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Radiolexikon Gesundheit: Anorexie

Anorexie oder Magersucht ist eine anerkannte Krankheit. Vor allem junge Mädchen und Frauen wollen immer dünner werden, verweigern die Nahrung, stellen das Essen einfach komplett ein: Eine Gefahr für Körper und Seele.

Von Ulrike Burgwinkel |
    "Das zentrale Merkmal der Magersucht, oder Anorexia nervosa, ist: Gewollt an Gewicht abzunehmen in einem ungesunden Bereich."

    Professor Thomas Huber ist Mediziner, Ernährungswissenschaftler und Psychotherapeut. Er leitet die Klinik am Korso in Bad Oeynhausen. Diese gemeinnützige Klinik der Johanniter ist auf Essstörungen spezialisiert.

    "Den meisten Menschen mit einer ausgeprägten Anorexie sieht man das sofort an. Sie sind deutlich untergewichtig - das sehen sie oft selbst nicht, aber andere sehen das -, sind abgemagert, sind auch häufig in ihrer Persönlichkeit sehr eingeengt auf die Themen Gewicht und Essen, wenn sie in einer akuten Erkrankungsphase sind, können eigentlich über kaum was anderes denken und sprechen, wirken sehr freudlos, haben sich meistens sozial zurückgezogen, lachen nicht mehr im Gespräch. Das ist relativ leicht zu vermuten, dass jemand das hat."

    Abgesehen vom Augenschein in Kombination mit der Gewichtsuntersuchung sei die Diagnose wenig spezifisch, schließlich gebe es keinen Magersuchtstest, so Huber.

    "Betroffene haben oft körperliche Veränderungen, dazu zählt häufiger Schwindel, ihnen wird sehr schnell kalt, der Blutdruck ist niedrig, es gibt Blutbildveränderungen und Veränderung der Blutsalze."

    Sandra Großhausmann ist Patientin in der Klink am Korso, 24 Jahre alt und magersüchtig seit zehneinhalb Jahren. Dabei hat es "ganz normal" angefangen.

    "Da war ich etwas übergewichtig und wollte einfach nur ein paar Kilo abnehmen und irgendwann sind aus den paar Kilo Abnehmen fast 30 Kilo geworden in wenigen Monaten und dann habe ich irgendwann gemerkt: Ich kann damit nicht mehr aufhören."

    Am Anfang sei der Druck noch von den Eltern gekommen, sie müsse endlich wieder essen oder in die Klinik. Sandra will nicht. Erst viel später erkennt sie, dass sie selbst etwas unternehmen muss.

    "Ich fand das einfach schön. Ich wollte dazu gehören, hatte endlich Kontakte, die ich früher nie gehabt hätte und dachte, ich wär' damit glücklich. Jetzt habe ich es auf jeden Fall gemerkt, weil ich nicht mehr arbeiten konnte, ich konnte nicht mehr rausgehen, das Leben bestand eigentlich nur aus Zwängen. Ich bin morgens um 7.30 Uhr eine Runde spazieren gegangen, weil ich da noch die Kraft hatte nach dem Kaffee, hab dann nur noch im Bett gelegen den ganzen Tag, musste überlegen: Schaff ich es mir nen Tee zu kochen, oder ist das zu anstrengend."

    Das Problem bei der Therapie anorektischer Patienten sieht der leitende Klinikdirektor Thomas Huber vor allem in einer Zwiegespaltenheit.

    "Zuallererst muss man sich bei der Behandlung einer Magersucht klar machen, dass man letztlich mit zwei Anteilen zu tun hat. Es gibt fast immer eine Seite, die sagt: Ich möchte wieder Spaß am Leben haben und gesund werden, und es gibt aber auch die andere Seite, die möchte lieber krank bleiben oder hat große Angst vorm Gesundwerden."

    Die Gründe für die Angst vorm Gesundwerden seien so unterschiedlich wie die Menschen selbst.

    "Manchmal sind es Personen, die im Leben die Erfahrung gemacht haben: Im Normalgewicht fühle ich mich von anderen nicht akzeptiert und angenommen und Angst vor Ablehnung haben, wenn sie wieder zunehmen. Es gibt aber auch ganz andere Themen, zum Beispiel die Angst davor, zur Frau oder erwachsen zu werden."

