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Radiolexikon Gesundheit: Gleichgewichtsstörungen
Bewegung hilft gegen Schwindel

Auch wenn Schwindel vielen Angst macht - nur ein Prozent der Schwindelanfälle sind wirklich gefährlich, etwa in Folge eines Schlaganfalls. Grundsätzlich gelte, dass Bewegungstherapien mehr helfen als Tabletten, sagen Ärzte. Denn Vermeidungsverhalten mache Schwindel nur schlimmer.

Von Justin Westhoff | 23.07.2019
Ein Mann sitzt abends in einem Büro an einem vollen Schreibtisch und arbeitet in Berlin.
Migräne, Lagerungsschwindel, Kreislaufschwindel - viele Schwindelanfälle sind eher harmlos (picture-alliance / dpa / Wolfram Steinberg)
"Wir wollen jetzt eine Untersuchung zum Gleichgewichtsorgan machen, dazu muss ich Ihnen jetzt diese Brille aufsetzen, und da sind zwei Videokameras drin, die Ihre Augenbewegungen messen."
Wer dachte, dass alleine die Innenohren für unseren Gleichgewichtssinn zuständig sind, irrt. Professor Thomas Lempert, Neurologe von der Schlossparkklinik Berlin erklärt, wie komplex das ist.
"Unsere Orientierung in der Welt und unser Gleichgewicht hängt davon ab, dass mehrere Sinnessysteme gut funktionieren und im Gehirn diese Information zusammengeführt wird. Das Gleichgewichtsorgan, das in den Innenohren sitzt, misst die Kopfbewegung und die Kopfstellung, die Nerven, die von den Füßen aus Informationen zum Gehirn leiten, die melden uns den Kontakt zum Boden, die Stellung der Gelenke, und über die Augen orientieren wir uns natürlich auch im Raum. Und wenn eines dieser Systeme gestört ist oder gleich mehrere zusammen, dann entsteht Schwindel."
Schwindel macht meistens Angst. Professor Lempert kann die meisten Patienten beruhigen.
"Zum Glück sind 99 Prozent harmlos und wirklich nur ein Prozent gefährlich. Und die häufigsten Schwindelarten – viele kennen das vielleicht – Kreislaufschwindel, man steht zu schnell auf, dann versackt einem der Blutdruck, nach ein paar Sekunden ist es vorbei, spätestens wenn man sich wieder hingesetzt hat. Häufig ist auch der gutartige Lagerungsschwindel, der kommt aus dem Innenohr, da hat jeder von uns kleine Ohrsteinchen, die dort sorgen, die Schwerkraft anzuzeigen, aber wenn die verrutschen, dann gibt es auf einmal Schwindel, beim Umdrehen im Bett, beim Aufrichten oder Hinlegen."
Häufige Schwindelursache ist auch die Migräne, etwa 20 bis 30 Prozent der Migräne-Patienten haben auch Schwindelattacken. Und sehr häufig ist Schwindel im Alter, weil alle Sinnessysteme nachlassen, eine Fülle von Ursachen, die zusammen kommen und dann den Schwindel erzeugen.
Schwindel als Folge eines Schlaganfalls
Zu den seltenen Fällen, wo hinter der Schwindelkrankheit eine ernsthafte Krankheit stecken könnte, gehört die Durchblutungsstörung im Gehirn, sagt der Neurologe.
Da kann es ein Schlaganfall-Symptom sein, und man denkt dann vor allem daran, wenn ein älterer Mensch einen erstmaligen Schwindel bekommt, der auch länger anhält, dann ist es richtig, sich notfallmäßig untersuchen zu lassen, ob da möglicherweise ein Schlaganfall dahinter steckt.
Auch der Morbus Menière, benannt nach einem französischen Ohrenarzt aus dem 19. Jahrhundert, gehört zu den seltenen Erkrankungen, die heftige Schwindelattacken und Hörverluste auslösen kann.
Dr. Uwe Schönfeld ist Medizinphysiker an der Charité. Dort leitet er das Zentrum für Schwindeldiagnostik. Die Menschen mit schwerwiegender Krankheit bleiben über zwei Tage und durchlaufen Tests in verschiedenen ärztlichen Fachrichtungen.
"Das zieht sich so über drei, dreieinhalb Stunden hin, was durchaus auch manchmal ein bisschen anstrengend ist, weil man als Patient immer konzentriert dabei sein muss, wir teilen es dann auch ganz gerne in zwei Teile auf, die dann leichter zu ertragen sind."
