Samstag, 20. April 2024

Archiv

Radikalisierung
Immer ähnliche Muster und einige Risikofaktoren

Bei allen Unterschieden: Radikalisierung verläuft nach bestimmten Mustern. Der Terrorismusexperte Peter R. Neumann arbeitet in "Der Terror ist unter uns" heraus, welche Umstände dazu führen, dass sich junge Menschen Gewaltideologien zuwenden.

Von Susanne El Khafif | 02.01.2017
    Der angeklagte IS-Rückkehrer Harry S. (l) sitzt am 05.07.2016 in Hamburg im Gerichtssaal im Strafjustizgebäude neben seinem Anwalt Udo Würtz.
    Der angeklagte IS-Rückkehrer Harry S.vor Gericht. Peter R Neumann beschreibt Terroristen und ihre Lebensläufe. (dpa Pool)
    Auch in seinem neuen Buch greift Peter R. Neumann ein Thema auf, das besonders brisant ist: "Spätestens während des Sommers 2016 wurde jedem deutlich, wie ernsthaft die dschihadistische Bedrohung in Europa ist."
    Und auch sein neues Buch ist wie der Vorgänger: "Die neuen Dschihadisten" gut strukturiert und verständlich geschrieben, in seiner Analyse anregend und weiterführend. Doch Neumann schreibt nicht nur fort, er setzt inhaltlich neue Akzente. Es sind die Täter, die er diesmal in den Mittelpunkt stellt, es sind Europäer, und ihr Tatort ist Europa: "Wie und warum wird ein junger Mensch aus Europa zum Terroristen? Woher die Brutalität, die Bereitschaft zum Einsatz extremer Gewalt? Wer oder was hatte Schuld? Hätte man die Radikalisierung verhindern können? Warum gab es so wenig Widerspruch? Um diese Fragen geht es in diesem Buch."
    Terroristen sind keine Monster
    Neumanns Beurteilung von Tätern und Motiven fällt dabei überraschend aus: "Wer in diesem Buch nach Monstern sucht, wird enttäuscht. Die Geschichten der Terroristen sind größtenteils Alltagsgeschichten, die sich oftmals erst in der Rückschau als 'problematisch' oder 'gefährlich' entpuppen. Das Bemerkenswerte ist, wie unbemerkenswert - oder gewöhnlich - sie sind."
    Neumann bleibt seinem universalen Erkläransatz treu. Der besagt: Terrorismus gibt es weltweit, es gab ihn früher, es gibt ihn heute. Terrorismus tritt in Wellen auf. Und: Wir stehen heute am Anfang einer neuen Welle, dem Dschihadismus.
    Tatsache sei, so der Autor, dass sich Konflikte, Ideologien und der zeitliche Kontext unterschieden. Auffällig aber seien die Gemeinsamkeiten. Neumann nennt ein Beispiel: Lenny Murphy, Chef einer protestantischen Terror-Bande in Nordirland, brachte zwei Dutzend Katholiken um. 'Jihadi John', so der Kampfname eines jungen Briten und Henkers im Dienst des IS, ermordete westliche Geiseln vor laufender Kamera.
    "Genauso wie Murphy war 'Jihadi John' ein Produkt des europäischen Bildungssystems, aus anständigem Elternhaus, mit ordentlicher Perspektive. Beide verstanden sich als Soldaten, als Krieger und Verteidiger einer guten Sache - und für beide wurde dies zur Rechtfertigung extremer, sadistischer Gewalt. Beide schnitten ihren Opfern die Kehlen durch."
    Es gibt Radikalisierungsmuster, die sich wiederholen
    Wie und warum also wird ein junger Mensch aus Europa zum Terroristen? In jenem sich selbst so verstehenden Hort von Aufklärung, Demokratie und Rechtstaatlichkeit - Der Autor bleibt die allgemein gültige Antwort, die auf jeden Terroristen zutreffende Formel schuldig. Es gebe sie nicht, schreibt er. Intensives Forschen sei dennoch entscheidend, denn: "Dass der eine, typische Terrorist nicht existiert, heißt nicht, dass es keine Typisierungen gibt. Und dass nicht alle Radikalisierungsverläufe identisch sind, schließt nicht aus, dass es Muster gibt, die sich wiederholen."
