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Rachel Cusk: "Der andere Ort"
Der fortwährende Kampf zwischen Frauen und Männern

Eine unterbeschäftigte Schriftstellerin um die 50 lädt einen berühmten Maler in ihr Landhaus auf die Marsch ein. Sie hofft auf Inspiration, er kommt, um zu zerstören. Rachel Cusks neuer Roman "Der andere Ort" ist ein packendes Künstlerdrama.

Von Maike Albath | 07.11.2021
Rachel Cusk: "Der andere Ort"
Rachel Cusk lässt in ihrem neuem Roman "Der andere Ort" die Erwartungen ihrer Figuren mit großem Getöse aufeinanderprallen. (Foto: Siemon Scamell-Katz, Buchcover: Suhrkamp Verlag)
Dieser Roman hat etwas Atemloses. Ein Redeschwall bricht über uns herein, eine Beichte aus dem Mund einer Frau mittleren Alters, gerichtet an einen Mann namens Jeffers. Jeffers wird immer wieder direkt angesprochen, er muss ein Freund sein, doch das sind lediglich Mutmaßungen. Welchem Beruf er nachgeht, wo er lebt, ob ihn der Mitteilungsdrang freut oder irritiert – das alles bleibt im Dunkeln. Umso mehr gibt die Heldin von sich preis, die lediglich unter ihrem Anfangsbuchstaben M auftaucht. Es handelt sich also um eine asymmetrische Kommunikationssituation, die Rachel Cusk in ihrem funkelnden Künstlerporträt "Der andere Ort" von der ersten Seite an etabliert. Und ihr Einstieg ist unheilschwanger.
"Ich habe dir einmal erzählt, Jeffers, wie ich in einem Zug ab Paris den Teufel getroffen habe, und wie nach dieser Begegnung das Böse, das für gewöhnlich ungestört unter der Oberfläche der Dinge schlummert, sich erhob und über jeden Bereich meines Lebens ergoss. Es war wie eine Verseuchung, Jeffers: Es hat alles erreicht und verdorben."

Der Teufel verdirbt alles

Ein typischer Cusk-Moment: Etwas, das niemals wieder gut zu machen sein wird, ist geschehen und rumort weiter im Untergrund. Der vermeintliche Teufel wird als ein lachender, schwitzender Mann beschrieben, der die Ich-Erzählerin geifernd durch alle Waggons hindurch verfolgt, eine Art bucklicht Männlein, ein klassischer Störenfried. Er reist in Gesellschaft eines Mädchens, und es ist unerheblich, ob die Begegnung der überreizten Phantasie von M entspringt oder ob sie sich tatsächlich so zutrug. Cusk geht es um eine Doppelkodierung, denn der Aufenthalt in Paris war für ihre Heldin eine einschneidende Erfahrung und die Voraussetzung für das, was im Zentrum des Romans steht. In Paris nämlich sah M zum ersten Mal die Gemälde des Malers L, der zweiten Hauptfigur von "Der andere Ort", der ebenfalls unter einer Abkürzung figuriert. Die damals gerade noch junge M, Mutter einer kleinen Tochter und verheiratet, hätte am Vorabend beinahe einen Ehebruch begangen, doch im letzten Moment schien ihr Verehrer das Interesse verloren zu haben. Nach einer schlaflosen Nacht streift sie durch die Stadt und steht nun vor Ls Bildern. Ein Selbstporträt des Malers trifft sie im Innersten.
"Bei seinem Anblick empfand ich Mitleid, Mitleid für mich und für uns alle, das wortlose Mitleid einer Mutter für ihr sterbliches Kind, das sie dennoch voller Zärtlichkeit kämmt und ankleidet. Es versetzte mir, könnte man sagen, den letzten Ruck, und ich spürte, wie ich aus einem Rahmen herausrutschte, in dem ich jahrelang gelebt hatte, dem Rahmen menschlicher Verwicklungen unter bestimmten Umständen. In dem Moment tauchte ich aus meinem Leben auf und löste mich von meiner Geschichte ab. Ich hatte genug Freud gelesen und hätte daher wissen müssen, wie albern das alles war, doch anscheinend hatte ich Ls Bild gebraucht, um es wirklich zu sehen."
Die Gemälde wirken wie eine Initiation. Inzwischen ist M längst mit Tony verheiratet, einem in sich ruhenden, vierschrötigen Mann, der sein Land bestellt und viel schweigt. Das Paar bewohnt ein Bauernhaus in einer betörend schönen Marschlandschaft direkt an der Küste. Wo genau, bleibt im Ungefähren, aber wer mag, kann Ähnlichkeiten mit Norfolk entdecken, bis vor kurzem Rachel Cusks realer Rückzugsort. Die Scheidung ihrer Protagonistin, ausgelöst durch das erschütternde Kunsterlebnis in Paris, brachte innere und äußere Verwüstungen mit sich, und bis in die Gegenwart ist M durch ein tiefes Schuldgefühl an ihre inzwischen erwachsene Tochter Justine gekettet. Ihre Gefühlslage, ihr Personenstand und ihr Beruf – sie sei Verfasserin "kleiner Bücher", wie es einmal eher wegwerfend heißt –, verbindet M nicht nur mit ihrer Erfinderin, sondern auch mit Faye, der Ich-Erzählerin in Rachel Cusks international gefeierter "Outline"- Trilogie. Auch M hadert mit ihrer Mutterrolle.
"Ich habe es nie besonders nötig gehabt, zu gewinnen oder Recht zu bekommen, Jeffers, und ich habe erst spät erkannt, dass mich diese Eigenschaft zu einer Außenseiterin macht, besonders auf dem Gebiet der Elternschaft, wo der Egoismus – der narzisstische ebenso wie der selbstaufopfernde – alle Strippen zieht. Manchmal fühlt es sich so an, als klaffte dort, wo mein Egoismus hätte sein sollen, ein riesengroßes Autoritätsvakuum."