Patienten, die ganz plötzlich unter Schwindel leiden, begleitet von starker Übelkeit, werden manchmal sogar von der Feuerwehr eingeliefert.
"Aber es gibt auch andere Patienten, die eher eine schleichend eine Schwindelproblematik haben, dass der Gleichgewichtssinn nicht mehr funktioniert, die dann vielleicht eine Gangunsicherheit spüren oder manchmal irgendwelche Schwindelattacken, die gehen dann vielfach auch schon vorher zu einem niedergelassenen Arzt, wenn sie dort nicht weiter erfolgreich behandelt werden, kommen sie hier in die Klinik."
Gemessen wird dort unter anderem ein Reflex der Augenmuskeln, den jeder benötigt, denn sonst wäre das Bild bei jeder Bewegung unscharf, erzählt der Experte bei einem Besuch in seinem Labor.
"Deswegen wird immer das Auge gegen korrigiert, so können wir ein scharfes Bild machen. Und diesen Effekt nutzen wir dann in der Diagnostik aus, weil bei Schwindel dann auch diese Augenbewegungen ausgelöst werden."
Einen ähnlichen Test können Patienten auch selbst machen:
"Wenn man einen Finger nimmt, vor sich hinhält, und mit dem Finger wackelt, und auf den Finger schaut, dann hat man ein unscharfes Bild. Macht man’s genau anders rum, dass man den Finger ruhig hält und mit dem Kopf wackelt, hat man ein scharfes Abbild, bei Patienten, bei denen aufgrund eines Defizits, einer Krankheit, dieser Reflex nicht funktioniert, die haben dann auch in dieser Situation ein unscharfes Bild."
Zudem werden in dem Zentrum weitere Reaktionen untersucht. "Wie messen zum Beispiel einen Reflex auf den Halsmuskel, der auf Vibrationen ausgelöst, auch den Kopf ausrichtet. Oder auch noch mal einen anderen Reflex auf Augenzucken nach Vibrationen des Schädels."
Auch die Seele kann eine Rolle spielen, selbst wenn der Schwindel harmlos ist.
"Das Erleben von Schwindel ist für die meisten Menschen verunsichernd. Manchmal so tiefgreifend, dass sich eine Angststörung entwickelt. Und die Aufgabe ist hier einerseits, Ängste aufzulösen, weil das alles nicht gefährlich ist, und dann wieder zurück zu finden in dieses automatische, unwillkürliche Funktionieren, und das geht mitunter eher mit einer Physiotherapie, wo Gleichgewichtsübungen gemacht werden, als mit einer Psychotherapie."
Vermeidungsverhalten macht Schwindel schlimmer
Professor Thomas Lempert betont aber auch, dass man sich zwar erst einmal hinlegen sollte, das aber nur in der Akutphase.
"Wenn die mal überstanden ist, dann geht es eher darum, wieder nach Außen zu gehen, und sich wieder zu bewegen, sich nicht im Schneckenhaus zu verkrümeln, sondern raus auf die Straße und nicht den Alltagsanforderungen auszuweichen, weil Vermeidungsverhalten macht einen Schwindel schlimmer."
Medikamente gegen die Störung haben nur einen begrenzten Wert.
Für die meisten Schwindelarten gilt, dass Bewegungstherapien mehr helfen als Tabletten. Viel wichtiger ist, sein Gleichgewicht wieder zu gewinnen, und auch für Schwindel im Alter gilt, dass Gleichgewichtstraining die besten Effekte hat und man eher gucken muss, welche Medikamente setzt man ab, die ganzen dämpfenden Medikamente, Schlafmittel, Beruhigungsmittel, sollten auf den Prüfstand.
Insgesamt raten alle Fachleute, bevor man sich in ein spezialisiertes Zentrum begibt:
"Oft ist es sinnvoll, zuerst zum Hausarzt zu gehen, weil der hat dann oft schon den Riecher, das geht in die HNO-Richtung oder neurologisch oder hier ist etwas Psychisches mit im Spiel, gerade, wenn er einen schon länger kennt. Es gibt zu viele Patienten, die eine Ärzte-Odyssee durchmachen, von manchen Ärzten auch Angst gemacht bekommen, und deshalb braucht man einen Hausarzt, dem man vertrauen kann, der dann den diagnostischen Weg ein bisschen führt."