    Radikalisierung sei kein Ereignis, konstatiert Neumann, sondern ein Prozess. Und es gebe nicht eine Ursache sondern viele. Entscheidend seien Kontext und Zusammenspiel. Der Autor stellt fünf Risikofaktoren vor - die fünf in der Forschung bekannten "Bausteine" der Radikalisierung - bedient sich ihrer als "analytische Werkzeuge". Er benennt sie: "Frustration, Drang, Ideen, Leute, Gewalt"
    Und dann wendet Neumann besagte Typisierung und Muster beispielhaft an: Er beschreibt Terroristen und ihre Lebensläufe, analysiert mithilfe der "Werkzeuge" den Prozess ihrer Radikalisierung: Etwa des Tierschützers Donald Currie. Des Rechtsradikalen Anders Breivik. Von Andreas Baader, Mitbegründer der Roten Armee Fraktion. Des Dschihadisten Harry S. aus Bremen.
    "Den darauffolgenden Sommer verbrachte ich mit Stapeln von Büchern und Aufsätzen. Dabei entdeckte ich, wie viele gute Forschung mittlerweile existiert - was fehlte, war ein nuancierter und dennoch gut lesbarer Text, der die verschiedenen Ansätze, Methoden und Erkenntnisse auf einen Nenner brachte."
    Religiös und säkular motivierter Extremismus lassen sich ähnlich erklären
    Neumanns besonderes Verdienst besteht in der umfassenden, systematischen Aufarbeitung des aktuellen Forschungsstandes. Er integriert jüngste, auch eigene Forschungsergebnisse, beschreibt den Stand der Debatten - er resümiert, analysiert, entwickelt weiter - mit der besonderen Expertise, die ihn auszeichnet. Damit schafft er eine wertvolle Grundlage für all jene, die zu diesem Themenkomplex weiterarbeiten.
    Besonders wohltuend ist dabei die unaufgeregte Haltung, die der Autor an den Tag legt. Sie bringt Ruhe in eine öffentliche Diskussion, die aufgeladen und von extremen Standpunkten bestimmt ist. Zum Beispiel, wenn es um die Religion geht, vor allem um den Islam. "Dass bei solchen Debatten außer Geschrei und Konfrontation wenig herauskommt, sollte niemanden wundern, denn die 'eine Religion', die entweder gut oder schlecht ist, gibt es nicht."
    Die These des Autors: Religiös motivierter Extremismus lässt sich mit denselben "Bausteinen" erklären wie säkular motivierter Extremismus. Religion funktioniert ähnlich wie Ideologie. Sie artikuliert Frust und Drang, lenkt in ein Projekt - Neumann nennt das Projekt "Gegenentwurf" - schafft Motivation, Anreiz und Rechtfertigung.
    "Was tun?"
    Wo doch spätestens seit vergangenem Sommer klar ist, wie groß die Gefahr auch für Europa geworden ist!
    Eine "hausgemachte Radikalisierung", konstatiert Peter R. Neumann, erfordere eine "hausgemachte Antwort". Er spricht sich für eine bessere Ausstattung der Sicherheitsbehörden aus, für mehr Kooperation in Europa. Doch das allein reiche nicht aus, wichtig sei die Bekämpfung der Ursachen. Und hier sei der Staat, vor allem die Zivilgesellschaft gefordert. Um zu verhindern, dass immer mehr junge Europäer anfällig würden für die Lockrufe eines selbsternannten "Kalifen" und seines "Staates". Allerdings, so Neumann: "Wer auf Terrorismus mit Ausgrenzung und Polarisierung reagiert, tappt in die Falle, die der Islamische Staat gestellt hat. Die Lösung ist deshalb nicht, sich vom gesellschaftlichen Pluralismus abzuwenden, sondern - im Gegenteil - noch stärker für ihn zu werben."
    "Der Terror ist unter uns" - auch Peter R. Neumanns jüngstes Buch ist ausgesprochen lesenswert. Nicht zuletzt deshalb, weil der Autor sachlich bleibt - obwohl seine Sorge deutlich zu spüren ist: um Europa und die europäischen Werte.
    Peter R. Neumann: Der Terror ist unter uns - Dschihadismus und Radikalisierung in Europa
    Ullstein 2016, 304 Seiten, 19,99 Euro