Spätmoderne Weiblichkeit

Immer wieder stößt man in "Der andere Ort" auf essayistische Passagen, die um das Thema Familie kreisen und oft mit überraschenden Positionen aufwarten. Es sind Provokationen wie diese, die Cusk berühmt machten. Rachel Cusk, als Tochter englischer Eltern 1967 in Kanada geboren, in Los Angeles aufgewachsen und mit acht Jahren nach England zurückgekehrt, wo sie später Literatur in Oxford studierte, ist in ihrer Heimat seit 2001 ein Star. Nach sieben durchaus erfolgreichen, stilistisch geschliffenen und perfekt geplotteten Gesellschaftsromanen in bester englischer Tradition hatte sie damals einen bahnbrechenden Essay vorgelegt: eine autobiographische Studie über Mutterschaft, die diese Erfahrung in ihrer ganzen Ambivalenz durchdrang. Sie sprach offen von der Fragmentierung der eigenen Identität durch den Säugling, dem Selbstverlust und dem gesellschaftlichen Konformitätsdruck und flankierte ihre Überlegungen mit kulturgeschichtlichen Beobachtungen.
Das Buch wurde ein Bestseller, erntete aber auch scharfen Widerspruch, und in England bestimmte es die Wahrnehmung von Cusk. Der Band erschien unter dem Titel "Lebenswerk" erst 2019 mit großer Verspätung auf Deutsch. Dasselbe galt für ihren Essay "Danach", ein Memoir über ihre Ehe, die Trennung und den Umgang mit ihren beiden Töchtern, in dem sie ebenso auf griechische Tragödien wie auf private Anekdoten Bezug nahm und sich in einer klaren präzisen Prosa darum bemühte, die Konditionen spätmoderner Weiblichkeit zu durchdringen. Anders als in England verlief die Rezeption bei uns also in umgekehrter Reihenfolge: Rachel Cusk wurde berühmt mit der besagten Trilogie. Die Bände "Outline", "Transit" und "Kudos" erschienen kurz nach den Originalausgaben zwischen 2016 und 2018 und galten als angelsächsische Antwort auf Annie Ernaux und ihre Autofiktion.
Es geht um Trennung, Scheidung, um Fayes Schwierigkeiten als alleinerziehende Mutter zweier Söhne, ihre Schreibkurse und Lesereisen. Aber dies sind nur die Rahmenbedingungen, denn die Ich-Erzählerin bringt vor allem andere zum Reden und wird zum Gefäß von Geschichten. Sie stellt Fragen und hört zu. Ob ein ehegebeutelter Sitznachbar im Flugzeug, ein polnischer Bauarbeiter voller Heimweh oder ihre gehetzte Freundin aus der Modebranche, jeder bietet Faye eine Episode aus dem eigenen Leben dar, die meistens mit Familie und Verlust zu tun hat. Eine reizvolle Mehrstimmigkeit entsteht, aber der basso continuo bleibt das Schicksal der Erzählerin, die sich eher passiv verhält. Im neuen Roman dreht sich diese Haltung der Protagonistin genau um: M spricht. Sie schildert Jeffers ihre Ehe mit Tony, die sie als ihr großes Glück empfindet. Und sie beschreibt das liebevoll ausgestattete "andere Haus" in der Nähe ihres Wohngebäudes, auf das der Titel des Romans anspielt.

