denn inzwischen ist auch diese Verblüffung der Langeweile gewichen. Die Themen der Darmstädter Werkbundgespräche sollen es vielmehr ermöglichen, über Design in einem Zusammenhang zu sprechen, der bezogen ist auf unseren Alltag und auf die Wohnlichkeit."
    Landschaft und Landschaftsbild berührten Lucius seit der Jugend im Alpental von Davos. Besonders intensiv wurde die Auseinandersetzung mit dem Thema, als er in Kassel auch Landschaftsplanung zu unterrichten begann. Er bemerkte bald den Mangel, dass über Ästhetik und Wahrnehmung der Landschaft kaum verhandelt werde, weder im Landschaftsbau noch im Natur- und Landschaftsschutz. Mit dem sogenannten Ur-Spaziergang von 1976, einer Exkursion mit Studierenden in das nordhessische Dorf Riede südwestlich von Kassel, wurden die ersten Schritte in Richtung einer neuen Wissenschaft, der Spaziergangswissenschaft, unternommen. Nachdem das Schloss und die Umgebung fußläufig erkundet worden waren, stellte sich jedem Einzelnen nun die Frage, was eigentlich wahrgenommen worden war. Einige behaupteten sogar, einen Brunnen vor dem Tor gesehen zu haben, den es aber gar nicht gab. Damit stand fest, dass nun auch die Sprache, die Dichtung und Literatur, die Malerei bis hin zur Werbung untersucht werden mussten, da sie unsere Wahrnehmung beeinflussen. Und das konnte keiner besser als Lucius Burckhardt, der eine außerordentliche Beobachtungsgabe besaß und in vielen Disziplinen gebildet war.
    Im dritten Teil der Reihe "Querfeldein denken mit Lucius Burckhardt" können Sie am Sonntag, den 28. Juni 2015 Radioaufnahmen und Gespräche mit Lucius Burckhardt von 1973 bis 1990 hören.