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Rätselhafter Schädel
Der Unbekannte vom römischen Palatinhügel

Mitten in der italienischen Hauptstadt machen Archäologen immer wieder Entdeckungen. Manche davon sind aber ganz besonders – so wie der Totenschädel, der jüngst ausgegraben wurde und über dessen Bedeutung nun gerätselt wird. Diente er tatsächlich als Trophäe der Römer oder war der Schädel doch eine private Erinnerung?

Von Thomas Migge | 20.08.2017
    Der dreitrorige Konstantinbogen in Rom, aufgenommen am 26.03.2009. Foto: Lars Halbauer +++(c) dpa - Report+++ | Verwendung weltweit
    Der Konstantinbogen in Rom: Zwischen diesem Denkmal und dem Palatin wurde der rätselhafte Schädel gefunden. (dpa/Lars Halbauer )
    Der "Unbekannte Nummer 1 vom Palatinhügel", so der offizielle Name des Totenkopfs, starb vermutlich vor 2600 Jahren. Der Schädel präsentiert sich ohne Kiefer, ohne Schneidezähne und mit gut erkennbaren Löchern hinter beiden Ohren. Die Archäologin Clementina Panella ist davon überzeugt, dass in die Löcher Holzstangen geschoben wurden, um den Kopf auszustellen. Das Schädelrelikt fand die an der Universität Rom lehrende und forschende Archäologin beim römischen Palatinhügel:
    "Wir graben seit Jahren an der nordöstlichen Seite des Hügels, im Gebiet zwischen dem Konstantinbogen und dem Palatin. Dieser Totenschädel ist unbestritten eine der interessantesten Entdeckungen, die wir hier gemacht haben."
    Wahrscheinlich, davon geht Clementina Panella aus, handelt es sich bei dem Schädel um eine Trophäe. Um den zur Schau gestellten Rest eines besiegten Fürsten oder Königs, eines Feindes. Das ist eine Arbeitshypothese, die, sollte sie bestätigt werden, bestimmte Vorstellungen über die alten Römer auf den Kopf stellt. Das Ausstellen der Schädel besiegter Feinde haben moderne Historiker, immer in Bezug auf antike römischen Autoren, den so genannten "Barbaren" zugeschrieben: den Germanen und Galliern. Nicht aber den sich als kultiviert verstehenden Römern.
    Eindeutig ein ritueller Gegenstand
    Wie ist dann aber der Totenschädel vom Palatin zu erklären, der aus der Zeit der römischen Republik zu stammen scheint, also in etwa den fünf Jahrhunderten vor Christus? Clementina Panella:
    "Dieser außergewöhnliche Fund wurde im Gebiet eines Heiligtums gemacht. Es handelt sich also eindeutig um einen rituellen Gegenstand. Aber ein für das antike Rom sehr ungewöhnlicher Gegenstand, denn in Heiligtümern wie diesen begrub man eigentlich nur die Schädel ritueller Opferrinder."
    Italienische Archäologen und Historiker verweisen angesichts von Schädeltrophäen immer wieder auf antike Autoren, die über "Barbaren" berichteten. Strabon schrieb zur Zeit von Kaiser Augustus, dass die Gallier die Köpfe ihrer Feinde am Architrav ihrer Wohnhäuser ausstellten. Der Geschichtsschreiber Diodor schrieb im ersten Jahrhundert vor Christus, dass die barbarischen Gallier Schädel ihrer Feinde in Zedernöl aufbewahrten.
    Anscheinend wirkt der Einfluss dieser und anderer antiker Autoren, dank des in Italien immer noch intakten humanistischen Schulsystems ständig rezipiert, bis heute nach. Dass auch die Römer Köpfe als Trophäen nutzten, wurde bisher meist gar nicht in Erwägung gezogen. Doch schaut man sich die Studien des französischen Althistorikers Jean-Louis Voisin an, wird das Argument mit den vermeintlich barbarischen Kopftrophäen unhaltbar. Voisin stellte schon vor einigen Jahren eine Liste mit 76 angesehenen Römern zusammen, darunter auch Frauen, denen aus politischen oder kriegerischen Gründen der Kopf abgeschlagen und als Trophäe genutzt wurde. Wie etwa der Kopf des Philosophen Cicero, den der Feldherr Mark Anton auf seinem Schreibtisch aufbewahrt haben soll. Sogar der Förderer des Christentums, Kaiser Konstantin der Große, ließ den Kopf seines Feindes Maxentius abschlagen und herumtragen.
    Kopftrophäen als kriegerisches Ritual
    Verschwiegen also die auf ihre Kultur so stolzen Römer, dass auch sie, wie ihre Feinde, Köpfe als Trophäen nutzten?
    Nein, meint Lucio Calcagnile, der an der Universität in Bari Datierungsforschung betreibt. Calcagnile datierte erst kürzlich den Schädel vom Palatinhügel mit Hilfe der Radiokarbonmethode auf die Zeit zwischen dem achten und fünften vorchristlichen Jahrhundert:
    "Die Untersuchung dieses Schädels hat uns alle sehr beschäftigt. Der Umstand, dass er aus der frühen römischen Zeit stammt, kann bedeuten, dass damals die Römer Kopftrophäen nutzten, ein kriegerisches Ritual, das sie später abgelegt zu haben scheinen. Aber ohne Vergleichsobjekte, also weitere Schädeltrophäen der Römer, bleiben wir hier im hypothetischen Bereich.
    Nicht ausgeschlossen ist ebenfalls, dass der von Clementina Panella ausgegrabene Schädel eine private Erinnerung an ein verstorbenes Familienmitglied war, das an einem sakralen Ort aufbewahrt wurde. Wie erklären sich dann aber die Löcher im Hinterkopf? Fragen über Fragen, die die Experten der Geschichte der römischen Kultur umtreiben. Archäologin Panella hofft, dass am Grabungsort am Palatin weitere Schädel gefunden werden – erst dann wäre eine eindeutigere Interpretation dieses ungewöhnlichen Totenkopf-Unikums vielleicht möglich.