Vielschichtige Gruppendynamik

"Es steht auf einem flachen Hang, von uns getrennt durch ein kleines Wäldchen. Jeden Morgen steigt die Sonne in den Fenstern unseres Hauses auf, und abends geht sie hinter dem Wäldchen in denen des anderen wieder unter. Die Fenster sind bodentief, so dass die dramatische Marsch mit ihren Wellen aus Licht und Farbe, den sich in der Ferne zusammenbrauenden Gewittern, den großen Schwärmen aus Seevögeln, die als weiße Sprenkel über dem zerzausten Pelz schwebten oder sich darin niederlassen, dem Meer, das sich mal als brodelnd weißer Schaum an den äußersten Horizont zurückzieht, sich mal schimmernd und stumm heranschiebt und alles mit einer glasigen Wasserplatte bedeckt, scheinbar bis in die Zimmer reicht."
Genau hierhin lädt M eines Tages den Maler L ein. Es sei ein guter Ort zum Arbeiten, erklärt sie ihm in einem Brief. Was erhofft sich M von Ls Besuch? Sie scheint begierig auf seine Fähigkeit, die Marsch auf Gemälden einzufangen, sie fühlt sich ihm verbunden, und sie wünscht sich Gesellschaft. L akzeptiert die Einladung, sagt dann aber im letzten Moment ab, um sich ein Jahr später erneut anzukündigen und noch einmal abzusagen, bis er schließlich doch anreist. Inzwischen hat die Corona-Pandemie alle Verhältnisse verändert; die Hausgemeinschaft wird durch Ms arbeitslose Tochter und deren Freund Kurt komplettiert.
Die Gruppendynamik, wie immer bei Cusk glänzend entfaltet, ist vielschichtig, die Figuren sind pointiert. Justine scheint ihrer Mutter im Übermaß bedürftig und sich ihrer erotischen Anziehungskraft nicht bewusst, der snobistische Kurt unterdrückt sie, was sie zu Ms Entsetzen bereitwillig mitmacht. Während sich Justine in formlose Gewänder hüllt, kleidet sich Kurt mit der Sorgfalt eines Dandys und legt auch beim Holz stapeln Wert auf Bügelfalten. An diesen Stellen zeigt sich Cusks bissiger Humor, und unter der Hand wandelt sich das Ganze zwischendurch zur Sozialkomödie. Wie in jedem ihrer Bücher leuchtet sie das Verhältnis zwischen Müttern und Kindern unerschrocken aus und benennt negative Gefühle, die hier durch die Geschlechteridentität noch ein bisschen dramatischer ausfallen. Faszinierend an Cusk ist, dass sie sich vor Destruktivität nicht fürchtet, sondern sie als einen wesentlichen Bestandteil von Beziehungen erkennt. Was sonst bemäntelt und verklausuliert wird, tritt bei ihr deutlich hervor. In ihrem neuen Roman gerät die Balance vollends aus dem Gleichgewicht, als L dann endlich auftaucht.
"In dem Moment trat er beiseite, zog die Frau neben sich und sagte: ‚Das ist Brett, eine Freundin.’ Und so schüttelte ich nicht L die Hand, sondern einem hinreißenden Geschöpf Ende zwanzig, dessen selbstbewusstes und geschmackssicheres Auftreten überhaupt nicht zur Umgebung passte und das mir die Finger mit den lackierten Nägeln so fröhlich anbot, als wären wir nicht am Ende der Welt, sondern auf einer Cocktailparty an der Fifth Avenue!"
Verwirrt und überfordert verfrachten M und Tony den sehnlich erwarteten Gast samt Begleitung in ihr klappriges Auto. L, so beschreibt ihn M, wirkt überraschend adrett und geschniegelt, klein und drahtig mit strahlend blauen Augen. Er habe etwas von einem Ziegenbock, verrät sie Jeffers. Sofort stellt sich beim Leser die Ahnung ein, dass es sich um den Teufel vom Anfang des Romans handeln müsse, und tatsächlich kommt es in den nächsten Monaten zu dramatischen Zuspitzungen. Der charismatische Tony, so erfahren wir bei dieser Gelegenheit, ist dunkelhäutig, ein Findling, der als Baby von Pflegeeltern aus der Gegend aufgenommen wurde. Auf einmal sieht ihn auch M, die sich ihm eng verbunden glaubt, von außen. Bretts abschätziger Blick auf ihren Ehemann entgeht ihr nicht. Da Tony keine Mühe auf sein Erscheinungsbild verwendet, trägt er seine weißen Haare lang und bedient sich aus dem Kleiderschrank seines Adoptivvaters. Ihr selbst, so gibt M gegenüber Jeffers unumwunden zu, sehe man die fünfzig Jahre durchaus an, und als ihr Brett auf der Rückfahrt in den Schopf fasst und vorschlägt, M die Haare zu färben, sind die neuen Machtverhältnisse klar. Doch Ls Faszination hält an.
"L weckte den schrecklichen Verdacht, dass das Leben keine sinnvolle Geschichte birgt und keine persönliche Bedeutung, die über die Bedeutung eines beliebigen Augenblicks hinausreichen würde. Etwas in mir liebte dieses Gefühl oder erkannte es wieder und akzeptierte es als wahr, wie man die Dunkelheit erkennen und ihre Wahrheit neben der des Lichts akzeptieren muss: und in diesem Sinn habe ich L verstanden und erkannt."

