Donnerstag, 16. Mai 2024

Studie
Radikalisierungspotenzial Sozialer Medien geringer als gedacht

Die meisten Videos zu alternativen und extremistischen Inhalten werden nur von einem geringen Anteil der Nutzer gesehen. Das geht aus der qualitativen Studie einer US-amerikanischen und britischen Forschergruppe im Fachjournal "Science Advances" hervor.

02.09.2023
    Das Logo des Video-Portals YouTube wird auf dem Display eines Smartphones angezeigt. Im Hintergrund ist auf einem Bildschirm die YouTube Homepage zu sehen.
    Doch keine Radikalisierungmaschine? (picture alliance / dpa / Monika Skolimowska)
    Nur 15,4 Prozent der Befragten sahen in dem Untersuchungszeitraum von einem knappen halben Jahr mindestens ein YouTube-Video von alternativen Kanälen, nur 6,1 Prozent sahen eines der extremistischen Kanäle. Die Studienergebnisse stellen zudem die Theorie infrage, wonach der YouTube-Algorithmus häufig zu Radikalisierungen im Sinne der "Rabbit-Hole-Hypothese" führt. Diese besagt, dass die Empfehlungsalgorithmen Nutzern der Plattform immer stärker polarisierende oder extremistische Inhalte vorschlagen, um ihr Interesse aufrecht zu halten und sie weiter in den "Kaninchenbau" hineinzuziehen.

    Anders als die öffentliche Debatte suggeriert

    Anders als in der öffentlichen Debatte suggeriert, deutet die Studie somit an, dass die Rolle von Sozialen Medien bei der Radikalisierung von Menschen vermutlich oft übertrieben wird. Eher suchten bereits radikalisierte Menschen gezielt nach extremistischen Inhalten. Wie die Forscher selbst betonen, lässt ihre Studie aufgrund von Limitationen kein abschließendes Urteil zu.
    Alternative Kanäle sind laut der verwendeten Definition solche, die kontroverse Themen diskutieren und dabei versuchen, diskreditierte Ansichten zu legitimieren, indem sie sie als marginalisierte Standpunkte darstellen. Bei der Erstellung der Liste der alternativen und extremistischen Kanäle stützten die Forscher sich darüber hinaus auf bereits in der Literatur existierende Listen.

    "Die Studie ist ein weiterer Sargnagel für die These, dass uns die Algorithmen immer radikaler machen"

    Die Autoren um Annie Chen von der City University of New York werteten für ihre Arbeit Umfragedaten zu den Einstellungen von Nutzern in den USA und deren Browserdaten von Juli bis Dezember 2020 aus.
    Der Kommunikationswissenschaftler Fabian Prochazka von der Universität Erfurt erklärte, methodisch sei die Studie nach allem, was erkennbar sei, absolut belastbar. Sie stamme von einem renommierten Forscherteam. Die Kombination aus Befragungs- und Verhaltensdaten gelte als "Goldstandard" in diesem Bereich und erlaube die gezogenen Schlüsse. "Die Studie ist ein weiterer Sargnagel für die These, dass uns die Algorithmen der sozialen Medien immer radikaler machen", führte Prochazka aus. Ähnlich äußerten sich andere Experten.
    Diese Nachricht wurde am 02.09.2023 im Programm Deutschlandfunk gesendet.