    Darüber hinaus stellt das medial vermittelte Schönheitsideal eher den "Hungerhaken" als attraktiv, begehrenswert und infolgedessen beliebt dar.

    "Es ist also zumindest für Frauen schwierig und braucht ein gutes Selbstwertgefühl, seinem Körper zu erlauben, so auszusehen, wie er das natürlicherweise will. Das bedeutet, es gibt einen gewissen gesellschaftlichen und auch innerlichen Druck, weniger zu wiegen, als für mich gut wäre."

    Der Patientin Sandra Großhausmann ging es zu Beginn natürlich auch ums Aussehen. Sie betrieb extrem viel Sport: Joggen, Tanzen, Fitnesstraining. Sie gab sogar Kurse in einem Studio. Doch dann kam der Umschwung.

    "Hinterher war es eher so eine Art Kompensation, um sich einfach selbstsicher zu fühlen, und ja, es war immer ein innerer Schmerz da und irgendwie war wie eine Art 'versuchen zu verschwinden', sich selber kaputt zu machen und mit der Traurigkeit klarzukommen. Ich hab dadurch mehr Selbstsicherheit gewonnen. Es war etwas, was ich konnte. Ich hatte eine Kontrolle über mich, über meinen Körper - dachte ich zumindest -, aber im Endeffekt bestand das Leben nur aus Zwängen hinterher."
    "Kontrolle" ist ein wichtiges Stichwort: für den Therapeuten wie für die Patientin. Thomas Huber noch einmal zu einer häufigen Motivlage bei Magersüchtigen:

    "Es sind Menschen , die ein hohes Bedürfnis nach Kontrolle haben und mit Angst und Unsicherheit nicht so gut umgehen können - vielleicht auch, weil sie schlechte Erfahrungen damit gemacht haben und ihre Umwelt sehr unsicher war. Und es sind dann auch oft Menschen, die das Gefühl haben, ich kann aber mein Leben nicht so kontrollieren, wie ich das gern möchte. Was ich aber kontrollieren kann, ist mein Essverhalten und mein Aussehen. "

    Das alles will Sandra Großhausmann hinter sich lassen, die Zwänge loswerden, die ihr Leben bislang bestimmten. Das hat sie selbst entschieden.

    "Ich finde es ganz wichtig, dass es von einem selber kommt, dass man nicht nur Druck von oben bekommt. Auch hier. Man wird hier nicht gezwungen, bestimmte Mengen zu essen immer; dass man auch gewisse Freiheiten hat, dass man selber gucken muss, wie komme ich damit klar."

    Die meisten Patienten in der Bad Oeynhausener Klinik sind junge Frauen und Mädchen. Für Jungen und Männer gilt eben nicht in gleichem Maß das Idealbild der dünnen Körpersilhouette. Thomas Huber:

    "Es sind etwa zehn Mal mehr Frauen als Männer, die betroffen sind, aber es gibt auch Jungen und Männer, die eine Anorexie haben. Wir haben an der Klinik am Korso den Eindruck, das sind mehr, die Behandlung suchen tatsächlich in den letzten Jahren. Ob es insgesamt mehr Kranke gibt, oder mehr Männer, die sich trauen, Behandlung aufzusuchen, ist eine andere Frage."

    Nach Meinung Hubers hat dieses Outing nicht unbedingt etwas mit der sexuellen Orientierung der betroffenen Männer zu tun. Das werde oft gesagt, aber es sei eher ein Problem der Identität, das bei schwulen Männern ein größeres darstelle als bei heterosexuellen. Darüber hinaus stellt er bei Männern weitere Gründe für die Magersuchtanfälligkeit fest.

    "Da geht es aber eher nicht ganz so sehr ums 'Ich will dünn und schön sein', sondern oft um andere Themen. Manchmal ist es das Muskulös-Sein, man spricht vom Adonis-Komplex. Es gibt aber auch durchaus ganz tief liegende innerpsychische Gründe wie zum Beispiel die Essstörung. Sie ist die Möglichkeit, mein Leben selbst zu bestimmen, mich aufzulehnen, nicht zu machen, was von mir erwartet wird."