Spannungsreiches Psychogramm einer älter werdenden Frau

"Ein anderer Ort" kommt schwungvoll daher; es handelt sich um eine bezwingende Mischung verschiedener Genres. Es gibt Anklänge an Briefromane und Künstlerbiographien; außerdem zeichnet die Autorin das spannungsreiche Psychogramm einer älter werdenden Frau und eines Mannes, der seine Schaffenskraft schwinden sieht. Cusk gelingen eindrucksvolle Landschaftsbeschreibungen, und auch das Werk des Malers, das M wie kaum eine andere zu kennen scheint, hat man bald vor Augen.
"Da standen wir nun vor der Landschaft, die ich all die Jahre mit seinen Augen betrachtet und in der ich seine Hand erkannt hatte – und er dreht sich einfach um und sagt, er wolle Tony malen! "Und Justine auch", fuhr er fort, "falls Sie glauben, sie würde mitmachen." "Wenn Sie jemanden malen", rief ich, "dann doch wohl mich!" Er sah mich mit einem leicht verwirrten Ausdruck an. "Aber Sie kann ich nicht sehen", sagte er."
Mit großem Getöse lässt Cusk die Erwartungen ihrer Figuren aufeinanderprallen. Der hoffärtige L entpuppt sich als völlig abgebrannt, und auf lange Sicht ist er auch seiner jungen Freundin nicht gewachsen. Sympathisch ist diese Ich-Erzählerin bei allen Nöten und aller Fähigkeit zur Introspektion nicht, allzu sehr formt sie ihre Umgebung nach den eigenen Bedürfnissen. Außerdem scheint ihr ein gewisser Vampirismus inne zu wohnen; auf eine sinistre Weise saugt sie die anderen aus. Darin ähnelt sie ihrem Gast sogar, denn auch er behandelt andere wie Material. Doch M entpuppt sich als genauso zäh wie L.
"Während er redete, wuchs in mir ein Gefühl von absoluter Ablehnung und Verlassenheit, meinte ich doch aus seinen Erklärungen herauszuhören, dass mein verbrauchter weiblicher Körper ihn anwiderte und er mich aus diesem Grund auf Abstand hielt, so weit, dass er nicht einmal neben mir sitzen konnte! ,Es mag Sie überraschen, das zu hören, aber auch ich suche nach einem Weg, mich aufzulösen‘, sagte ich empört und mit Tränen in den Augen. ,Nur deshalb wollte ich, dass Sie uns besuchen. Sie sind nicht der Einzige, der so fühlt. Aber Sie können mich nicht einfach auslöschen, nur weil Ihnen bei meinem Anblick übel wird – ich bin genauso unberührbar wie jeder andere Mensch!‘"

