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Giro d'Italia
Bora-hansgrohe etabliert sich als Grand-Tour-Team

Radprofi Jai Hindley hat als erster Australier den Giro d'Italia gewonnen. Das habe er auch seinem Team und einer sehr guten gemeinsamen Taktik zu verdanken. Damit entwickelt sich das deutsche Team BORA-hansgrohe zu Podiumsanwärtern, auch nach dieser Italien-Rundfahrt.

Von Tom Mustroph | 29.05.2022
Jai Hindley hat den Giro d'Italia gewonnen.
Jai Hindley hat den Giro d'Italia gewonnen. (IMAGO/LaPresse)
Der Straßenradsport hat einen neuen Player bekommen. Bora-hansgrohe drückte diesem Giro d’Italia den Stempel auf wie noch nie eine deutsche Mannschaft. Zwei Etappensiege in den Bergen holte sie – und eroberte am vorletzten Tag mit einer Kollektivleistung das rosa Trikot.
„Ja, das ist ein unglaubliches Gefühl. Ich wusste nicht, ob ich nach zwei Jahren jemals wieder ins rosa Trikot zurückkomme. Aber jetzt dieses Jersey zu tragen, ist unfassbar, ein Privileg und eine Ehre", suchte Jai Hindley sichtlich bewegt nach Worten, als er gestern das Führungstrikot überstreifte.

Team-Taktik ging auf

Der Australier ist der neue Frontmann der Bora-Crew. 2020 kam er schon einmal am vorletzten Tag ins rosa Trikot. Damals fuhr er für den Rennstall Sunweb. Er verlor rosa wieder im Zeitfahren. Das geschah auch, weil sein damaliges Team auf den Etappen zuvor ein paar unglückliche Entscheidungen traf und Hindley mit nur minimalem Vorsprung in den abschließenden Kampf gegen die Uhr gehen konnte. Sein neues Team dagegen hat bei diesem Giro vieles richtig gemacht.
„Als Team sind wir ein richtig schlaues Rennen gefahren. Wir haben versucht, keine Energie zu verbrennen, wenn es nicht nötig war. Wir kalkulierten einfach richtig, wann wir losschlagen wollten.“
Vor allem zwei Etappen ragten mit Blick auf die Gesamtwertung heraus. Am Samstag vor einer Woche zertrümmerte eine Kollektivleistung von Bora förmlich das Peloton. Bei einer Attacke von fünf Bora-Profis 80 km vor dem Ziel konnte nur ein gutes Dutzend anderer Fahrer folgen.
„Die Rennfahrer waren erst ein bisschen skeptisch, ob das so funktionieren könnte. Aber letztendlich haben sie alle an einem Strang gezogen. Und man hat an ihren Gesichtern gesehen, dass sie gewillt waren, die Aktion durchzuziehen. Wir haben das Feld da richtig durchgeschüttelt“, bilanzierte beglückt der sportliche Leiter Jens Zemke. Es war ein Coup für die Geschichtsbücher und ein Schub für die Rennfahrerseele.
„Das ist super für das Selbstvertrauen von der Mannschaft, dass die gesehen haben, dass wir, wenn wir eine Aktion starten, sogar andere Mannschaften richtig in Bedrängnis bringen können wie Ineos zum Beispiel.“
Kapitän Hindley kam dadurch in Schlagdistanz zum rosa Trikot. Das trug eine Woche lang Richard Carapaz, Kapitän vom mächtigen Team Ineos, selbst Giro-Sieger 2019 und Olympiasieger von Tokio. Genau eine Woche später jagte Hindley dann diesem Mann das rosa Trikot ab. Das gelang auch deshalb, weil er beim finalen Anstieg auf den gefürchteten Fedaia-Pass in 2.000 Meter Höhe noch einen Helfer hatte: Lennard Kämna.
Lennard Kämna aus Deutschland vom Team Bora-hansgrohe freut sich über seinen ersten Etappensieg bei der Tour de France.
Lennard Kämna aus Deutschland vom Team Bora-hansgrohe. (dpa/ BELGA)
„Es war ein phänomenaler Job von ihm. Erst war er in der Gruppe, dann ließ er sich zurückfallen in genau dem richtigen Moment. Und dann gab er mir den Kick. Das war wichtig an jenem Punkt des Rennens. Es war ein phänomenaler Ritt von ihm und ich bin ihm sehr dankbar.“
Kämna war der zweite herausragende Akteur von Bora bei diesem Giro. Er holte selbst einen Etappensieg am Ätna. Und so schwer die Rundfahrt auch körperlich sein mochte, Kämna strahlte drei Wochen lang pure Glückseligkeit aus.
 „Ich denke, wir haben hier eine sehr schöne offensive Taktik, ich fühle mich sehr wohl, es macht viel Spaß.“

Team Bora-hansgrohe noch im Aufschwung

Weil ihm Radsport im letzten Jahr nicht mehr so viel Freude bereitet hatte, nahm Kämna eine mehrmonatige Auszeit. Er befreite sich vom Druck auf sich selbst, auch vom Druck der Öffentlichkeit, und fuhr einen bemerkenswerten Giro. Er ist ein wichtiger Teil eines Rennstalls im Aufwind.
„Ich würde sagen, unsere Mannschaft ist auf jeden Fall auf einem richtigen Weg, und ich glaube, dass wir eher noch am Anfang von unserer Entwicklung stehen.“
Bora-hansgrohe hat bei diesem Giro eine Duftmarke gesetzt. Zwar lief nicht alles wie gewünscht. Aus der Dreierspitze zu Beginn des Rennens blieb nur der neue Star Jai Hindley übrig. Co-Kapitän Wilco Kelderman verlor durch einen Defekt viel Zeit. Der zweite Co-Kapitän Emanuel Buchmann büßte bei den meisten Bergetappen immer wieder halbe und ganze Minuten ein. Unter die Top 10 kommt aber auch er. Und wie er fuhr, stimmt den Ravensburger selbst optimistisch.
„So unzufrieden bin ich nicht. Ich hatte eine extrem schwere Vorbereitung mit vielen Rückschlägen. Die letzten zwei Jahre waren extrem schwer für mich. Und ich bin nicht  auf meinem absoluten Topniveau. Aber ich bin ganz gut dabei. Und es ist auch mal positiv, dass ich drei Wochen auf einem guten Niveau fahren konnte, ohne Rückschläge, ohne Stürze, ohne Krankheiten.“
Früheste neue Bewährungsprobe könnte für Buchmann die Spanienrundfahrt sein. Die Tour de France wird der Gesamt-Vierte von 2019 auslassen. Seinen Rennstall sieht er dort aber auch als Protagonisten.
„Ich denke, in Frankreich sollte Alex der Kapitän sein, und der ist ja auch extrem gut unterwegs. Ich denke, der hat auch Möglichkeiten, ums Podium mitzufahren." 
Alex ist Alexander Wlassow, neben Hindley ein weiterer Neuzugang in dieser Saison. Die beiden stehen auch personell für den Umbruch in Richtung Rundfahrtteam. Der Giro d’Italia zeigte, dass Bora Rennfahrer mit Potenzial bei den Grand Tours hat. Er zeigte auch, dass in den Begleitwagen sportliche Leiter sitzen, die Ideen entwickeln, die mitunter sogar die Profis überraschen.