Hommage an D.H. Lawrence

Dass Cusk die dunklen Schattierungen menschlicher Bindungen in den Blick nimmt, macht die Qualität von "Der andere Ort" aus. Auf der letzten Seite ihres Buches wartet die Autorin mit einem überraschenden Dreizeiler auf: "Der andere Ort" verdanke sich den Erinnerungen von Mabel Dodge Luhan an den Besuch von D.H. Lawrence in Taos/New Mexico, festgehalten in ihrem Buch "Lorenzo in Taos". Luhan, bei uns eher unbekannt, war eine exzentrische Mäzenin und Begründerin einer Künstlerkolonie, und sie hatte sich von Lawrence, der sie 1922 gemeinsam mit seiner Ehefrau in Taos besuchte, tatsächlich den ultimativen Roman über ihre Wahlheimat erhofft. Man muss die Vorlage nicht kennen, um Cusks Roman zu verstehen, eher verblüfft es, wie sehr Rachel Cusk den Stoff zu ihrem eigenen umformt. Aufschlussreich ist die Lektüre des Erinnerungsbandes von 1932 dennoch. Mabel Dodge Luhan strukturiert ihr Buch nämlich über lose miteinander verknüpfte Briefe, die sich an den damals gefeierten amerikanischen Dichter Robinson Jeffers richteten. Auch andere Details aus "Der andere Ort" gehen auf Luhan zurück: Dass Tony dunkelhäutig ist zum Beispiel, ebenso wie sein Name; Luhan hatte nämlich in vierter Ehe einen indigenen Pueblo namens Tony geheiratet. Parallel gearbeitet ist auch die Konstellation mit den drei Frauen: bei Cusk sind es M, Justine und Brett. Um Lawrence, der bei Luhan unter seinem Kosenamen Lorenzo auftaucht, bemüht sich nicht nur seine Gattin Frieda, sondern auch die Gastgeberin, mit der er dann tatsächlich eine stürmische Liaison eingeht, und schließlich auch noch die Künstlerin Dorothy Brett, von der sich Cusk den Nachnamen für ihre Figur borgt.
Das Haus, in dem der Maler beherbergt wird, ist in seiner Ausstattung identisch mit Luhans Gasthaus: Holzdielen und handgezimmerte Möbel, geweißte Wände, ein Kamin. Bei Mabel Dodge Luhan gestaltete sich die endgültige Anreise von dem kurz vor der Pleite stehenden Lawrence ähnlich kompliziert wie die von L, und genau wie die Amerikanerin arbeitet Rachel Cusk mit Zitaten aus dem Briefwechsel zwischen Gastgeberin und Gast. Manche Dialoge übernimmt Cusk beinahe wortgleich. Auch die Abkürzungen M für Mabel und L für Lorenzo erschließen sich nur mit Blick auf Luhan. Schließlich ließ sich Cusk in der Erscheinungsweise ihrer Heldin offenkundig von der notorisch schlecht gekleideten Mabel Dodge Luhan inspirieren. Und nicht zuletzt ist Rachel Cusks Roman eine Hommage an D.H. Lawrence selbst, der für sie auch in ästhetischer Hinsicht prägend war.
Doch warum benutzt Cusk überhaupt diese Vorlage? Vermutlich war das Verfahren, eigenes Lebensmaterial zur Grundlage literarischer Werke zu machen, mit dem Ende ihrer Trilogie ausgereizt. Jetzt brauchte sie neues Material und findet es in dem ungewöhnlichen Frauenschicksal von Mabel Dodge Luhan, das sie auf charakteristische Weise umarbeitet und an ihre eigenen Themen anpasst, und die haben es in sich. So sehr Cusk zwischendurch ihr komödiantisches Talent beweist, irgendwann kommt bitterer Ernst zum Vorschein.
"Ich bezweifelte nicht, sagte ich zu L, dass er eines Tages von selbst brechen konnte, aber ich mutmaßte, dass der Wahnsinn einer Frau die letzte Zuflucht des männlichen Geheimnisses darstellt, und lieber würde ein Mann sie vernichten, als sich zu offenbaren."
Dann läuft doch wieder alles auf einen Kampf zwischen Männern und Frauen hinaus. Und der ist für Rachel Cusk mit diesem Buch sicherlich noch nicht zu Ende. Erbarmungslos, mitreißend und mit fabelhaftem Gespür für den Wandel von Gefühlen nimmt sie die Abgründe eines ungewöhnlichen Paares in den Blick, das nicht Glück, sondern Zerstörung sucht. Manchmal verliebt man sich eben in den Teufel.
Rachel Cusk: "Der andere Ort"
aus dem Englischen von Eva Bonné
Suhrkamp Verlag, Berlin. 206 Seiten, 23 Euro.